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ARCHIV I KULTURREPUBLIK 2010

Im Feuilleton der STUTTGARTER ZEITUNG wirft Michael Bienert an jedem Montag ein Schlaglicht auf Vergangenheit und Gegenwart der Kulturrepublik Deutschland. Hier sind alle Kolumnen des laufenden Jahres nachzulesen.
Zu den Kolumnen (Folge 1-47) des Jahres 2009 >>>.

Kulturrepublik (95)
Hip-Hop-Hudna

Eine wahre Weihnachtsgeschichte erzählt die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Politik und Kultur“. 1997 unterschrieb die damalige Juso-Vorsitzende den Gründungsvertrag für das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem, ein Begegnungszentrum für palästinensische und israelische Jugendliche auf der Grünen Linie zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt. 2008 stand es plötzlich vor dem Aus, weil der Vermieter das Haus verkaufen wollte. Zufällig erfuhr Nahles seinerzeit von der SPD-Schatzmeisterin, dass ein jüdischer Rechtsanwalt der Partei eine große Geldsumme vererbt hatte. Die Auszahlung war an die Bedingung geknüpft, ein Friedensprojekt im Geiste Willy Brandts zu fördern. Deswegen gibt es dieses Haus, in dem Jugendliche aus den verfeindeten Lagern zusammen kommen, noch immer. Im Sommer traten dort israelische, palästinensische und deutscher Rapper gemeinsam unter dem Motto „Hip-Hop-Hudna“ auf. Hudna heißt Waffenruhe: „There is no difference between God and Allah / no difference between Sederot and Ramallah / there will be peace, Amen and Inshallah.“ (20. Dezember 2010)

Kulturrepublik (94)
Gefahrenabwehr

Auf der grauen Spree treiben Eisschollen. Ein scharfer Wind streicht über die Kronprinzenbrücke neben dem Bundestagskindergarten. Der Spreeübergang im Regierungsviertel ist ein kritischer Punkt, alle paar Meter steht ein Polizist am Brückengeländer und kämpft bibbernd gegen der Kälteterror. Die Beamten warten auf einen Konvoi schwarzer Limousinen mit Halbmond- und Deutschlandwimpeln, der vom Kanzleramt kommen soll. Um die Zeit zu verkürzen, wirft einer der Polizisten mit Schneebällen nach seinen Kollegen auf der anderen Brückenseite. Schneebälle statt Maschinenpistolen: So stellt sich außerhalb Berlins sicher niemand die Gefahrenabwehr vor. Sicher, die Gehwege um den Reichstag sind weiträumig mit Gittern abgesperrt, das ist lästig. An einem Durchlass für Bundestagsmitarbeiter sitzen die Polizisten windgeschützt in einem Kleinbus und beantworten den ganzen Tag geduldig die Fragen der Touristen. Hinter dem rot-weißen Absperrgitter steht ein lustiger Schneemann mit olivgrüner Strickmütze in der Kälte und bewacht das Parlament: Terroristen, zieht Euch warm an! (13. Dezember 2010)

Kulturrepublik (93)
Ein Preis für Franz Hessel

Wer hätte gedacht, dass dem zartsinnigen, von Wenigen gelesenen Schriftsteller Franz Hessel noch einmal eine staatstragende Rolle zufallen würde, fast 70 Jahre nach seinem Tod als armer jüdischer Emigrant im südfranzösischen Sanary-sur-Mer? Am Freitag wollen der deutsche und französische Kulturminister in Freiburg erstmals den Franz-Hessel-Preis verleihen, den sich auch künftig jährlich zwei Autoren aus beiden Ländern teilen sollen. Dafür hätte man wahrlich keinen besseren Namensgeber finden können als den Übersetzer von Stendhal, Balzac und Proust, als den in Stettin geborenen Vater des französischen Widerstandskämpfers und Diplomaten Stéphane Hessel. Seit Truffauts Film „Jules und Jim“ ist die Dreiecksbeziehung zwischen Franz Hessel, seiner Frau Helen und dem französischen Schriftsteller Henri-Pierre Roché weltbekannt. Den Deutschen wollte Hessel französisches „Laissez-faire“ nahe bringen, nach dem Motto: „Genieße froh, was du nicht hast“.  Als elementare Entspannungsübung empfahl er das Flanieren nach Pariser Vorbild. Heute ist die deutsch-französische Annäherung so weit entwickelt, dass Hessels Stoßseufzer auf Paris so gut passt wie auf Berlin:  „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“ (6. Dezember 2010)

Kulturrepublik (92)
Kanzlerkarte

Eine Weile hieß das Ecklokal im Berliner Regierungsviertel „Café Mierscheid“, benannt nach Jakob Maria Mierscheid, der seit 30 Jahren als Phantom durch den Bundestag geistert. Der erfundene SPD-Abgeordnete, Jahrgang 1933, hat sich in dieser Legislaturperiode noch nicht wieder mit skurrilen Initiativen zu Wort gemeldet, es erschienen lediglich ein paar Geburtstagsartikel am 1. März. Dem Ecklokal hat der berühmte Name kein Glück gebracht, es nennt sich längst „Kanzler-Eck“. Auf der Speisekarte stehen Gerichte wie „Konrad Adenauer“, das ist Sauerbraten mit zweierlei Kohlrabi, oder die Ochsenbrust „Ludwig Ehrhard“. Zu Ehren von Willy Brandt und Helmut Schmidt kommt Fisch auf den Teller, unter dem Namen „Helmut Kohl“, was sonst, Pfälzer Saumagen. Das teuerste der Gerichte auf der „Kanzlerkarte“, ein Kalbsschnitzel, heißt nach dem Brioni-Liebhaber Gerhard Schröder. Und Angela Merkel? Sie ist Namensgeberin für eine Rinderroulade mit Petersilienkartoffeln. Nicht sehr charmant, Herr Wirt! Oder steckt da der SPD-Altvordere Mierscheid dahinter? (29. November 2010)

Kulturrepublik (91)
Schreibkultur im Bundestag

Im Deutschen Bundestag wird noch mit der Hand geschrieben, gerne mit Füllern und Kugelschreibern der Edelmarke Montblanc. 115 Abgeordnete bestellten von Januar bis Oktober 2009 insgesamt 396 Stück, dafür zahlte die Bundestagsverwaltung aus einem Sondertopf für Sachleistungen 68.800 Euro. Seltsamerweise stieg die Zahl der Bestellungen zum Ende der vergangenen Legislaturperiode spürbar an. Ein „Bild“-Journalist wollte deshalb wissen, wozu die Parlamentarier die Renommierstifte verwenden, ob wirklich zum Briefeschreiben oder als nette Geschenke? Die Bundestagsverwaltung rückte die Namen der einzelnen Besteller jedoch nicht heraus, die Recherche in den Akten sei viel zu langwierig, ließ sie wissen. Daraufhin klagte der Journalist vor dem Berliner Verwaltungsgericht auf Auskunft nach dem Informationsfreiheitsgesetz und bekam im Prinzip recht. Verwaltungsaufwand sei kein Grund, eine Auskunft zu verweigern. Allerdings, so das Gericht, handle es sich bei den gewünschten Informationen um personenbezogene Daten, deshalb muss die Bundestagsverwaltung jetzt bei sämtlichen Abgeordneten anfragen, ob sie der Weitergabe zustimmen. Der Bundestagspräsident und Ältestenrat haben bereits reagiert, rechtzeitig vor den Weihnachtsfeiern beschlossen sie, dass Abgeordnete derart teuere Schreibutensilien künftig selbst bezahlen müssen. (22. November 2010)
 
Kulturrepublik (90)
Führungskräfte

Hat der Bundesrat, ein Verfassungsorgan, Besucher jahrelang rechtswidrig von Scheinselbständigen durchs Haus führen lassen? Diese Frage wird heute vor dem Landessozialgericht in Potsdam in zweiter Instanz erörtert. Die Deutsche Rentenversicherung hatte festgestellt, dass freie Mitarbeiter im Besucherdienst wie abhängig Beschäftigte eingesetzt wurden und deshalb die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen gefordert. Dagegen klagte der Bundesrat und verlor. Statt das gut begründete Urteil vom Juni 2009 (Az. S 36 KR 2382/07) zu akzeptieren und Ruhe einkehren zu lassen, legte der Bundesrat Berufung ein (Az. L 1 KR 206/09). Er gibt damit ein schlechtes Beispiel ab, etwa für das Jüdische Museum in Berlin. Dort sieht man sich ebenfalls mit Nachforderungen der Rentenkasse konfrontiert, nachdem eine langjährige Honorarmitarbeiterin ihre Führungstätigkeit im Museum überprüfen ließ. Eine andere Kollegin versucht vor dem Arbeitsgericht, ihre zehnjährige Arbeit im Museum nachträglich als festes Beschäftigungsverhältnis anerkennen zu lassen. Pikanterweise kündigte die Museumleitung den beiden engagierten Frauen die Zusammenarbeit Ende letzten Jahres, nachdem es zu einem Aufstand von Honorarmitarbeitern gegen ihre Behandlung gekommen war. So etwas mag in der freien Wirtschaft gang und gäbe sein; doch Verfassungsorgane und Kulturinstitute des Bundes haben eine Vorbildfunktion. Auch wenn es nur um Führungskräfte am untersten Ende der Hierarchie geht. (15. November 2010)

