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Bühnenbild im Kanzleramt, August 2009


ARCHIV I KULTURREPUBLIK 2009


Im Feuilleton der STUTTGARTER ZEITUNG wirft Michael Bienert an jedem Montag ein Schlaglicht auf Vergangenheit und Gegenwart der Kulturrepublik Deutschland. Hier sind alle Kolumnen des Jahres 2009 nachzulesen.

Zu den Kolumnen des Jahres 2010 >>>.

Kulturrepublik (47)
Minima

Nicht nur am rauhen Papier, auch an der Typografie waren Druckerzeugnisse aus der DDR sofort zu erkennen. Die Schriften kamen aus dem VEB „Typoart“ in Dresden, der staatlichen Schriftgießerei der DDR. Typographie könne „nicht in der Ästhetik der Jahrhunderte befangen bleiben, die mir Karavellen das gedruckte Wort über die Ozeane trugen“, heißt es in einem Firmenprospekt aus den 50er Jahren. Um Papier zu sparen, entwickelte der Schriftgestalter Karl Heinz Lange die Type „Minima“, eine schmale, aber gut lesbare Schrift für  DDR-Telefonbücher. Wegen der friedlichen Revolution kam sie jedoch nie zum Einsatz. Der volkseigene Betrieb wurde von der Treuhand verkauft und unter mysteriösen Umständen liquidiert. Inzwischen wirbt eine Fangemeinde, die „Typoart-Freunde“, für die Wiederentdeckung der DDR-Schriften. Die „Minima“ ist als „PTL Minimala“ (Schriftmuster hier >) wieder auf dem Markt. Passende Verwendung hat die Type in einem exzellenten Ausstellungskatalog über Kunst im geteilten Deutschland gefunden, wo sie so frisch und modern daher kommt, dass man ihr die Herkunft nicht anmerkt. (28. Dezember 2009)

„Kunst und Kalter Krieg“, Dumont Verlag, 460 Seiten, 49,95 Euro.

Kulturrepublik (46)
Im Lichterwald

Der Weihnachtsbaum vor dem Reichstag beeindruckt vor allem durch seine
den Dimensionen des Gebäudes angemessene Größe. Bis auf eine elektrische
Lichterkette ist er schmucklos, passend zur politischen Adventszeit, in der es nicht sehr feierlich im Bundestag zuging. Immerhin prangt im Paul-Löbe-Hauses, wo die Ausschüsse tagen, ein herzerwärmender Prachtbaum mit roten Kugeln. Hinter der gläsernen Hauptfassade opponiert er gegen den Kollegen vorm Kanzleramt auf der anderen Straßenseite. Um den fröstelnden Baumriesen der Exekutive windet sich in eine bläulich schimmernde Lichtgirlande. Nachts ähnelt diese Lichtskulptur eher einem arktischen Eiszapfen, den der Klimawandel nach Berlin geschwemmt hat. Jetzt kurz vor Weihnachten bevölkern mehr Christbäume als Abgeordnete die Flure und Büros im Regierungsviertel: Die nächste Plenarsitzung findet erst am 20. Januar statt. Die Großtannen und Fichten, die wie Staatsymbole vor den wichtigsten Staatsbauten ausharren, winken den Berlintouristen zu: Willkommen in der Weihnachtsrepublik Deutschland! (21. Dezember 2009)




