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LITERATUR UND REISE

Die Burg des Dichterkönigs

Vor 150 Jahren wurde Gerhart Hauptmann geboren, vor 100 Jahren bekam er den Literaturnobelpreis. Im Riesengebirge fühlte er sich heimisch und baute sich eine Villa.

Steinig und steil sind die Wege, die zu den Sehenswürdigkeiten des Riesengebirges führen. Und zugleich breit ausgebaut, um Familien mit Kleinkindern den Aufstieg zum Zackelfall oder der Schneekoppe zu ermöglichen. Bei schönstem Sommerwetter streben polnische Girlies in Sandälchen und knappen Tops dem 1600-Meter-Gipfel zu, als ginge an die Ostsee. Die ersten Bergtouristen im 19. Jahrhundert ließen sich in Sänften zur Ruine der mittelalterlichen Kynastburg hinauftragen. Auf dem Bergfried der durch einen Blitzschlag zerstörten Festung herrscht Gedränge: Nach Norden dehnt sich in sanften Wellen das Hirschberger Tal mit seinen ehemals preußischen Schlössern, Gütern und Fabriken, nach Süden markiert die imposante Bergkette des Riesengebirges die grüne Grenze nach Tschechien.
 
Bis vor ein paar Jahren legten Polen viel Wert auf die historische Tatsache, dass die Burg Kynast, polnisch Chojnik, im Mittelalter von einem Piastenherzog gegründet worden ist. Denn so ließ sich die Zwangsumsiedlung von Polen ins vormals deutsche Niederschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg als „Repatriierung“ in polnisches Stammland interpretieren. Spätestens seit dem EU-Beitritt vor acht Jahren sind solche ideologischen Verrenkungen beim Blick auf die Riesengebirgslandschaft passé. Deutsche und Polen genießen die Landschaft, ohne Gedanken an Besitzansprüche zu verschwenden. Bei der Volkszählung 2011 gaben 809.000 polnische Staatsbürger an, dass sie sich als Schlesier fühlen, viele wünschen sich mehr regionale Autonomie.
 
Eine Identifikationsfigur für das neue schlesische Regionalbewusstsein ist der Dichter Gerhart Hauptmann. Vor 150 Jahren in Bad Salzbrunn geboren, bekam er 1912 den Literaturnobelpreis: Ein Doppeljubiläum, das in seiner Heimatregion intensiver wahrgenommen wird als in Deutschland.

„Der klarste Tag führte uns gegen das gewaltig und vielfältig vor uns liegende Gebirge zu. Unter der schönen Ruine Kynast traten wir in das enge Bergtal ein, durch das uns Gewässer in steinigem Bachbett entgegen stürzten. In etwa sechs- bis siebenhundert Meter der Talenge liegt Agnetendorf. Wir nahmen dort unser Mittagbrot, und ich ahnte die fernen Schicksale nicht, die mich dereinst an diesen kleinen Gebirgswinkel binden sollten“, berichtet Hauptmann in seiner Jugendautobiografie über eine Wanderung im Gebirge. In Agnetendorf, heute Jagniątków, baute er sich 1901 seine eigene Burg, den „Wiesenstein“. Eine mächtige Villa mit Rundturm, entworfen von dem Berliner Architekten Hans Grisebach, steht in einem Park voller zerklüfteter Granitfelsen, typisch für diese Landschaft. Mit ihr fühlte sich Hauptmann so verwachsen, dass er in seinem Felsengarten begraben sein wollte.

Es war nicht sein erstes Domizil in der Gegend. 1890 kaufte er für seine Familie und die des Bruders Carl ein Bauernhaus im nahen Schreiberhau. Von dort reiste er in die schlesischen Webergebiete und recherchierte für sein 1893 uraufgeführtes Sozialdrama „Die Weber“. Seit 1995 ist in Schreiberhau, heute Sklarska Poreba, ein Riesengebirgsmuseum und eine Erinnerungsstätte an die Hauptmann-Brüder eingerichtet. Die Rivalität zwischen beiden Schriftstellern und eine Ehekrise trieben den jüngeren Erfolgsautor bald wieder aus dem Haus. Als Star des Literaturbetriebs konnte er es sich leisten, für seine junge Geliebte und spätere zweite Ehefrau Margarete den pompösen „Wiesenstein“ zu bauen. Fast zeitgleich ließ er als Abschiedsgeschenk für die verlassene Gattin Marie und ihre drei Söhne ein stattliches Haus in Dresden-Blasewitz errichten.