Kulturrepublik (89)
Schön bunt hier
Die Internetrecherche zum Stichwort „Bunte Republik“ führt zu einem flotten Musikvideo, in dem Knetmännchen blitzschnell ihr Aussehen wechseln. Aus einem gelbhäutigen Asiaten wird ein rothaariger Irokese, aus einem Eskimo ein Afrikaner, aus einem Sumo-Ringer ein Torero. „Wir stehn am Bahnsteig und begrüßen jeden Zug, / denn graue deutsche Mäuse, die haben wir schon genug“, nölt dazu Udo Lindenberg auf dem Titelsong seines Albums „Bunte Republik Deutschland“. Die Platte erschien 1989, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer. Kannte Bundespräsident Christian Wulff das Lied, als er seine Antrittsrede vor dem Bundestag mit dem Bonmot schmückte, die Bundesrepublik sei längst eine liebenswürdige „bunte Republik  Deutschland“? Seither geht es hierzulande total bunt durcheinander. Grüne verteidigen den ungeliebten Wulff gegen die CSU und der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin zieht als Lautsprecher der Ewiggestrigen durchs Land. Nur auf Udo Lindenberg ist Verlass: Heute heute abend will  er in Neuhardenberg, unweit der polnischen Grenze, bei einem Sonderkonzert zur Erinnerung an den Mauerfall die „Bunte Republik Deutschland“ proklamieren. Der Bundespräsident hat die Einladung zu dem fröhlichen Staatsakt angenommen. (8. November 2010)

Kulturrepublik (88)
Das letzte Tabu

Ein verliebter Bankangestellter unterschlägt eine hübsche Summe Geldes und versucht in der Großstadt, ein neues Leben anzufangen. Diese Geschichte wollte Volker Lösch vor Weihnachten an der Berliner Schaubühne mit einem Laiensprechchor aus Finanzsachverständigen inszenieren. Letzte Woche musste er die Premiere von Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ jedoch absagen. „Es haben sich leider nicht genügend Leute gefunden, die über das Leben im Bankgeschäft berichten können, dürfen und wollen“, erklärte der Regisseur. Aus Scham? Aus Desinteresse am Theater? Oder aus Angst, nie wieder einen Job zu finden, wenn sie öffentlich ausplaudern, was sie erlebt haben? Andere Branchen geben sich nicht so  zugeknöpft. Deshalb wird Lösch nun ersatzweise „Lulu“ von Wedekind auf die Bühne bringen: Einen Chor vom Sexarbeiterinnen zu rekrutieren, die offen über ihren Berufsalltag reden, ist hierzulande einfacher, als Banker öffentlich zum Sprechen zu bringen. (25. Oktober2010)

Kulturrepublik (87)
Sprachdesign

Um den Absatz deutscher Waren im Ausland anzukurbeln, beantragte die SPD im Bundestag 1950 die Gründung eines „nichtbeamteten Rats für Formentwicklung“. Drei Jahre später wurde der „Rat für Formgebung“ ins Hessische Stiftungsregister eingetragen. Unter anderen vergibt er jährlich den Deutschen Designpreis. In seiner aktuellen Imagebroschüre bezeichnet sich der Rat als „Netzwerk der Kompetenzträger“ und bietet „fundierte Analysen“ für „maßgeschneiderte Marken- und Designstrategien“ an. Er vermittelt „Grundlagen für die zielgerichtete Umsetzung mit den Designpartnern“ und übernimmt gern die „Supervision des Gestaltungsprozesses“. Dass der Rat unter der Kuratel des Wirtschaftsministeriums steht, merkt man auch daran, dass er Design als „Wettbewerbsfaktor mit geldwertem Nutzen“ definiert. Fazit: „Designkompetenz ist ein Wettbewerbsvorteil, der umso größer wird, je besser man ihn kommuniziert.“ Das ist wohl wahr, und deshalb schrumpft der Wettbewerbsvorteil zu einem Nichts, wenn der "Rat für Formgebung" Blech redet. (18. Oktober 2010)

http://www.german-design-council.de

Kulturrepublik (86)
Freizeitkapitäne

Erwin Teufel mit Gattin im Ruderboot auf dem Bodensee, Rainer Brüderle wandernd im Weinberg, Kurt Beck strampelnd auf dem Fahrrad und Frank-Walter Steinmeier als Gipfelstürmer im Gebirge: Ein Bildband mit Urlaubsfotos deutscher Politiker, das fehlte gerade noch! Der Herausgeber Markus Caspers, Professor für Gestaltung und Medien in Neu-Ulm, hat indes das Beste daraus gemacht. Kein Hochglanzalbum, sondern einen kritischen Streifzug durch ein bisher kaum erforschtes Randgebiet der politischen Ikonografie. Politprofis wissen genau, dass Fotos aus ihrem Privatleben über ihre Zukunft entscheiden können. Verteidigungsminister Rudolf Scharping stürzte über Badefotos mit seiner Geliebten, deren Veröffentlichung in der „Bunten“ eigentlich den Zweck hatte, sein Image als hölzerner Langweiler aufzupolieren. Familie Kohl posierte  jedes Jahr mit einem anderen niedlichen Tier. Neben dem Wandern, Klettern und Baden scheint das Segeln die Lieblingsbeschäftigung deutscher Politiker zu sein. Denn wer als Freizeitkapitän nicht kentert, so die Botschaft an die Wähler, wird auch das Staatsschiff souverän durch alle Stürme steuern. (11. Oktober 2010)

Markus Caspers (Hg.): Bin baden! Deutsche Politiker im Urlaub. Fackelträger Verlag 2010, 128 Seiten, 12,95 Euro

Kulturrepublik (85)
Blühende Landschaften

Auf den Tag vor 20 Jahren stapelten sich in den Garderoben des Reichstagsgebäudes die Koffer der Abgeordneten. Am 4. Oktober 1990 tagte dort zum ersten Mal seit 57 Jahren wieder ein gesamtdeutsches Parlament. Zu den aus Bonn angereisten Bundestagsmitgliedern gesellten sich 144 gewählte Abgeordnete der aufgelösten DDR-Volkskammer. Kanzler Helmut Kohl kündigte in einer Regierungserklärung an: „Insbesondere müssen wir dafür sorgen, dass die Kulturinstitutionen von europäischem Rang auf dem Gebiet der bisherigen DDR ihre Bedeutung für Deutschland und Europa behalten. Ich weiß um die Verantwortung, die die Bundesregierung - unbeschadet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder - für das Fortbestehen dieser Einrichtungen trägt.” Daran haben sich Bundesregierungen seither gehalten. Der Grauschleier über Weimar, Dresden, Dessau oder Potsdam ist verschwunden, überall im Osten wurden mit Bundeshilfe Gedenkstätten, Schlösser und Altstädte auf Hochglanz poliert. In diesem Sinne wenigstens erfüllte sich Kohls Vision von “blühenden Landschaften”. Nebenbei war die Rettung des Kulturerbes ein besonders effizientes Wirtschaftsförderungsprogramm: Ohne den dadurch ausgelösten Tourismus wären in vielen Städten längst die Lichter ausgegangen. (4. Oktober 2010)

Kulturrepublik (84)
Agenten unter Palmen

Die Tage von „Camp Nikolaus“ sind gezählt. So lautet der Tarnname der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes in Pullach, seit dessen Vorläufer, die „Organsation Gehlen“, am Nikolaustag des Jahres 1947 die ehemalige Rudolf-Heß-Siedlung bezog. Wie die künftige BND-Zentrale in Berlin heißen wird, ist noch streng geheim. Schon überragt die kantige Betonburg für 4000 Mitarbeiter die blickdichten Bauzäune der am schärfsten bewachten Baustelle der Republik. Kein Geheimnis mehr sind die Namen der Künstler, die den Koloss schmücken dürfen. Anette Haas und Friedrike Tebbe planen in endlosen Fluren eine Galerie monochromer Farbfelder, die BND-Tarnnamen tragen. An den Foyerwänden sollen Rätselbilder von Antje Thomas und Thomas Sprenger zu sehen sein, vor dem Haupteingang wird eine wuchtige Stahlplastik von Stefan Sous lagern wie ein von Außerirdischen abgeworfener Faustkeil. Auf der Terrasse zwischen der Gebäuderückseite und dem Flüsschen Panke will Ulrich Brüschke zwei Kunststoffpalmen aufstellen, 25 Meter hoch und nachts von innen leuchtend (Foto >). Sie entrücken den Büroklotz optisch in die Tropen und wirken wie ironische Ausrufezeichen: Bürger, passt auf, dieses Haus steckt voller Mysterien! (27. September 2010)

