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Kino
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(2020), Foto: Michael Bienert |
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![]() FRANZ, FRANCIS UND FAUST Wie sieht Berlin aus der Perspektive eines An-den-Rand-Gedrängten aus, wie fühlt es sich an, nicht in der Mitte der Gesellschaft ankommen zu können? Davon erzählt die Neuverfilmung von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, die in der Gegenwart spielt, aber der Geschichte von Franz Biberkopf treu bleibt. Von Michael Bienert Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ macht es heutigen Leserinnen und Leser nicht leicht. In der literarisch inszenierten Vielstimmigkeit der Großstadt der Zwanzigerjahre die Übersicht zu behalten, ist schon schwer genug. Die Geschichte des Kleinkriminellen und Zuhälters Franz Biberkopf droht darin zu zerfasern. Dabei ist sie sehr exakt im damaligen Milieu und der Topographie um den Alexanderplatz verankert, ja man kann Biberkopfs Wegen sogar nachgehen. Doch der Charakter der Gegend und ihrer Bewohner hat sich völlig verändert: War das Scheunenviertel einst Synonym für Armut, Kriminalität, Prostitution, so ist es heute nur noch eine pittoreske Altstadtkulisse für Touristen, Nachtschwärmer und wohlhabende Besitzer von Eigentumswohnungen. Unvertraut sind uns auch die (natur-)philosophischen Reflexionen Döblins, die in der Geschichte von Franz Biberkopf mitschwingen, sozusagen ihr metaphysischer Überbau. (Döblin hätte eher vom Unterbau gesprochen.) Die Interpretationen des vielschichtigen Romans gehen weit auseinander und vielfach laufen sie darauf hinaus, das ausufernde Werk in Teilen für genial, in anderen für unverständlich, verblasen, uninteressant oder kolportagehaft zu erklären. Die Komplexität eines 90 Jahre alten Avantgarde-Romans, der in einer verschwundenen Stadt in einem ausgelöschten Milieu spielt, ist nicht verfilmbar, das haben der Regisseur Burhan Qurbani und sein Co-Drehbuchautor Martin Behnke erkannt. Sie haben eine klare Konsequenz daraus gezogen. Der Film konzentriert sich voll und ganz darauf, die Geschichte von Franz Biberkopf in unsere Gegenwart zu übersetzen. Anders als der sperrige Roman kommt die Verfilmung dem Publikum weit entgegen: mit einer Handlung, die im heutigen Berlin spielt, mit einem farbigen Francis B., der sich als illegaler Einwanderer aus Afrika in der Unterwelt Berlins durchschlägt, mit einer schlanken Dramaturgie und streckenweisen opulenten Filmästhetik. Aber der Film verrät die Vorlage damit nicht, im Gegenteil. Zwar bleibt die Komplexität der großen Stadt, von der Döblins Stadtsprachencollage erzählt, außen vor. Dafür wird die Geschichte von Franz Biberkopf hier überraschend durchsichtig – auch auf Intentionen des Autors hin. Döblin wollte den Blick des bürgerlichen Lesepublikums auf einen Mann vom Rand der Gesellschaft lenken, der dazu gehören möchte: „Ick will anständig sein.“ Der aus der Haftanstalt Tegel entlassene Biberkopf wird von dem Milieu, aus dem er stammt, sofort wieder aufgesogen, rutscht in die Kriminalität ab. Im Film schwört der dem Tod im Mittelmeer entkommene Francis, fortan gut zu sein, er scheitert mit diesem Vorsatz jedoch immer wieder in Milieus, in denen das Gesetz des Stärkeren und gnadenlose Ausbeutung herrschen. Was für den alten Franz Biberkopf das Scheunenviertel war, wird für den neuen das Drogendealermilieu in der Hasenheide. Es fängt ihn auf, als er seinen ersten Job als illegaler Arbeiter auf einer Berliner U-Bahn-Baustelle verliert, nachdem er einen verletzten Kollegen in ärztliche Behandlung gegeben hat, statt den Unfall zu vertuschen. Welket