Kulturrepublik (45)
Entspannungspolitik

„Wisst Ihr, wer Willy Brandt war?“ Nur zwei Arme schnellen in die Höhe. Die sechste Klasse der Berliner Nelson-Mandela-Grundschule ist prima auf das Treffen mit dem neuen US-Botschafter vorbereitet, aber wer erwartet schon so eine Frage? Also muss Mr. Murphy in drei Sätzen die sozialliberale Ostpolitik erklären, um auf den Punkt zu kommen: Von der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt bis zum Fall des Eisernen Vorhangs seien 18 Jahre vergangen. Auch mit dem jüngsten Preisträger Obama müsse man Geduld haben: „He´s only one guy. And he needs help“. Der Botschafter diskutiert mit Zehnjährigen in der Jugendabteilung der Amerika-Gedenkbibliothek und weicht keiner Frage aus. „General Motors has been a big Kopfschmerz for me“, sagt er zur Opel-Dauerkrise. Nein, unter der Dusche habe er keinen Leibwächter dabei. Mit seiner Frau Tammy liest Philip D. Murphy aus den Kindheitserinnerungen seines Präsidenten vor. In „Dreams from my Father“ erzählt Obama, wie er seinen kenianischen Vater im Alter von zehn Jahren kennenlernte. „It´s a big idea in this book“, sagt Mr. Murphy: „Anybody can make it.“ Die deutschen Schüler fühlen sich ernst genommen. Schon hat Obamas Mann in Deutschland einen Spitznamen: „Mr. Entspannung“. (14. Dezember 2009)


Kulturrepublik (44)
Bei den Außerirdischen

In den rundum gläsernen Aufzügen des Paul-Löbe-Hauses fühlt man sich vollends wie einem Raumschiff. Selbst die Fußböden der Aufzugkammern sind aus weiß leuchtendem Milchglas. Zwanzig solcher Glaszellen steigen und sinken  unaufhörlich an den Seiten der langen Haupthalle, tragen Abgeordnete sanft in ihre Büros und Ausschusssäle. Die raffinierte Lichtregie verleiht sogar den unverputzten Betonwänden etwas Schwebendes. Am Übergang zum Reichstagsgebäude leuchten neongrün zwei rätselhafte Riesenmännchchen von Neo Rauch. In einer Vitrine ist eine mehrere Kilo schwere Spezialkamera zu bestaunen, wie sie auch bei Marserkundungen eingesetzt wird. Sie gehört zu einer Ausstellung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Im Paul-Löbe-Haus hat es Stellwände mit riesigen Stereofotos von der Hauptstadt aus großer Höhe aufgebaut. Um die 3-D-Sichten aufs Regierungsviertel zu genießen, müssen die Angeordneten eine rot-blaue Pappbrille auf der Nase balancieren und sehen dann absolut außerirdisch aus. (7. Dezember 2009)


Kulturrepublik (43)
Politische Geografie

Seltene Staatsschätze kann Bundespräsident Horst Köhler seinen Besuchern in Schloss Bellevue noch bis Weihnachten zeigen, darunter ein Buch vom Format einer Haustür. Der 125 Kilo schwere Atlas war im 17. Jahrhundert ein Staatsgeschenk an den preußischen Kurfürsten. Aufgeklappt sind die darin eingebundenen Kartenblätter über zwei Meter breit. Den Atlas verwahrt sonst die Kartenabteilung der Berliner Staatsbibliothek, eine der größten Landkartensammlungen weltweit. Im Gründungsjahr 1859 übernahm sie 40.000 Blätter vom preußischen kartografischen Institut, das bis dahin in Bellevue untergebracht war. Nun sind einige Inkunabeln dorthin zurückgekehrt. Neuere Geschichte kann der Bundespräsident an einer Karte Sachsens erklären, auf der die Schauplätze der friedlichen Revolution vor 20 Jahren markiert sind. Auch ein Berlinplan aus jenen Tagen hängt aus, darauf sind die Filialen der Dresdner Bank hervorgehoben. Er wurde 1989 in hoher Auflage für die vielen DDR-Bürger gedruckt, die im fremden Westen ihr Begrüßungsgeld von 100 D-Mark einkassieren wollten. (30. November 2009)


