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Marco P. Schaefer im Projektraum KURT KURT in Moabit. Fotos: Michael Bienert (2020) 

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MOABITER FRÖHLICHKEIT

Marco P. Schaefer hat die Corona-Zeit genutzt, um im Projektraum KURT KURT zwei großformatige Werke zu schaffen. Ein Besuch in Tucholskys Geburtshaus in Moabit.

Von Michael Bienert

Dass in diesem Teil Moabits niemals reiche Leute wohnten, verrät die baumlosen Lübecker Straße sofort. Schnurgerade haben Spekulanten der Kaiserzeit sie mit Mietskasernen bepflanzt. Was im Krieg kaputt ging, wurde mit Mietsblocks wieder aufgefüllt. In dieser sehr typischen Berliner Straße wurde Tucholsky 1890 geboren. Würde er heute dem Volk aufs Maul schauen, würde er hier viele Fremdsprachen hören.

Lübecker Straße 13 in Moabit: Tucholskys Geburtshaus steht noch und trägt eine schlichte Gedenktafel, die schon mal gestohlen wurde und deshalb besonders fest in der Wand verankert ist. Es gibt ja nicht viele Geburtshäuser populärer und kluger Schriftsteller in Berlin. Trotzdem hat es die Kulturverwaltung nie geschafft, hier einen informativen Anlaufpunkt für die vielen Tucholsky-Fans zu etablieren. Die Lübecker Straße dokumentiert nicht nur materielle, sondern auch geistige Armut.



Immerhin steht unübersehbar „Kurt Kurt“ über dem Schaufenster des Ladenlokals im Geburtshaus. Seit 2006 betreibt ein Künstlerduo, Simone Zaugg und Pfelder, hier ein Stadtlabor für künstlerische Prozesse in Moabit. In Ausstellungsreihen geht es seither um Themen wie Migration im Kiez, um Veränderungen des öffentlichen Raums, um die Wahrnehmung der Stadt. Immer nah am Alltag der Nachbarschaft, was Tucholsky wohl besser gefallen hätte als ein verstaubtes Literaturmuseum zu seinen Ehren.

Derzeit versperrt ein Gitternetz aus bunten Papierstreifen im Schaufenster den Blick in die schlichten Galerie- und Projekträume. Es erinnert an die farbenfrohe Netzspinne der Berliner U- und S-Bahn. Oder auch an Ornamente, wie man sie aus der islamischen Kunst kennt. Oder ist das ganz einfach fröhliche Pop-Art?

Drinnen setzt sich das Verwirrspiel fort. Vom Boden bis zur Decke schillern Papierstreifen in allen Farben des Regenbogens. Sie sind akkurat zu einem Geflecht verklebt und bilden einen zweidimensionalen Wandteppich, der dem Auge allerdings räumliche Tiefe vorgaukelt. Bunte Kuben scheinen sich aus der Fläche zu lösen. Die verschachtelten Diagonalen, die feinen Kurven an der Peripherie strahlen eine irre Dynamik aus. Man spürt, dass der Papierkünstler Marco P. Schäfer von der Skulptur herkommt, mit der Farbfläche den Raum füllt.

Die millimeterdünne Wandskulptur hat etwas von einer gigantischen Computerplatine. Oder auch von einem futuristischen Stadtplan. Listig provoziert das poppige Etwas allerlei Assoziationen und entzieht sich sofort wieder eindeutiger Zuschreibung. Auf jeden Fall wirkt diese Kunst quietschlebendig und macht gute Laune. Für ihren Schöpfer ist das ganz wichtig. Gerade jetzt, in Corona-Zeiten. Die freie Spiel der Farbstreifen wirkt wie Musik, die nicht unbedingt eine Botschaft, aber ein Gefühl transportiert: be easy, be happy, auch wenn die Lebensumstände nicht unbedingt danach sind.



Sonst lebt Marco P. Schäfer in einer kleinen Wohnung, umgeben von seinen Kompositionen. Ungestört von den Ablenkungen eines Atelierhauses stellt er dort eineinhalb Quadratmeter große Farbmodule her, die sich beliebig im Raum kombinieren lassen. Die Schließung der Ausstellungsräume in der Lübecker Straße für den Publikumsverkehr wegen Corona bot dem Tüftler nun die Gelegenheit, sich sechs Wochen lang dort einzuquartieren. Mitten in der Krise eine geradezu paradiesische Arbeitssituation. Rund um die Uhr konnte Schaefer in den leeren Räumen auf dem Fußboden schneiden, kleben, probieren. Zwei ungewöhnlich große Papierflechtwerke sind so entstanden. Das größere misst acht mal viereinhalb Meter, zieht sich über zwei Wände hin und wirkt trotz des monumentalen Formats luftig und leicht.

Wer die Kopf-hoch-Kunst aus Corona-Zeiten sehen möchte, sei auch außerhalb der Öffnungszeiten nach Voranmeldung in der Lübecker Straße willkommen, betont Simone Zaugg, die den Papierkünstler eingeladen hat. „Der bunte Vorwand und seine Einwände“ heißt die Ausstellung. Ein Tucholsky-Buchtitel aus finstersten Zeiten hätte auch gepasst: „Lerne lachen, ohne zu weinen.“

Bis 11. Juli 2020, Projektraum „Kurt Kurt“ in der Lübecker Straße 13, geöffnet Do-Sa, 16 bis 19 Uhr und nach Vereinbarung. Tel. 030-39746942, E-Mail: info@kurt-kurt.de. Weitere Informationen:
www.kurt-kurt.de













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