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Käthe Kollwitz, Die Pflüger (1908)

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Lotosschuh und Reisepiano

Bewegung als Statussymbol: eine Ausstellung von Volontärinnen und Volontären der Staatlichen Museen am Kulturforum

Von Elke Linda Buchholz

Sind Sie gut angekommen? Gleich der erste Wandtext geht auf Tuchfühlung und verweist die Besucher auf ihre eigene Körperbewegung, um an diesen Ort zu gelangen. Im Crossover geht es dann quer durch Zeiten, Kunstgattungen und Weltregionen, immer den Formen der Bewegung auf der Spur. Allerdings: nicht von den leiblichen Erfahrungen des Gehens, Rennens, Dehnens und Streckens selbst ist die Rede. Das vielköpfige kuratorische Team der Volontärinnen und Volontäre aus 15 Häusern der Staatlichen Museen versteht das Sich Bewegen als sozialen Akt. Ob zum Broterwerb, in Freizeit, Religion oder Machtausübung, körperliche Aktivität ist Lust und Last, kann Zwang sein oder Privileg. Dass der wissenschaftliche Museumsnachwuchs sich mit einer Ausstellung in eigener Regie erproben darf, hat in Berlin mittlerweile Tradition. Die vergangenen Jahrgänge nahmen sich handfeste Themen wie "Bart" und "Fleisch" vor. Diesmal navigiert das Unternehmen unter dem etwas sperrigen Titel "Status Macht Bewegung". Gendersternchen in den Texten und Interventions-Icons mit aktuellen Coronagedanken zu einzelnen Objekten verraten, dass hier eine jüngere Generation agiert. Hochprofessionell geht es ansonsten zu, im eleganten schwarz-goldenen Design des großzügigen Ausstellungsraums.

Eine farbenprächtige Barocksänfte, ein schickes Lederfauteuil und ein knallroter Kinderwagen auf hohen Rädern teilen sich als Hingucker die zentrale Bühne. Wer in diesen Requisiten Platz nahm, zeigte seinen gesellschaftlichen Rang. Sitzen, fahren oder sich tragen lassen? Bewegung ist Distinktion. Aber auch Arbeit beruht auf Körperaktivität. Im ersten Themenkapitel sieht man archaische Lastträger ebenso wie moderne Fabrikarbeiterinnen schuften. Lederschuh, Bettelschale und eine gewaltige Tonamphore verweisen auf schweißtreibendes Alltagstun in diversen Kulturen. Vier Jahrtausende liegen zwischen der zierlichen Kupferskulptur eines Rindergespanns aus Anatolien und einer Porzellangruppe des gleichen Motivs aus der Manufaktur Meißen. Fühlbar wird die Anstrengung in Käthe Kollwitz´ "Pflügern", die mit vollem Körpereinsatz buchstäblich wie Ochsen ackern.


Schuh für zierliche Lotusfüße, China, 19. Jahrhundert

Nicht allein der Nahrungsbeschaffung diente dagegen die Jagd, nobler Zeitvertreib seit alters her. Schon die Assyrerkönige demonstrierten ihre Überlegenheit im Kampf mit Löwen. Das riesige Relief ist allerdings nur ein Gipsabguss, wie manch anderes Exponat auch, etwa die Faksimiles empfindlicher Buchmalerei. Hier mixen die JungkuratorInnen ohne Scheu Reproduktionen und kostbarste Stücke. In aller zauberhaften Echtheit reitet die mythische Jägerin Diana, geschmiedet aus Gold und Silber, auf ihrem gezäumten Hirsch. Das zierliche Prunkstück diente als Tafelaufsatz und konnte sich, angetrieben von verborgener Mechanik, sogar in Bewegung setzen.

Kaum fingernagelgroß ist die Nilpferdjagd, geritzt auf die Rückseite eines Skarabäus. Wie das historische Saiteninstrument "Pandurina" mit Jagdszene auf dem Perlmuttgriffbrett klingt, kann man sich per Fußschalter selbst zu Gehör bringen. Keine Frage: allein mit dem Motiv Jagd ließe sich mühelos eine eigene Ausstellung bestücken. Aber schon springt der Parcours weiter.

Er mäandert kurzweilig von Objekt zu Objekt, stippt hier ein Thema an, streift dort einen Aspekt, ohne tiefer zu gehen oder länger zu verweilen. Vom Jagen und Reiten geht es flugs zum Fahren. Während der indische Gott Surya-Vishnu lässig im Streitwagen einherzieht, annonciert ein Plakat von 1919 "das Kleinauto für jedermann" der Berliner Firma M.B.H. Im Fond sitzt eine Dame mit flatternden Schal. Wenig später, im Horch, übernimmt die Weiblichkeit selbst das Steuer. Und selbst wer zu Fuß geht, kann seinen Status Ausdruck geben: der "Kotschuh" von 1785 erhob seinen Träger über den Straßenschmutz. Ein Prada-Turnschuh von 2000 setzt eher auf das Logo als Distinktionsmerkmal.

Nach so viel Bewegung tut Nichtstun gut. Ebenfalls ein Privileg: der Abwesenheit von Bewegung zu frönen. Auch dieses Kapitel schlägt weite Bögen in kleinen Vitrinen. Ein Classic Game Boy aus den 1980ern dokumentiert die Spielfreude der Müßiggänger, der auch schon die alten Babylonier frönten. Sie ritzten sich flugs einen Spielplan in einen Ziegel. Wie der Körper durch zu viel oder zu wenig Bewegung deformiert wird, erzählt die Schau auch. Europäisches Korsett oder chinesischer Lotusschuh traktierten den Leib derart, dass natürliche Motorik kaum noch möglich war. Die blumenbemalten Ringerhanteln aus dem Iran dagegen dienten einem Fitnesstraining namens Zurkaneh, das schon im 7. Jahrhundert die Leiber zum Schwitzen brachte. Ein römischer Faustkämpfer in Gips verkörpert lebensgroß, mit gespannten Muskeln und Sehnen, ein optimiertes Körperideal, das bis heute aktuell ist. Aller Moden enthoben verharrt daneben eine prähistorische Frauenfigur aus Malta: reglos in ihrer leiblichen Fülle.
 
Prähistorische Frauenfigur aus Malta

STATUS MACHT BEWEGUNG.
Lust und Last körperlicher Aktivität

Bis 10. Januar 2021
Sonderausstellungshalle Kulturforum
Di, Mi, Fr 10–18 Uhr
Do 10–20 Uhr
Sa, So 11–18 Uhr
Katalog im Sandstein-Verlag, 104 Seiten, 15€





 
 
DIE ZWANZIGER
 JAHRE IN BERLIN
 von Michael Bienert
 und Elke Linda Buchholz
 306 Seiten, ca. 250 Abb.
 Berlin Story Verlag
 10. Aufl. 2020, 19,95€

 
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 MODERNES BERLIN
 DER KAISERZEIT
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 320 Seiten, ca. 320 Abb.
 Berlin Story Verlag
 19,95€

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