Kulturrepublik (83)
Ein Denkfilm für Benjamin

Walter Benjamins Aktentasche bleibt verschollen. Ihr Inhalt sei wichtiger als er selbst, sagte er seiner Fluchthelferin, ehe er sich vor 70 Jahren in den Pyrenäen vergiftete, um nicht den Nazis in die Hände zu fallen. Andere von Freunden gerettete Nachlasspapiere haben Jahrzehnte später im Berliner Benjamin-Archiv zusammengefunden. Es bildet ein Denken ab, das sich leichthin zwischen extremen Polen bewegte: Proust und Brecht, Kindheitserinnerung und Philosophie, Marxismus und Theologie, Aura und Massenproduktion, Bild und Begriff. Weit über seinen Tod hinaus sorgt die spielerische Beweglichkeit dieses Denkens für Irritationen. Es lässt auch den Filmemacher David Wittenberg nicht los: Aus Anlass des 70. Todestag hat er seinen mittlerweile dritten Film über Benjamin gedreht, der heute ab 23. 50 Uhr auf "arte" gesendet wird. „Geschichten der Freundschaft“ zeichnet die intellektuelle Biografie entlang der intensiven Beziehungen zu Gershom Scholem, Bert Brecht und dem Ehepaar Adorno nach. Zu einem eingesprochenen Essay sieht man ruhige Bilder von Orten, die für Benjamin wichtig waren: Denkbilder von heute. (20. September 2010)

Kulturrepublik (82)
Weinbau am Reichstag

Das wird ein ertragreicher Jahrgang! Erstaunlich viele Trauben hängen an den Rebstöcken des Hessischen Landesvertretung zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor. Im ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost- und Westberlin ist vor drei Jahren ein possierlicher Südhang aufgeschüttet und mit 155 Rebstöcken bepflanzt worden. Dort reifen jetzt Riesling, Spätburgunder und Saint Laurent, typische Sorten für den Rheingau und die Hessische Bergstraße. Eine Berliner Oberschule pflegt den Weinberg mitten im Berliner Regierungsviertel. Weinbau in Preußen, das hat durchaus Tradition. Die Geisenheimer Forschungsanstalt für Garten- und Weinbau, die den Erdhuckel bepflanzte, wurde 1872 als Königlich Preußische Lehranstalt für Obst- und Weinbau gegründet. Ein Pionierprojekt? Wenn das so weitergeht mit dem Klimawandel, dürften Berlin und die Mark Brandenburg bald wieder für den Weinbau attraktiv werden. (13. September 2010)

Kulturrepublik (81)
Waldidylle eines Bürgerschrecks

Brechts Sommerhaus mit Garten in Buckow, eine knappe Autostunde vom Berliner Zentrum entfernt, ist ein anmutiges Ausflugsziel. Ein weiteres Künstlerhaus ganz in der Nähe kann seit dem Wochenende besichtigt werden. Auf Drängen Brechts baute sich der befreundete Montagekünstler und Grafiker John Heartfield im benachbarten Waldsieversdorf eine Datsche. Das verträumte Holzhäuschen unter Kiefern offenbart eine zarte, verletzliche und romantische Seite des Künstlers, der vor allem als aggressiver politischer Fotomonteur berühmt wurde. Lange stand die Hütte leer und drohte gänzlich zu vermodern. Die kleine Gemeinde und ein Freundeskreis kämpften 12 Jahre darum, das Heartfield-Haus als Gedenkstätte und Ort für Kulturveranstaltungen herrichten zu können, unterstützt von der Berliner Akademie der Künste, die das Interieur in ihrem Archiv verwahrte. Nun ist das Wohnzimmer mit Seeblick wieder gemütlich möbliert, in der geräumigen Küche können Ausstellungen gezeigt werden und in der Veranda Lesungen stattfinden -  den Waldsierversdorfern sei Dank, denen der kommunistische Bürgerschreck John Heartfield als umgänglicher Mitbürger in Erinnerung geblieben ist. (6. September 2010)

www.johnheartfield-haus.de

Kulturrepublik (80)
Freundlich möbliert

Vielleicht 100 Buchumschläge in Rot, Rosa, Lila und Beige liegen als Flickenteppich auf dem polierten Steinfussboden im Kunstraum des Bundestages. Ein Vorgeschmack auf die halb abstrakten Wandbilder aus antiquarischen Büchern, die das Foyer in einem halb fertigen Erweiterungsbau für die Parlamentarier zieren sollen, etwa 200 Meter vom Reichstag entfernt. „600 Bücher für 600 Parlamentarier“ will der Berner Künstler Peter Wüthrich an die Wände dübeln. Durch einen gelben Lichttunnel der Berliner Künstlerin Gunda Förster sollen die Angeordneten das Bürohaus betreten. Im 3000 Quadratmeter großen Innenhof erwartet sie dann ein luftiger Cornushain mit einem filigranen Pavillon in Kreisform. Damit will der Schweizer Landschaftsarchitekt Guido Hager die Abgeordneten zu kontemplativem Nachdenken und politischen Diskussionen in frischer Luft anregen. Sehr nett, das alles. Auch Abgeordnete haben ein Anrecht auf ein freundlich möbliertes Rückzugsgebiet. (30. August 2010)

Alle Wettbewerbsentwürfe sind noch bis 12. September im Kunstraum des Bundestages ausgestellt, geöffnet Di bis So von 11-17 Uhr, Eintritt frei.

Kulturrepublik (79)
Kopf ab

„Das gefährlichste Organ des Menschen ist der Kopf“, wusste der Dichter und Nervenarzt Alfred Döblin. Folgerichtig bestand sein 1992 eingeweihtes Denkmal in Berlin nur aus einem Bronzekopf auf einem schlanken Steinsockel. Es markierte so ungefähr den Standort des verschwundenen Hauses an der Frankfurter, heute Karl-Marx-Allee, wo Döblin von 1919 bis 1931 wohnte und Patienten empfing. Seit Anfang Juli steht dort nur noch der Sockel. Döblins Kopf: abgesägt, spurlos verschwunden, ein Fall fürs die Polizei. Gut möglich, dass die Räuber bloß der Altmetallwert des Kopfes interessierte, man kennt solche Gestalten aus dem Roman „Berlin Alexanderplatz“ ganz genau. Der bettelarme Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg freilich weiß nicht, wo er das Geld für einen Nachguss von Döblins Kopf auftreiben soll. Kommissar Zufall, hilf! (23. August 2010)

Kulturrepublik (78)
Aufgebackenes

Nicht nur der neue Bundespräsident kommt aus Hannover, auch im Berliner Schloss Bellevue werden zu besonderen Anlässen Brötchen und Vollkornbrot aus der Stadt an der Leine serviert. Sofort wittert die investigative Berliner Lokalpresse einen Sommerskandal, doch ihre Intensivrecherche zielt ins Leere. Denn schon seit Roman Herzogs Zeiten wird die Bäckerei Gaue aus Hannover in Bellevue als Hoflieferant geschätzt. Und die Alltagsbrötchen für die Kantine des Bundespräsidialamtes kommen natürlich aus Berlin. Grund zum Meckern haben die Berliner so oder so nicht, denn die Hälfte der von ihnen gekauften Brötchen wird billig im Ausland vorproduziert, tiefgefroren und in Berlin endgültig fertiggemacht. Richtig genießbare Frühstücksschrippen beim Morgenspaziergang aufzutreiben, ist in vielen Stadtgegenden unmöglich. Früher wars auch nicht besser, wenn wir Fontane glauben wollen: „Aber die Berliner Semmeln / Werden mählich zum Skandal, / Ihre knusprig braunen Backen / Schwinden – denn die Bäcker backen / Ohne Glauben und Moral.“ (16. August 2010)

Kulturrepublik (77)
Die Mauer der Polen

Mauerstück der Leninwerft am Berliner ReichstagVom Osten gesehen ragte der Reichstag über den antifaschistischen Schutzwall, vom Westen gesehen verlief die Berliner Mauer gleich hinter dem Reichstag. Beide Perspektiven sind vor Ort nur noch schwer nachvollziehbar, trotz der Aufsteller mit historischen Fotos und der dezenten Mauerverlaufsmarkierung im Straßenpflaster. Dafür zieht seit vergangenem Sommer ein Stück roter Ziegelmauer an der Nordostecke des Reichstags die suchenden Blicke der Mauertouristen auf sich. Es stammt von der Danziger Leninwerft und würdigt die Solidarnosc-Bewegung als Wegbereiter der europäischen Einigung. Als der Präsident Lech Kaczynski und viele polnische Würdenträger im April bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, legten viele Trauernde an dem Mauerstück Blumen ab und zündeten Kerzen an. Ein Zeichen, dass die polnische Mauergedenkstätte am Bundestag keine Kopfgeburt der Politiker geblieben, sondern bei den Bürgern angekommen ist. (9. August 2010)