Bungué als Francis, in Portugal längst ein angesehener farbiger Schauspieler, strahlt nicht nur die Stärke aus, die Döblin seinem Franz zuschreibt („stark wie eine Kobraschlange“), sondern auch Anmut und Würde. Etwas Faustisches ist um diesen Helden, erst recht, weil Albrecht Schuch als Gegenspieler Reinhold dieser Figur ein mephistophelisches Gesicht verleiht. Zu Recht hat Schuch dafür den Deutschen Filmpreis erhalten. Krankhaft böse zieht Reinhold alles in den Abgrund, was mit ihm in Berührung kommt. Als Gegengewicht zu diesem Teufel braucht es Engel, die versuchen, dem realitätsblinden Helden die Augen zu öffnen und ihn im allerletzten Moment vor dem Untergang retten. Stark aufgewertet wird im Film die Figur der Eva (Annabelle Madeng), die Franz liebt und ihm das Escortgirl Mieze (Jella Haase) zuspielt. Eva hat es im feierfreudigen Nachwendeberlin zur Betreiberin eines angesagten Clubs gebracht. Eine glückliche Weiterentwicklung von einer Neben- zu einer Schlüsselfigur erfährt auch der Gangsterboss Pums. Reinhold ist sein Schützling, doch Pums spürt, dass seine Tage gezählt sind. Der alte Verbrecherkönig (Joachim Król) wird von Reinhold skrupellos aus dem Weg geräumt, als sich die Gelegenheit dazu ergibt. Döblin kannte das Milieu der Kleinkriminellen aus seiner Arbeit als Psychologe und Nervenarzt im Berliner Osten. Der Regisseur Burhan Qurbani stammt aus einer Familie afghanischer Migranten, sein Hauptdarsteller ist in Guinea-Bissau geboren. Wie sich Rassismus im Alltag anfühlt, wissen beide sehr genau. Der Film zeigt immer wieder eindringlich: Wäre Francis nicht schwarz, wäre es für ihn kein Problem, sich zu integrieren. Mit Fleiss und Anstand will er zum Ziel gelangen: einem deutschen Pass. „Ich bin Deutschland“, rühmt er sich vor anderen Immigranten. Da ist er allerdings schon auf die schiefe Bahn geraten. Deutschland entpuppt sich als kaltherzige Konsumgesellschaft, die den Fremden in die Position des Illegalen drängt, so dass dieser sich mir krummen Geschäften über Wasser halten muss und auf falsche Freunde wie Reinhold angewiesen ist. Die mythische Überhöhung der Verbrechergeschichte zu einem Kampf zwischen Engeln und Teufeln ist schon bei Döblin angelegt. Ebenso die wundersame Neugeburt und Rettung der gescheiterten Hauptfigur am Ende. Als Francis zuletzt aus dem Gefängnis entlassen wird, scheint die Gewaltspirale von neuem zu beginnen: Der Film zitiert hier listig die Anfangsszene des Romans. Doch dann kommen zwei rettende Engel ins Bild. Man mag diese Wendung wenig glaubwürdig finden, so wie den seltsam angeklebt wirkenden Romanschluss mit einem neugeborenen Franz Karl Biberkopf auf dem Alexanderplatz. Die ausgestreckte Hand für den gescheiterten Filmhelden zeigt einmal mehr, wie tief der Filmemacher Quarbani dem Erzähler Döblin verbunden ist. Schon für Döblin durfte der Kampf von Franz Biberkopf nicht umsonst gewesen sein, es musste ein rettendes Ufer für ihn geben. Der Film entfernt sich weit genug vom Roman, um nicht mit ihm in Konkurrenz zu treten. Er schlachtet den Mythos „Berlin Alexanderplatz“ nicht aus, sondern erzählt ihn behutsam und umsichtig neu. Die dreistündige Kinoerzählung ist nie auf Action gebürstet, sie lässt sich Zeit für ruhige Momente, die oft die erhellendsten sind. Indem der Film sich in der Gegenwart verankert, baut er dem Publikum eine Brücke in die fern gerückte Welt des Romans. Filmwebsite und Trailer ![]() DÖBLINS BERLIN - BUCH & STADTFÜHRUNGEN ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() DÖBLINS BERLIN AUF ARTE ![]() ![]() DIE INFOSTELE AM ALEXANDERPLATZ ![]() ![]() |
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