Kulturrepublik (42)
Hymnen ohne Worte

Neulich zeichnete der Bundespräsident den Liedermacher Stefan Krawczyk und elf weitere Bürger für ihren Kampf gegen die SED-Diktatur aus. Gebeten, die Nationalhymne anzustimmen, tönte der Sänger „Deutschland, Deutschland über alles!“, bis er unterbrochen wurde. Denn nur noch die unverfängliche dritte Strophe des Deutschlandliedes soll seit 1952 bei offiziellen Feierlichkeiten erklingen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ist ehemaligen DDR-Bürgern wie Stefan Krawczyk eben nicht an der Wiege gesungen worden. Auch die DDR tat sich schwer mit ihrer Hymne. „Lass uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland“ dichtete Johannes R. Becher vor 60 Jahren. Vom SED-Politbüro unter Ulbricht abgesegnet, durfte der Text des „Ruinenwalzers“ in der Ära Honecker überhaupt nicht mehr mitgesungen werden. Ihn anzustimmen, wurde zum subversiven Akt. Krawczyks Fehltritt erinnert daran, dass auch „Deutschland, Deutschland über alles“ einst ein rebellischer Vers war, mit dem der politisch verfolgte Vormärzdichter Hoffmann von Fallersleben die österreichische  Kaiserhymne für die Demokraten eroberte. (23. November 2009)


Kulturrepublik (41)
Geteilte Geschichte

Schon wird das 600-Seiten-Buch als Standardwerk gepriesen und von der Bundeszentrale für politische Bildung fast umsonst unters Volk gebracht. Man reibt sich die Augen: eine „Deutsche Kulturgeschichte“, die 1945 beginnt und dann nur die Bundesrepublik abhandelt? Die sich für die DDR bloß insoweit interessiert, wie sie der Westen nicht ignorieren konnte? Wie bizarr mutet diese Beschränktheit an, wo die Autoren doch einem entgrenzten Kulturbegriff frönen. Heimatfilme, lange Haare oder Inter-Dating sind für sie selbstverständlich Meilensteine der Kultur. Das könnte amüsant zu lesen sein, hätte die Abneigung gegen „Hochkultur“ nicht auch die Sprache der Historiker verdorben. Kostprobe: „Ein Beispiel für die ökologische Orientierung im Wohnen, das nach wie vor von einem hohen Anteil an Neubauten gekennzeichnet war, bietet das bereits Ende der 80er Jahre gestartete Modellvorhaben des Bayerischen Innenministeriums zum Sozialen Wohnungsbau.“ Mit vollem Ernst behauptet der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, solche Lektüre sei „eine reine Freude“. Merke: Kulturgeschichtsschreibung ist auch eine Kunst. (16. November 2009)

Axel Schildt / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Hanser Verlag 2009, 24,90 Euro. Die Paperbackausgabe bei der Bundeszentrale kostet nur 6 Euro.


Kulturrepublik (40)
Die Unbelehrbare

Ein Aufatmen ging durch die DDR, als nach dem Sturz Erich Honeckers auch seine Frau Margot am 2. November 1989 aus dem Amt schied. Seit 1963 war sie  ununterbrochen Volksbildungsministerin, also verantwortlich für ein autoritäres Erziehungswesen, das Anpassung an die herrschende Ideologie belohnte und Abweichungen von der sozialistischen Norm abstrafte. „Lila Hexe“ wurde Margot Honecker wegen ihrer Haarfarbe genannt. 1978 setzte sie gegen den Widerstand der Kirchen und vieler Eltern den Wehrunterricht durch, eine vormilitärische Ausbildung bereits in der 9. und 10. Klasse. Heute lebt die frühere First Lady der DDR als Rentnerin in Chile. Im vergangenen Jahr nahm sie einen Orden „für kulturelle Unabhängigkeit“ aus der Hand des nicaraguanischen Staatspräsidenten Ortega entgegen. Es war ein Dankeschön für die frühere Unterstützung von Alphabetisierungskampagnen durch die DDR-Regierung. Margot Honecker besuchte auch das nicaraguanischen Erziehungsministerium. Es teilte hinterher mit, die Genossin Honecker habe ihr tiefes Bedauern darüber geäußert, dass die heutigen Erziehungsprogramme in Deutschland der „Politik des Kapitalismus“ entsprächen. (2. November 2009)