Im „Wiesenstein“-Garten hielt sich der Dichterfürst mit Gymnastik, Speerwerfen und Holzhacken fit, von hier aus brach er zu seinen täglichen „Produktivspaziergängen“ in der Umgebung auf, deren Ertrag er nachmittags einer Schreibkraft diktierte, diszipliniert bis ins hohe Alter. Befreundete Theaterleute, Autoren, Journalisten und Germanisten kamen zu Besuch und berichteten beeindruckt von der Selbstinszenierung des Hausherrn: In jedem Winkel des Hauses spürt man den Stolz, es durchs Schreiben vom Enkel eines schlesischen Webers zum Dichterfürsten in der Nachfolge Goethes gebracht zu haben. 1922 schuf der befreundete Künstler Johannes Maximilian Avenarius eine überwältigende Eingangssituation in Hauptmanns Residenz: Die zweigeschossige Halle malte er mit goldenen Sternen, farbigen Blumenornamenten, Engelsfiguren und Landschaftsmotiven zur „Paradieshalle“ aus.
 
Vor der Haustür steht wieder die jahrzehntelang verschollene Marmorfigur eines verzückten nackten Mädchens – der armlose Torso von „Hannele“, die in einem Drama Hauptmanns in den schlesischen Himmel fährt. Geschaffen hat sie um 1943 der Nazibildhauer Josef Thorak. Im Diktierzimmer steht Arno Brekers Büste des Dichters in einer Vitrine. Hauptmann arrangierte sich mit dem Naziregime, so wie er sich mit der Weimarer Republik arrangiert hatte: Hauptsache, sein Status als Dichterkönig der Deutschen geriet nicht in Gefahr. Als 1945 sowjetische Truppen in Agnetendorf einrückten und den in Russland verehrten Dichter der „Weber“ unter ihren Schutz stellten, erklärte Hauptmann sofort seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Auch das Angebot, den Ehrenvorsitz des „Kulturbundes zu demokratischen Erneuerung“ in der sowjetisch besetzten Zone zu übernehmen, nahm er an. Die Sowjets versprachen einen Sonderzug, um ihm samt Hab und Gut nach Berlin zu bringen. Am 6. Juni 1946 jedoch starb der Dreiundachtzigjährige an den Folgen einer Lungenentzündung in seiner Villa. In einem Güterwagen verließen der Zinksarg, Möbel und Kunstgegenstände einige Wochen später Schlesien. Hauptmann wurde in der Nähe seines Sommerhauses auf Hiddensee beigesetzt, das Mobiliar kann man heute im Hauptmann-Museum in Erkner bei Berlin sehen.

Seine Villa diente bis 1997 als Erholungsheim für polnische Kinder. 2001 wurde sie als Hauptmann-Museum wiedereröffnet. Die Idee, in Agnetendorf einen Gedenkort für die Nachwelt zu hinterlassen, vergleichbar mit Goethes Wohnhaus in Weimar, ist Hauptmann sicher nicht fremd gewesen. Schon zu Lebzeiten verschickten Touristen Postkarten von seiner Trutzburg im Gebirge.



HAUPTMANN-VILLA Ulica Michałowicka 32,
58-570 Jelenia Góra (Hirschberg), täglich außer montags geöffnet. Zur Zeit ist dort die Sonderausstellung “Gerhart Hauptmann und das Riesengebirge” zu sehen. Infos unter: www.muzeum-dgh.pl

MUSEUMSVERBUND Seit 2003 existiert ein gemeinsames Infoportal von fünf Hauptmann-Häusern in Deutschland und Polen: www.gerhart-hauptmann.de

SCHLESISCHES MUSEUM Das Museum in Görlitz zeigt noch bis 17. Februar 2013 die Sonderausstellung “Poetische Orte” mit Texten Hauptmanns und Bildern seines ältesten Sohnes Ivo. Der Maler hat den Vater häufig in Agnetendorf besucht und auf Reisen begleitet. Katalog 15 Euro. www.schlesisches-museum.de/

© Text und Fotos: Michael Bienert I 11. 12. 2012









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