Kulturrepublik (76)
Direktor beim Bundestag

Der Bundestag bekommt einen neuen Chef: Heute ist der erste Arbeitstag von Harro Semmler in dem Amt, das sprachlich spitzfindig „Direktor beim Deutschen Bundestag“ heißt und nicht etwa „Direktor des Bundestags“. Niemand soll auf die Idee kommen, der Herr Direktor sei der Zuchtmeister der 622 Abgeordneten oder des Parlamentspräsidenten! Doch ohne erfahrenen Verwaltungschef wüssten die Volksvertreter oft gar nicht, was sie im Bundestag zu tun haben. Harro Semmler, seit 30 Jahren in der Parlementsverwaltung tätig, war zuletzt Leiter der „Abteilung P“, die den reibungslosen Ablauf der Sitzungen organisiert und die nötigen Unterlagen für die Parlamentarier bereitstellt. Als Verwaltungschef führt er nun ein Dienstleistungsunternehmen mit 2700 Mitarbeitern, darunter Abteilungen wie die Parlamentspolizei, der Besucherdienst, die Bibliothek und auch die Kunstsammlung des Bundestages. Je geräuschloser, desto besser: Wenn die Öffentlichkeit mit der Arbeit des Bundestagspräsidenten zufrieden ist und den Direktor gar nicht wahrnimmt, ist das Amt perfekt besetzt. (2. August 2010)


Kulturrepublik (75)
Wettbewerb im Geldbeutel

Pädagogisch ist der Euro ein Riesenerfolg. Nach ihrem großen Bruder hat sich nun auch die achtjährige Tochter ein Sammelalbum gewünscht, in dem die Münzen aller Euroländer sich einfinden sollen. Das Kind geht jetzt gerne mit zum Einkaufen und kontrolliert sorgfältig das Wechselgeld, es könnte ja ein rares Geldstück aus Luxemburg oder Malta dabei sein. Den Eltern war bis dahin gar nicht bewusst, wie oft sie den Dichter Cervantes, Botticellis Venus oder das Wiener Secessionsgebäude im Geldbeutel spazieren tragen. Anders als die Griechen, Spanier und Italiener hat Deutschland die Chance verpasst, sich in der gesamten Eurozone tagtäglich als Kulturnation darzustellen. Früher waren auf dem größten D-Mark- Schein doch auch die Brüder Grimm zu sehen! Italien hat seine wertvollste Euromünze für Dante reserviert, den Österreichern war die Frauenrechtlerin Bertha von Suttner doppelt so viel wert wie Mozart. Damit verglichen ist der breite Bundesadler auf unseren  Euromünzen kein hinreissender Sympathieträger. (26. Juli 2010)

Kulturrepublik (74)
Kritik der Gewalt

Welch ein Bild: Günter Grass, Günter Wallraff und Lew Kopelew tragen den Sarg ihres Freundes Heinrich Böll gemeinsam mit den Söhnen des Dichters zu Grabe. Der russische Dissident mit weißen Rauschebart stützt sich dabei selbst auf einen Stock. Genau heute vor 25 Jahren war das, auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker erwies dem unbequemen Autor die letzte Ehre. Böll hatte sich gewünscht, dass vor dem Trauerzug Sintimusiker Melodien spielten, „die melancholisch verwehten und doch wie zum Tanzen waren“, so erinnert sich Grass. Niemand ahnte, dass vier Jahre später mit dem Mauerfall eine neue Epoche beginnen würde. Heute lässt sich Bölls Werk als literarische Chronik der Bonner Republik lesen. Es wirkt historisch, obwohl viele seiner Themen keineswegs erledigt sind. 1972 warnte Böll auf einem SPD-Parteitag: „Es gibt nicht nur eine Gewalt auf der Straße, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an der Börse hoch gehandelt werden.“ (19. Juli 2010)

Kulturrepublik (73)
Sommerfantasien

Trotz des strahlenden Sommerwetters ist es bedenklich leer auf der halb verbrannten Wiese, auf der nächstes Jahr der Berliner Schlossbau beginnen sollte. Den hat die Bundesregierung aufgeschoben und so droht hier tatsächlich eine empfindliche Leerstelle, schon wegen der Sonnenbrandgefahr. Da Bund und Senat verhindern wollten, dass bis zum Baubeginn Bäume Wurzeln schlagen, gibt es keinerlei Schatten. In einem Sommerinterview hat Bauminister Ramsauer eine kulturelle Zwischennutzung bis zum Baubeginn angeregt und als Beispiel die Schneemänner angeführt, die dort im letzten Winter zahlreich umherstanden. Auch ein hölzernes Globe-Theater wie zu Shakespeares Zeiten könne er sich vorstellen. Zufällig steht so etwas momentan ungenutzt in den Babelsberger Filmstudios herum. Der Regisseur Roland Emmerich hat das Theater für seinen Film „Anonymous“ nachbauen lassen. Die Berliner Shakespeare Company, die bislang in einem Zirkuszelt spielt, meldete sofort Interesse an einem Umzug an. Shakespeare statt Schloss, warum nicht? Mit kühlem Kopf allerdings kann man sich schon ausmalen, wie das Publikum in dem Theaterbau mit offenem Dach zu Schneemännern gefriert, wenn erst der heiße Sommer vorbei ist. (12.Juli 2010)

Kulturrepublik (72)
Theatralik spart Steuern

Das Vorhaben der Bundesregierung, die ermäßigten Umsatzsteuersätze zu überprüfen, dürfte auch im Kulturbetrieb für Unruhe sorgen. Denn Künstler und Kreative gehören zu den Profiteuren des ermässigten Satzes von sieben Prozent, aber nicht in jedem Fall. So sind im Buchhandel pornografische Werke von der Vergünstigung ausgenommen, weil der Staat nur Kulturgüter begünstigen will. Während für Konzerte, Film- und Theateraufführungen der ermässigte Satz gilt, sind vom Honorar für Autorenlesungen grundsätzlich 19 Prozent Umsatzsteuer abzuführen. Begründung: Anders als beim Schreiben, Musizieren oder Theaterspielen entstehe bei der Lesung kein neues Werk und es finde auch keine Übertragung von Urheberrechten statt. Dagegen prozessierte ein Kinderbuchautor und bekam letztes Jahr recht. Das Hamburger Finanzgericht folgte seiner Argumentation, dass er Kinder im Alter von 7 bis 10 Jahren durch Vorlesen allein nicht erreiche, sondern Stimme, Körperhaltung und Bewegung einsetzen müsse. Es handle sich bei seinen Auftritt daher um steuerlich begünstigte Kleinkunst. Je theatralischer ein Autor beim Vortrag mit den Armen rudert, desto größer ist die Chance, dass sein Finanzamt den ermässigten Steuersatz akzeptiert. (5. Juli 2010)

Kulturrepublik (71)
Präsidiale Ironie

„Sie haben mich glücklich überstanden“, so lakonisch verabschiedete sich Richard von Weizsäcker 1994 vor der Bundesversammlung aus dem Präsidentenamt. Sein Nachfolger Roman Herzog sparte am Ende erst recht nicht mit Ironie: „Am harmlosesten war noch die tief empfundene Sorge, ob ich mich immer korrekt und geschmackvoll kleiden würde. Der Verdacht war bald entkräftet, da mich schon 1995 ein Institut, dessen Name mir freilich entfallen ist, zum bestgekleideten deutschen Politiker erklärte.“ Leider hat sich Horst Köhler durch seinen überstürzten Rücktritt selbst um die Gelegenheit zur öffentlichen Rückschau gebracht. Seinem Nachfolger sei daher die luzide Abschiedsrede des Verfassungsjuristen Herzog ans Herz gelegt. Ein Präsident hat demnach Wichtigeres zu tun, als „wie der Chor in der griechischen Tragödie um Staat und Politik zu kreisen und beider Handeln zu kommentieren.“ Um die langfristigen Anliegen einer „Gesellschaft der freien Bürger“ zu vertreten, meinte Herzog, sei „Chuzpe“ geboten und die „Abkehr von jeder gravitätischen Anwandlung, die den Träger eines so hohen Amtes mitunter plagen mag.“ (28. Juni 2010)

www.bundespraesident.de

Kulturrepublik (70)
Präsentiert das Gewehr!

