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Frauenplan mit Goethehaus. Foto: Bienert

GOETHE-NATIONALMUSEUM IN WEIMAR


Der Sammler und das Seinige

Die neue Dauerausstellung "Lebensfluten - Tatensturm" im Museumsanbau des Goethehauses

von Michael Bienert

Goethe schrieb nicht gern mit Tinte und Feder. Das Kratzen auf dem Papier und die Tintenkleckserei störten seinen Gedankenfluss, lieber skizzierte er Einfälle mit dem Bleistift oder diktierte einem Schreiber. Mit Papier ging er sparsam um, für Konzepte benutzte Goethe gerne zerschnittene Theaterzettel. Auch Briefe an Freunde diktierte er meist. Um die Nachfrage nach Goethe-Autographen zu befriedigen, ließ er um 1820 handgeschriebene Verse lithografieren und verschenkte diese Blätter. Der Gedanke, dass Goethe an der Copy-and-Paste-Funktion eines Laptop-Computers seine helle Freude gehabt hätte, stellt sich beim genauen Blick auf seine Schreibwerkzeuge und Manuskripte von selbst ein.
Er war ungeheuer fleißig und lernbegierig bis ins hohe Alter. Mit 72 Jahren verliebte sich Goethe unsterblich in die 17-jährige Ulrike von Levetzow und ließ ihr durch seinen Herzog Carl August einen Heiratsantrag überbringen, so fit fühlte er sich. Er prägte den Begriff Weltliteratur und definierte sich als Weltbürger. In die demographisch alternde Multikulti-Gesellschaft ragt Goethe mit 263 Jahren als unheimlich vitaler Zeitgenosse. Angesichts des Siegeszuges von Eisenbahn und Schnellpost formulierte er 1825 Sätze, die sich wie ein Kommentar zum Internet-Elend lesen: „Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach sie strebt ... Alle möglichen Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“
Die neue Dauerausstellung im Goethe-Nationalmuseum muss nicht viel Überzeugungsarbeit leisten, um Goethe-Enthusiasmus zu entfachen. Sie setzt ganz auf das, was dem Dichter und Forscher so unentbehrlich war: auf Anschaulichkeit. Orden und Uniformen des weimarischen Staatsdieners, seine Steinsammlungen, Tierskelette, antike Skulpturen, Zeichnungen von Goethes Hand und von ihm entwickelte Experimentiervorrichtungen zur Farbenlehre – das alles wird in leuchtenden Vitrinen ohne viel Drumherum gezeigt. Das meiste hat er selbst gesammelt und aufbewahrt. Produktionsmittel eines Autors, der von sich sagte, dass er im Anschauen lebe. Neben einer Bibliothek von 7000 Bänden häufte Goethe in seinem Haus am Frauenplan eine Sammlung von 26.000 Kunstwerken und 23.000 Naturalien an. 
Das Wohnhaus war schon zu seinen Lebzeiten ein Art Museum, in dem Goethe seine Schätze Besuchern zeigte. Als es im späten 19. Jahrhundert zur öffentlichen Gedenkstätte umfunktioniert wurde, blieb nur ein kleiner Teil der Sammlungen dort. Die neue Ausstellung im 1935 eröffneten Museumsanbau erlaubt nun einen tieferen Blick in dieses Universum, geordnet nach den Themen „Genie“, „Gewalt“, „Welt“, „Liebe“, „Kunst“, „Natur“ und „Erinnerung“. Es ist wie eine Wanderung durch Goethes Hirnwindungen: Mit dem leuchtenden Touchscreen-Display des (leider nicht immer reibungslos funktionierenden) E-Guides in der Hand tasten sich die Besucher durch eine halbdunkle Wunderkammer mit gut 500 Schaustücken hinter Glas. Die fließend ineinander übergehenden Ausstellungsräume gruppieren sich um eine Leuchtschrift-Installation zum „Faust“-Drama, an dem Goethe ein Leben lang getüftelt hat.
Was ist das, ein Genie? Vom Wertherkult spannt die Ausstellung den Bogen zu Goethes späterem Bildungsbegriff: Genie ist Naturanlage, wird aber durch lebenslanges Lernen erst zur Entfaltung gebracht. „Gewalt“ bedeutete für Goethe nicht nur Zerstörung wie in den Kriegshandlungen, in die er geriet, sondern auch Gestaltungsmacht. Er strebte danach als Politiker wie als Künstler, bewunderte Napoleon und versuchte die Kunstproduktion seiner Zeit zu dirigieren. Das Kapitel „Liebe“ stellt subtile Liebesbotschaften neben freizügigen Erotica aus Goethes Kunstsammlungen. Der Abschnitt „Welt“ widmet sich Goethes Reisen, der letzte Abschnitt „Erinnerung“ präsentiert persönliche Memorabilien, Fanartikel wie Goethe-Tassen und eine Galerie von Goethe-Büsten zum Vergleich.
Dies ist die fünfte Dauerausstellung im Museumsanbau seit 1935, sie ersetzt die 1999 zum Kulturhauptstadtjahr eröffnete Präsentation unter dem Titel „Wiederholte Spiegelungen“. Seinerzeit ging es um die Einordnung Goethes ins komplexe Beziehungsgefüge der Klassikstadt Weimar um 1800, doch für viele der Goethehaus-Besucher war diese breit angelegte Schau nur schwer verdaulich. Die meisten Weimar-Touristen nehmen sich kaum eine Stunde Zeit für das Goethe-Nationalmuseum. Mit der Fokussierung auf den Solitär Goethe   und dem reißerischen Ausstellungstitel „Lebensfluten – Tatensturm“ kommt die Klassik-Stiftung dem Massentourismus entgegen. Diese Neuausrichtung wurde durch eine gründliche Reflexion innerhalb der Stiftung vorbereitet, nachzulesen in ihrem Jahrbuch 2012, das ganz der Geschichte des Klassiker-Ausstellens in Weimar und Marbach gewidmet ist. Die bisherigen Ausstellungen hätten vor allem unter einer „Verkrampfung vor dem hohen Anspruch“ gelitten, schreibt darin Stiftungspräsident Harald Seemann; daher empfehle es sich, „vor künftige museale Präsentationen der klassischen Literatur die autosuggestive Entspannung zu setzen. Es geht nicht darum, den Kosmos Goethe zu schultern und gewissenhaft unter dieser Aufgabe zusammenzubrechen, sondern einem historischen Ensemble für eine Zeitlang, vielleicht ein Jahrzehnt, etwas Zeitgenössisches hinzuzufügen.“ Wie entlastend fürs Publikum, wenn die Kuratoren ihre Arbeit als ernstes Spiel sehen! So gilt der Vers: „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern.“

MUSEUM Goethe-Nationalmuseum und Goethes Wohnhaus sind täglich außer montags geöffnet. Infos unter www.goethe2012.de
BEGLEITBUCH „Lebensfluten – Tatensturm“, Klassik Stiftung Weimar 2012, 288 Seiten, 14,90 Euro. Mit Gastbeiträgen von Herbert Grönemeyer, Rafik Schami, Durs Grünbein u. a.
JAHRBUCH „Literatur ausstellen – Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik“, Jahrbuch 2012 der Klassik Stiftung Weimar, Wallstein Verlag 2012, 376 Seiten, 25 Euro

ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 7. September 2012

© Text und Fotos: Michael Bienert








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