Letzte Woche übertrug die ARD live den Großen Zapfenstreich für Horst Köhler, so konnte sich jedermann ein Bild davon machen, welche anachronistischen Rituale in der Bundeswehr als Gipfel der Höflichkeit gelten. Ist es etwa eine Ehre für einen Bundespräsidenten, wenn die Soldaten sich vor ihm aufführen wie vor einem absolutistischen Sonnenkönig? Wenn der Bürger in Uniform sich als perfekt gedrillte Kampfmaschine präsentiert? Hätte man nicht wenigstens die düsteren Stahlhelme durch flotte Mützen ersetzen können, um den martialischen Eindruck abzumildern? Den einzigen menschenfreundlichen Akzent setzte der scheidende Bundespräsident, der sich den St. Louis Blues gewünscht hatte, eine Anleihe aus Amerika, wo die Army sich besser zu verkaufen weiß. Mit so furchterregenden  Auftritten wird die Bundeswehr sicher keinen größeren Rückhalt in der Bevölkerung finden. Nicht nur in puncto Ausrüstung und Strategie, auch ästhetisch besteht dringender Modernisierungsbedarf. (21. Juni 2010)


Kulturrepublik (69)
Boxidol

Das Leben des Boxlegende Max Schmeling ist im vergangenen Jahr mit Henry Maske in der Hauptrolle verfilmt worden, doch wer dreht den Film über den Boxer Johann Trollmann? Zwei Jahre jünger als Schmeling, gewann Trollmann am 9. Juni 1933 den Kampf um die Deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Eine Woche später wurde ihm der Titel aberkannt, da die Nazis ihn wegen seiner Herkunft aus einer Sintifamilie ablehnten und seinen tänzerischen Boxstil „unarisch“ fanden. Daraufhin färbte er sich vor seinem nächsten Kampf die Haare blond, stand wie ein Klotz im Ring und ließ sich in der 5. Runde k. o. schlagen. Damit war Trollmanns Karriere, anders als die von Schmeling, beendet. In Konzentrationslagern musste er später gegen SS-Männer antreten und wurde 1944 von einem Peiniger ermordet. Ein Theaterstück über Trollmann kam im April in Hannover auf die Bühne, vergangene Woche wurde im Berliner Viktoriapark ein temporäres Denkmal in Gestalt eines abschüssig geneigten Boxrings eingeweiht. Der Bund Deutscher Berufsboxer übergab bereits 2003 einen Meistergürtel an Trollmanns Familie, ein Buch über ihn gibt es auch schon, aber erst durch einen Film würde das Idol wieder richtig populär. (14. Juni 2010)

www.trollmann.info

Kulturrepublik (68)
Mut zur Brotzeit

Früher war man zum Buffett eingeladen, heute heißt es Catering. Bei der staatseigenen KfW-Bankengruppe sei die Verköstigung trotz Finanzkrise immer noch vorzüglich, versicherte eine Kollegin. Doch in seiner Begrüßung zur Architekturpreisverleihung letzte Woche erklärte KfW-Vorstand Axel Nawroth demütig, unter dem bayrischen Bauminister Ramsauer seien Einladungen zum Catering nicht länger erwünscht. Allerdings nur aus Gründen der Sprachpflege: „Deshalb darf ich Sie alle zu einer Brotzeit einladen“. Die Brotzeit mit Havelzander, frischem Spargel und anderen Leckereien wurde dem Ruf der Staatsbank gerecht. Immerhin weist sie nach sechs Milliarden Verlust im Jahr 2007 wieder Gewinne aus und überweist 22 Milliarden Kredithilfe an Griechenland. Jetzt muss die einstige Kreditanstalt für Wiederaufbau bloß noch ihren „KfW-Award“ eindeutschen, so der hässliche Name des Architekturpreises, der dieses Jahr unter dem Motto „Mut zur Lücke“ an fünf findige Bauherren vergeben wurde. Heute abend ab 19. 25 Uhr stellt das ZDF-Magazin WISO die einfallsreichen Lückenbebauer vor. Wenn sich die drei bis vier Millionen Zuschauer dann ebenfalls eine üppige Brotzeit gönnen, wäre das fast schon ein Konjunkturprogramm.
(7. Juni 2010)


Kulturrepublik
Stichtag 31. Mai

Sarg und Grabkränze sind steuerlich absetzbar, nicht aber Trauerkleidung und die Bewirtung der Trauergäste. Das steht klipp und klar in der Anleitung der Finanzämter zum Ausfüllen der Steuererklärung, die heute fällig wird. Wenn zu Lebzeiten nur alles so klar wäre! Jedes Frühjahr überrascht der Bundesfinanzminister mit neu gestalteten Formularen und kryptischen Erläuterungen. Diesmal soll eine „Anlage Vorsorgeaufwand“ ausgefüllt werden. Doch die Beiträge für die Riester-Rente werden nirgendwo abgefragt, und um als Freiberufler drauf kommen, dass man die Autohaftpflichtversicherung in Zeile 18 geltend machen kann, muss man erst das Fallbeispiel eines  Lohnarbeiters auf einem anderen Blatt durchlesen. So trainieren die Finanzämter mit einem alljährlichen Intelligenztest die Gehirnzellen der Steuerpflichtigen. Andererseits: Eine pfiffigere Textredaktion im Finanzministerium könnte erheblichen Schaden von der deutschen Volkswirtschaft abwenden, der jeden Mai durch massenhaft vertane Zeit und schlechte Laune entsteht. (31. Mai 2010)


Kulturrepublik (64)
Privatsekretärin in Zuffenhausen

Zuffenhausen, dazu fällt dem schwabenfernen Rest der Republik vielleicht Porsche ein, wenn überhaupt etwas. Doch auch Zuffenhausen hat seinen Beitrag zur intellektuellen Landkarte der Bundesrepublik geleistet, wie aus dem Archiv der Frankfurter Universität zu erfahren ist. Dort lagern altersschwache Tonbänder mit den Stimmen von Horkheimer, Adorno & Co., der akustische Nachlass der Kritischen Theorie mit einer Gesamtspieldauer von über 100 Stunden. Dieses Kulturerbe wurde nun durch Digitalisierung gesichert und leichter zugänglich gemacht. In einem Interview erzählt der 1895 in Zuffenhausen geborene Max Horkheimer über seine Ausbildung in der Textilfabrik des Vaters, von der heute noch das ehemalige Bürogebäude an der Schwieberdinger Straße 58 steht. Der Fabrikantensohn verliebte sich dort in Papas Privatsekretärin. Sie ließ sich von Horkheimers Leidenschaft für Wagneropern anstecken und selbstverfasste Novellen vorlesen. Daraufhin hat sie den Chefsohn geheiratet und bestärkt, nicht Fabrikbesitzer zu werden, sondern Philosoph und Mitbegründer der Frankfurter Schule. (17. Mai 2010)


Kulturrepublik (63)

Das Theatertreffen beginnt

Linkerhand sitzt eine nette Kollegin vom Hörfunk, die sich ein Taschentuch vor die Nase presst. Rechterhand quillt ein erbärmlich nach Verwahrlosung stinkender Mann über den Theatersessel. Rundum Fernsehgesichter, Schauspieler, Dramatiker, Kritiker, Kulturprominenz. Vorn auf der Bühne predigt Jack Lang, in grauer Vorzeit französischer Kulturminister: „Die aktuelle Krise hat nicht allein finanzielle, sondern auch moralische Gründe. Den Politikern scheint es im Augenblick allerdings an Ideen zu mangeln. Es ist daher an uns, Utopien zu entwickeln.“ Der Kritiker wäre jetzt lieber an einem Ort, wo es weniger stinkt. Jack Lang träumt laut von einer deutsch-französischen Staatsbürgerschaft, einem gemeinsamen Parlament und Kulturministerium. Starker Applaus. Alle hier dürfen sich jetzt sehr wichtig fühlen. Es folgen zwei Stunden gepflegtes Bühnenelend mit „Kasimir und Karoline“ aus Köln. Kurzweilig, weil der Autor Horvath ganz genau wusste, was in einer  Wirtschaftskrise wirklich mit den Leuten passiert. Wie sagt Karoline, nachdem sie sich beinahe prostituiert hat? „Ich hab mir halt eingebildet, dass ich mir einen rosigeren Blick in die Zukunft erringen könnte. Aber ich müßt so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf kann.“ (10. Mai 2010)


Kulturrepublik (64)
Im Zeichen des Kreuzes

Vor den Fraktionssälen im Reichstagsgebäude stehen bunte Stellwände mit den Parteilogos, dort präsentieren sich Spitzenpolitiker den Kameras. Im großen und kleinen Saal (Foto) der Unionsfraktion dominiert eine andere Symbolik: Über den Abgeordneten hängen ein Kruzifixe an der Wand. Das rostbraune Gebilde im großen Saal stammt aus der Werkstatt des Bildhauers Markus Daum, der in Radolfzell am Bodensee arbeitet. Es entspricht keiner der geläufigen Kreuzformen, ist asymmetrisch, krumm und schief wie ein Balkenrest aus einem zerstörten Fachwerkhaus. „Als öffentliche Erinnerung an Gott ist es ein Zeichen der Ermutigung gerade auch für Juden und Muslime, indem es zeigt, dass hier der Gott Abrahams nicht vergessen ist“, heißt es beruhigend auf der Fraktionshomepage. Möge niemand glauben, im Reichstag würde zu Kreuzzügen gegen Andersgläubige geblasen! „Auch im säkularen Umfeld erinnert das Kreuz daran, dass alle politischen Kämpfe des Tages immer nur um vorletzte Dinge geführt werden, dass unser Tun und Lassen nicht der letzte Grund des Seins ist“. Im Hauen und Stechen des politischen Alltags könnte der Blick zum Kreuz an der Wand segensreich sein, so gesehen. (3. Mai 2010)


Kulturrepublik (63)
Imagepflege

Der Kulturkreis der deutschen Wirtschaft lud vergangene Woche in den Reichstag ein, um eine empirische Studie über Kulturförderung durch Unternehmen zu übergeben. Monika Grütters (Foto), die Vorsitzende des Bundestagskulturausschusses, bedankte sich artig, denn für so eine Statistik fühlte sich bisher niemand zuständig. Was aber nicht zahlenmäßig erfasst ist, das existiert für die deutsche Politik beinahe gar nicht. Nun ist also wissenschaftlich bewiesen, dass in Großunternehmen 100 Prozent der Kultursachbearbeiter ihr Kreuzchen bei „Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung“ machen, wenn auf einem Fragebogen nach den Motiven für die Kulturförderung gefragt wird. Gleich dahinter rangiert, auch nicht sehr überraschend, die „Imagepflege“. An 5000 Unternehmen wurden Fragebögen ausgereicht, gerade sechs Prozent schickten brauchbare Angaben zurück. Diese engagierten Betriebe fördern am liebsten Musikveranstaltungen und arbeiten gern langfristig mit Kulturinstitutionen und Kunstvereinen zusammen. Ein zarter Hoffnungsschimmer: Unternehmen unterstützen besonders bereitwillig regionale Kulturaktivitäten, die unter der Finanzkrise der Kommunen derzeit am meisten leiden. (26. April 2010)


Kulturrepublik (62)
Himmel und Hölle

Mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ hat die DDR-Bevölkerung ihren Staat zu Grabe getragen. Weniger bekannt ist, dass er schon in der gescheiterten 1848er Revolution zu hören war. Daran hat der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Mazière jüngst in einer Feierstunde des Bundestags zum 20. Jahrestag der ersten freien Wahlen in der DDR erinnert. Er zitierte aus einem Gedicht, das Ferdinand Freiligrath 1848 den Reaktionären entgegenschleuderte: „Wir sind das Volk, die Menschheit wir, / Sind ewig drum, trotz alledem! / Ihr hemmt uns, doch zwingt uns nicht - / Unser die Welt trotz alledem!“ Auch in de Mazières erster Regierungserklärung vor der Volkskammer, genau heute vor 20 Jahren, brillierte der sonst nicht gerade spritzige Redner mit seiner Belesenheit: „Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. / Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. / Was aber die Liebe gibt und der Geist, das lässt sich nicht erzwingen“. Der letzte Ministerpräsident ließ Hölderlins Hyperion das Urteil über die untergehende DDR sprechen: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ (19. April 2010)


Kulturrepublik (61)
Nationalkicker

Die vom Volk gewählte Fußballnationalmannschaft reist nicht nach Südafrika. Dafür kickte sie schon im letzten Herbst am „End der Welt“. So heißt der Fußballplatz des schweizerischen Trainingslagers in Magglingen. Dort spielte der FC Bundestag gegen den FC Nationalrat, um dessen Trainer Walter Eich nach 40 Jahren würdig zu verabschieden. 1969 siegten die deutschen Parlamentarier am selben Ort mit 0:4, diesmal reichte es nur zu einem torlosen Unentschieden. Besser klappte das Zusammenspiel zwischen  Linken und Unionsabgeordneten bei den Spielen gegen die Auswahl der Bundessteuerberaterkammer und den frommen FC Klerus, die gewonnen wurden. In zwei Wochen steht nun ein Match gegen eine Mannschaft aus Hoteliers und Rechtsanwälten auf dem Spielplan: Dort muss unbedingt ein Sieg her, um den Verdacht zu zerstreuen, die Hoteliers seien durch die Mehrwertsteuersenkung bestochen worden. Außerdem reist der FC Bundestag im Mai zum 38. Parlamentarierturnier nach Linz. Im vergangenen Jahr reichte es nach den Spielen gegen Finnland, Österreich und die Schweiz nur zum 3. Platz. Sollte sich Jogi Löw mit dem Deutschen Fußballbund total zerstreiten, wartet im Bundestag eine ehrenvolle Aufgabe auf ihn. Immerhin laufen auch die Volksvertreter im offiziellen Nationaltrikot auf. (12. April 2010)

Spielplan und Spielergebnisse auf www.fc-bundestag.de

Kulturrepublik (60)
Dutschke? Pfui Teufel!

Der Fotograf Konrad Rufus Müller hat die Gesichtslandschaften aller acht Bundeskanzler, von Adenauer bis Merkel, in Schwarz-Weiß für die Nachwelt festgehalten. Dieser Tage wurde er Siebzig. Aus diesem Anlass brachte die BILD-Zeitung eine Foto-Edition mit Müllers Kanzlerporträts für 1990 Euro (hier fehlt kein Komma!) heraus und organisierte eine Ausstellung in der Berliner Galerie Crone, nur einen Steinwurf vom Verlagshaus entfernt. Das Axel-Springer-Hochhaus und die Galerie grenzen an die Rudi-Dutschke-Straße, seit vor zwei Jahren ein Teil der alten Kochstraße nach dem linken Studentenführer umbenannt wurde. Bis heute klebt den Springerzeitungen der Ruf an, durch Hetzartikel das Attentat auf Dutschke im April 1968 und seinen Tod an den Spätfolgen mitverschuldet zu haben. Der Verlag müht sich, diesen Makel abzuschütteln, deshalb hat er im Januar sämtliche Artikel zur Studentenbewegung ins Internet gestellt (
www.medienarchiv68.de). Doch in seiner Pressemitteilung zur BILD-Kanzleredition wird die Ausstellungsadresse Rudi-Dutschke-Straße schamvoll verschwiegen. Nur von „der ehemaligen Kochstraße“ ist die Rede. Das erinnert doch sehr an Sprachregelungen der alten Bundesrepublik, als die  Springer-Blätter nicht müde wurden, das Kürzel „DDR“ in Gänsefüßchen zu drucken. (29. März 2010)

Kulturrepublik (59)
Schockierend

Das Aufregendste an der Reise zur Leipziger Buchmesse war diesmal das Umsteigen in Halle. Im schön renovierten Kaierzeitbahnhof schreit es von den Wänden: „Schock Deine Eltern - lies ein Buch!“ Mit grellen Plakaten wirbt die Hallenser Stadtbibliothek um junges Publikum. Und provoziert zugleich die Älteren, die den exzessiven Medienkonsum der Jugend beklagen, aber nicht minder anfällig sind für die Verführungen elektronischer Spielzeuge. Gefahr droht der Buchkultur vor allem von den Erwachsenen, die keine Zeit mehr finden, ihren kleinen Kindern regelmäßig vorzulesen und die als lesende Vorbilder ausfallen. Vom Alltagsverhalten der Elterngeneration hängt ab, ob die Nachwachsenden das Lesen gedruckter Bücher und Zeitungen als etwas begreifen, was zum Erwachsensein dazugehört. Der Streit um Helene Hegemanns „Axolotl“-Roman kommt gerade recht, weil er signalisiert: Immer noch kann ein gedrucktes Buch die Erwachsenenwelt erschrecken. Also, liebe Kinder, schockt Eure Eltern - schreibt ein Buch! (22. März 2010. Das Foto zeigt einen Jungautor bei der Lesung auf der Buchmesse.)


Kulturrepublik (58)
Musik fällt aus

In der Kultur- und Bildungspolitik weiß die linke Hand oft nicht, was die rechte tut. Auf einer Stelle wird Geld ausgegeben, weil welches da ist, gleichzeitig anderswo gespart, weil es angeblich nicht anders geht. So leistet sich Berlin einen Projektfonds Kulturelle Bildung und einen Autorenlesefonds, damit Künstler und Autoren in die Schulen gehen und den Kids Lust auf Kultur machen. Gleichzeitig aber sieht sich der Senat seit Jahren nicht in der Lage, ausreichend Musikunterricht in der Hauptstadt zu finanzieren. In den Regelschulen findet er kaum noch statt und Bewerber bei den bezirklichen Musikschulen müssen drei Jahre warten, ehe die Kinder einen Platz bekommen. Die Not ist so groß, dass sämtliche Chefdirigenten der großen Berliner Orchester, angeführt von den Pultstars Daniel Barenboim und Simon Rattle, letzte Woche einen offenen Brandbrief an den Schulsenator richteten: „Wir wir so nachwachsendes Publikum heranziehen sollen und mit wem wir in Zukunft die Education Programme an den Schulen erarbeiten sollen, ist uns ein Rätsel.“ Wenn die Hauptstadt so weitermacht, braucht sie irgendwann auch keine drei Opernhäuser mehr. (15. März 2010)


Kulturrepublik (57)
Kaputtes Gedächtnis

Mit einem Federstrich übertrug Kaiser Heinrich IV. drei Reichslehen an die Abtei St. Pantaleon in Köln. Die Urkunde ist über 900 Jahre alt.  Aus dem Jahr 1167 stammt das gut erhaltene Wachssiegel auf einem Schriftstück Kaiser Barbarossas, das er nach der Eroberung Roms ausstellte. Auch das um 1258 engzeilig mit der Hand geschriebene Lehrbuch „De Animalibus“ des Gelehrten Albertus Magnus - siehe Abbildung - ist ein Geschichtszeugnis von europäischem Rang. Alle drei Ausstellungsstücke stammen aus dem Kölner Stadtarchiv, das vor einem Jahr einstürzte. Was dort kaputt ging, ist schwieriger vorstellbar als der Schaden nach dem Brand der schmucken Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Auch deshalb wurden die Rettung der Kölner Archivalien nicht sofort als nationale Aufgabe begriffen. Eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau mit 100 teils schwer versehrten, teils bereits restaurierten Archivstücken rückt nun die Perspektive zurecht. 90 Prozent des Bestandes konnten aus dem Einsturzkrater geborgen werden, doch fast jedes der Milliarden Puzzlestücke muss gereinigt, restauriert und neu archiviert werden. Das wird Jahrzehnte dauern und bis zu 500 Millionen Euro kosten. Auf diesem Trümmerberg darf die übrige Kulturrepublik die Kölner nicht sitzen lassen. (8. März 2010)

Die Ausstellung „Köln in Berlin“ ist bis 11. April zu sehen.


Kulturrepublik (56)
Bettensteuer

Der preußische König Friedrich I. gründete die Berliner Akademie der Künste in Berlin und erhob eine Perückensteuer, um seine prachtvolle Hofhaltung zu bezahlen. Friedrich ist ein steinerner Dauergast im Plenarsaal der Akademie am Pariser Platz. Unter seinen Augen fand letzte Woche eine Podiumsdiskussion zur anrollenden Kulturfinanzierungskrise in den Kommunen statt, das Motto lautete: „Macht Not erfinderisch?“ Außer Appellen, sich gemeinsam etwas einfallen zu lassen, kam allerdings wenig Greifbares heraus. Denn Abgründe tun sich nicht nur bei der Finanzierung von Theatern, Orchestern oder Bibliotheken auf, sondern bei allen kommunalen Aufgaben. Richtig entschlossen wirkte nur der Kölner Stadtkämmerer Norbert Walter-Borjans, sich die Millionen, die ihm durch die Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen verloren gehen, durch eine Kulturabgabe zurückzuholen. Über eine solche Bettensteuer denken inzwischen viele Gemeinden nach. Dass man im Schlaf etwas für die Kultur tun kann, so wie früher durch das Perückentragen, ist ja auch eine charmante Vorstellung. (1. März 2010)


Kulturrepublik (55)
Deutsche Wertarbeit

Regieren in Deutschland ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Als gäbe es nicht schon genügend Ärger, muss die Kanzlerin demnächst auch noch ihr Büro für mehrere Wochen räumen, weil die Handwerker kommen. Das imposante Kanzleramt ist halt eine ziemliche Bruchbude, vielfach zeigen sich Risse in den Wänden, in der Tiefgarage tropft es, die Sprinkleranlage rostet, auch die Rauch- und Wärmeabzugsanlage muss repariert werden. Am Paul-Löbe-Haus der Abgeordneten drüben auf der anderen Straßenseite sind schon Scheiben der Glasfassade gesplittert, da der Bau sich stärker als erwartet gesenkt hat. Am Dach mussten für fünf Millionen Euro Lüftungsklappen von außen nach innen verlegt werden, weil die Planer übersehen hatten, dass niemand das Dach betreten darf. Im Außenministerium fiel schon mal ein großes Stück Decke herunter, aber am schlimmsten traf der Baupfusch ausgerechnet das Bauministerium: Gut 36 Millionen Euro sollen dort alle Nachbesserungen kosten, davon müssen 25 Millionen die Steuerzahler berappen. Der Bund als Bauherr, ein Vorbild? Was für eine kostspielige Bauhütte wird erst das Berliner Schloss werden, das unter Hochdruck wiederaufgebaut soll? (22. Februar 2010)


Kulturrepublik (54)
Liebe Abgeordnete

Die geglätteten Gesichter der Kandidaten auf den Wahlplakaten des vergangenen Jahres sind leider noch gut in Erinnerung, sie waren keine gute Werbung für die Demokratie. Eine ganz andere Sicht auf den Wahlkampf gewannen die Fotografen Angelika und Bernd Kohlmeier, die sich geduldig an die Fersen von 16 Kandidaten hefteten, sie in Schulen und Betriebe, auf Schützenfeste und Parteisitzungen begleiteten. Auf ungestellten Fotos hielten sie die lebenslustige Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner in einem Pulk von Kindern fest, die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth in herzlicher Umarmung oder den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse verloren in einem Autohaus. Die Fotografen haben sich durch technische Innovationen einen Namen gemacht und arbeiten seit 10 Jahren für den Bundestag, für ihr jüngstes Projekt kehrten sie zur klassischen Technik der Reportagefotografie zurück: Sie umkreisten die Abgeordneten mit zwei analogen Kameras und entwickelten die körnigen Schwarz-Weiß-Fotos von Hand im Labor. Das schafft Distanz und lässt zugleich Nahsichten zu, die sonst aufdringlich oder peinlich wirken würden. Auf den Schnappschüssen sehen die Volksvertreter wie ganz normale Bürger aus, nicht wie Funktionäre und Werbeträger der Politik. In der Alltäglichkeit fangen die Fotos ein, was so schwer zu bebildern ist: die Idee der Demokratie. (15. Februar 2010)

„Politik ungeschminkt“, Ausstellung bis Ende Februar im Kunstraum des Deutschen Bundestages, Eintritt frei, Katalog 25 Euro

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Kulturrepublik (53)
Ein Denkmal für Brecht

"Sozialismus ist als große Produktion zu definieren ... und der Kampf dient der Befreiung der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln.“ Solch heroische Sätze erwartet man auf den steinernen Säulen mit den eingemeisselten Brecht-Zitaten, die vor dem Berliner Ensemble aus dem Schnee ragen, doch nicht an genau dieser Stelle: ganz hinten am Brecht-Denkmal, im allerverstecktesten Winkel. Diese listige Platzierung des Zitats kommentierte den ideologischen Verfallszustand der DDR im Jahr 1988, als das Denkmal eingeweiht wurde. Wer Brechts Utopie von einer befreiten Gesellschaft im real existierenden Sozialismus finden wollte, musste lange suchen. Der Bildhauer Fritz Cremer verweigerte den staatlichen Auftraggebern ein gefälliges Klassikerdenkmal zum Aufschauen. Er setzte den Dichter als abgemattete Bronzefigur zwischen die in Stein gehauenen Weisheiten. „Das Alte sagt: So wie ich bin, bin ich seit je. / Das Neue sagt: Bist Du nicht gut, dann geh“, steht da. Ein kurioses Foto im Brechtarchiv zeigt den greisen Erich Honecker 1988 bei der Besichtigung des Denkmals. Ein Jahr später dichtete er zum 40. Jubiläum der DDR: „Den Sozialismus in seinem Lauf / halten weder Ochs noch Esel auf.“ Mit Politlyrik stemmte sich Hoenecker gegen den Umsturz, der sich in Brechts Denkmal ankündigte. Damit war der Sozialismus auch nicht mehr zu retten. (8. Februar 2010)


Kulturrepublik (52)
Memento

Im Paul-Löbe-Haus der Bundestagsabgeordneten gibt es noch einige graue Betonwände, die auf Veredelung durch Kunst warten. In der letzten Januarwoche wurden dort feierlich zwei wandfüllende Fotoinstallationen von Herlinde Koelbl übergeben. 336 Porträtfotos von Angela Merkel, Gerhard Schröder, Joschka Fischer, sowie weiteren Politikern, Wirtschaftsführern und Mediengurus hat die Fotografin zu zwei Bildteppichen montiert, aus denen sich die Schriftzüge „Wille“ und „Macht“ abheben. Die über mehrere Jahre aufgenommenen Porträts der Protagonisten zeigen, wie sich Machtwille und Last der Verantwortung in ihre Gesichtszüge eingeschrieben haben. Die Installation ist ein Memento: Sie soll die Abgeordneten an die Vergänglichkeit der Macht und ihrer Träger erinnern. Auch Altkanzler Gerhard Schröder war zur Einweihung gekommen und zeigte sich vor den alten Fotos, die ihn als gutgelaunten Ministerpräsidenten und Zigarre rauchenden Basta-Kanzler verewigen. Schröder hat die Dauerleihgabe der an den Bundestag eingefädelt. Der Kunstbeirat des Bundestags wollte die Fotoinstallation unbedingt erwerben, hatte aber kein Geld, woraufhin Schröder den steinreichen Finanzmanager Carsten Maschmeyer einspannte, einen seiner Hannoveraner Freunde. Eine musikalische Fürbitte rahmte die Übergabe der Kunstwerke ein. Zwei Psalmenvertonungen aus dem 17. Jahrhundert hallten durch das Parlamentsgebäude: „Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten die umsonst, die daran bauen.“ (1. Februar 2010)


Kulturrepublik (51)
Kampfmittel Klassik

Im eisigen Berlin ist dieser Tage ein zweimonatiger Feldversuch zu Ende gegangen. Wer vom Kurfürstendamm in den U-Bahnhof Adenauerplatz hinabstieg, wurde im Zwischengeschoss mit gefälliger Klassik berieselt. Die Verkehrsbetriebe testeten die Akzeptanz der Beschallung, die bald zu einer Dauereinrichtung auf den U-Bahnhöfen werden könnte. In München läuft bereits seit 2001 auf zehn U-Bahn-Stationen eine musikalische Endlosschleife: Werke von Vivaldi, Mozart und Tschaikowski, die immergleichen 41 Stücke von sieben beliebten Komponisten. Am Hamburger Hauptbahnhof dient die Klassikberieselung als Kampfmittel, um Drogendealer in die Flucht zu schlagen. Auch in Berlin suchen die Verkehrsbetriebe nach dem richtigen Sound, der unliebsamen Dauergästen das Herumlungern auf den Bahnhöfen verleidet und ängstlichen Fahrgästen ein Gefühl der Sicherheit gibt. Kaltherzigkeit ist dem Management nicht vorzuwerfen: Wenn die Temperatur unter 3 drei Grad minus fällt, bleiben wenigstens drei U-Bahnhöfe die ganze Nacht für Obdachlose geöffnet. Missliebige Personen mit Mozart vergraulen zu wollen, zeugt nicht von ästhetischem Feingefühl. Der Feuerkopf Beethoven hätte sich diese Verwendung seiner Kunst nicht bieten lassen: Er hätte die Verkehrsbetriebe gewiss auf Unterlassung verklagt. (25. Januar 2010)


Kulturrepublik (50)
Lust auf Lidl

Lidl klingt wie eine Eindeutschung des englischen „little“, was zu den kleinen Preisen der Supermarktkette passen würde, aber diese Spur führt in die Irre. Bereits 1930 existierte in Ulm eine Südfrüchtehandlung mit dem Familiennamen Lidl, die Keimzelle des Branchenriesen. Lidl-Filialen waren noch nicht allgegenwärtig, als in den wilden Sechzigern eine Düsseldorfer Künstlergruppe um den Maler Jörg Immendorf die Lidl-Kultur erfand. Die neodadaistische Truppe propagierte die „Lidl-Stadt“, gründete eine „Lidl-Akademie“ und eine „Lidl-Sportgruppe“ und machte sich so über den Kunst- und Politikbetrieb lustig. Einmal baute Immendorf einen fragilen „Lidl-Raum“ aus Holz und Papier ans Bonner Bundeshaus, der von der Polizei niedergerissen wurde. Das Museum of Modern Art in New York verwahrt einen schwarz-rot-golden bemalten Holzklotz mit der Aufschrift „Lidl“. Wenn man ihn schüttelt, klingt er wie eine Babyrassel. Solch einen Klotz schleifte Immendorf im Januar 1968 um den Bundestag wie ein Hündchen hinter sich her. Als Ordnungshüter den verdächtigen Gegenstand konfiszierten, zog Immendorf einen zweiten „Lidl-Block“ aus der Tasche, band ihn sich um den Hals und setzte seinen Spaziergang fort. (18. Januar 2010)


Kulturrepublik extra (Kommentar)
Wenn die Kindlein schlafen

Es soll Grundschulkinder geben, die abends um 20 Uhr müde sind, auch wenn sie das nie zugeben würden. Manche, die früh raus müssen, liegen da schon im Bett. Jedenfalls ist dieser Termin nicht der beste für eine Nachrichtensendung, die jüngeren Kindern die politischen Themen des Tages, einschließlich Krisen und Katastrophen, nahebringen soll. Bis kürzlich lief die 10-Minuten-Ausgabe von „Logo!“ im Kinderkanal um 15.50 Uhr und 19.50 Uhr. Nun gibt es am Nachmittag nur noch zweimal Kurznachrichten für Kinder, je zwei Minuten lang, wer mehr „Logo!“ sehen will, muss halt lange genug aufbleiben.
    Unser Sohn schafft das, trotzdem ist er stinksauer auf den Kinderkanal! Bisher hatte er an Schultagen pünktlich zur „Logo!“-Nachmittagssendung den Fernseher eingeschaltet und sich danach an seine Hausaufgaben gesetzt. Das Zerstreuungsfernsehen, mit dem der gebührenfinanzierte Kinderkanal den restlichen Sendenachmittag bestreitet, war im schnuppe. Abends hat er jetzt nur noch selten Lust zu „Logo!“ Schon als man der Sendung im vergangenen Herbst ein bonbonfarbenes Teletubbie-Design überstülpte, fühlte er sich nicht mehr richtig ernst genommen. Dann lieber gleich „Tagesschau“!
    Zehn Minuten „Logo!“ am Nachmittag, auf diese Kulturleistung durfte das öffentlich-rechtliche Fernsehen stolz sein. Sie hatte das Zeug zum Klassiker wie das „Sandmännchen“ oder die „Sendung mit der Maus“. Jetzt wird der Kinderkanal dem reinen Unterhaltungsprogramm der Privaten wieder ein bisschen ähnlicher. Und wann kommt die Werbung? Alle fordern bessere Bildungsangebote für jüngere Kinder, aber der gebührenfinanzierte Kinderkanal verlegt die politische Bildung der Grundschüler in die Bettgehzeit: Gute Nacht, Deutschland! (13. Januar 2010)


Kulturrepublik (49)
Rübezahls Wanderungen

Die Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach ist zwar 1943 in Pommern geboren, aber ihre Eltern stammten aus Hanau und Bremen, und als die Familie vor der Roten Armee nach Westen floh, war sie keine zwei Jahre alt. Im Videochat der Tagesschau auf ihre Herkunft angesprochen, antwortete sie vor ein paar Tagen: „Ich bin als Kind mit dem schlesischen Berggeist Rübezahl aufgewachsen, vor dem ich immer furchtbare Angst hatte, weil er nämlich die Bösen bestraft und die Guten belohnt, und ich war mir nie so ganz sicher, ob ich böse oder gut bin.“ Dieses Kindheitstrauma kann sich Steinbach jedoch nicht im Riesengebirge, der Heimat der Sagenfigur, zugezogen haben, sondern frühestens in einer der westlichen Besatzungszonen. Erst in der jungen Bundesrepublik wurde Rübezahl zu einem politischen Symbol der Heimatvertriebenen. Gleichzeitig verleibten die nach Schlesien zwangsumgesiedelten Polen den Waldgeist ihrem Mythenvorrat ein, als „Pan Liczyrzepa“ oder „Pan Górs“.  Deutsche und polnische Vertriebene entwickelten Patchworkidentitäten mit überraschenden Gemeinsamkeiten. Rübezahls Wanderungen über die Oder-Neiße-Grenze wären ein spannendes Thema für das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“, das bisher nur durch den Zank um die Machtverhältnisse im Stiftungsrat von sich reden macht. (11. Januar 2010)


Kulturrepublik (48)
Leihgaben ans Kanzleramt

Das Theaterstück „Kokoschka malt Adenauer“ von Theodor Schübel kann seit Jahren bei einem renommierten Verlag bestellt werden, ist aber noch nie uraufgeführt worden. Der ideale Ort wäre das Büro der Kanzlerin. Dort hängt Kokoschkas Adenauerporträt hinterm Schreibtisch, das der Künstler 1966 im Feriendomizil des ersten Bundeskanzlers malte. Die Idee dazu hatte der Kunsthändler Johannes Wasmuth. Er überredete den Maler dazu, sein Honorar von 200.000 Mark einem Kinderhilfswerk zu spenden. Die Summe brachte die Illustrierte „Quick“ auf, die das Gemälde dann dem Deutschen Bundestag schenkte. Das hohe Malerhonorar erklärte Kokoschka mit seiner Verfemung in der Nazizeit: Weil sie zu billig gewesen seien, hätten die Nazis seine Bilder als entartet verbrannt, statt sie für Devisen ins Ausland zu verkaufen. Kokoschkas Adenauerporträt hing schon im Abgeordnetenbüro Angela Merkels, seit 2006 befindet es sich als Leihgabe des Parlaments im Kanzleramt. Ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder hatte für die kahle Wand hinter dem Kanzlerschreibtisch einen mit bloßen Fingern gemalten, kopfunter abstürzenden Adler seines Malerfreundes Georg Baselitz ausgewählt.  (4. Januar 2010)





© für Texte und Fotos: Michael Bienert






 
Michael Bienert
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