Kulturrepublik (39)
Schöne Termine

Heute eröffnet Bundespräsident Horst Köhler in der Berliner Kulturbrauerei eine Festwoche zum zehnjährigen Bestehen der „lyrikline“, jenes wunderbaren Internetportals, auf dem man mittlerweile 5400 Gedichte von 590 Poeten in 49 Sprachen lesen, vor allem aber auch hören kann. Das globale Datennetz dient in diesem Falle wirklich als Kulturträger und gibt dem Begriff Weltliteratur einen neuen Sinn. Für den Bundespräsidenten ist die Teilnahme an diesem Jubelfest kein Pflichttermin. Umso größer die Ehre für das Projekt. Wie wohl sich Horst Köhler bei solchen Kulturterminen fühlt, konnte man Anfang des Monats im linken Grips-Theater beobachten, als dort eine namibisch-deutsche Fassung des Musicals „Linie 1“ gezeigt wurde. Ungezwungen erzählte er von seiner Leidenschaft für Afrika und witzelte das gesamte Publikum in Hochstimmung. Es gehört zu den Amtspflichten des Staatsoberhaupts, sich für Kultur zu interessieren, doch die subversive Botschaft von Köhlers Auftreten ist eine andere: Kultur wirkt krampflösend und macht richtig Freude! (26. Oktober 2009)


Kulturrepublik (38)
Nobelpreis für Deutschland

Am Fronleichnamsnachmittag des Jahres 1972 umstellten Polizisten mit Maschinenpistolen das Haus des Schriftstellers Heinrich Böll in der Eifel. Böll saß gerade mit dem Philosophen Robert Spaemann am Kaffeetisch, an den nun auch der Einsatzleiter der Polizei zum Kuchenessen gebeten wurde. Im Gespräch kam heraus, dass er die als RAF-Terroristin gesuchte Ulrike Meinhof bei Familie Böll vermutete. In einem Spiegel-Artikel hatte Heinrich Böll ein Ende der Hetzjagd und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Terrorgruppe angemahnt. Wenige Monate später, am 19. Oktober, wurde ihm der Literaturnobelpreis zuerkannt. Böll nannte ihn in seiner Dankesrede „eine Ehre, die wohl nicht nur mir gilt, sondern auch der Sprache, in der ich mich ausdrücke, und dem Land, dessen Bürger ich bin.“ Als jedoch 1979 das Bundespräsidialamt telefonisch anfragte, ob Böll auch das Bundesverdienstkreuz annehme, antwortete er kurz angebunden: „Ich bin kein Typ für Orden.“ (19. Oktober 2009)


Kulturrepublik (37)
An meine Landsleute

Die Gründung der DDR vor 60 Jahren machte Bertolt Brecht, der damals in Ost-Berlin mit Helene Weigel das Berliner Ensemble aufbaute, nicht recht glücklich. Die Spaltung Deutschland in zwei Staaten war Brechts Bemühungen abträglich, wie seine Frau die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Mehr gefreut hat ihn die Wahl des alten Kommunisten Wilhelm Pieck zum ersten - und einzigen - DDR-Staatspräsidenten am 11. Oktober 1949. Für ihn schrieb Brecht in den folgenden Tagen das mahnende Gedicht „An meine Landsleute“: „Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten / Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen!/.../ Ich bitte Euch - greift zur Kelle - nicht zum Messer!“ Der Gedichttitel spielt auf die Gewohnheit Piecks an, bei Reden seine Hörer als „liebe Landsleute“ anzusprechen. Brecht schickte dem „lieben Genossen“ eine Abschrift mit dem Kompliment, dass Pieck die Verse sicher viel besser vortragen könne als der Dichter. (12. Oktober 2009)


Kulturrepublik (36)
Entscheidung am Montag

Nicht der 3. Oktober, der Tag der staatlichen Wiedereinigung, sondern der 9. Oktober wäre der ideale Nationalfeiertag, behauptet der Autor Ingo Schulze auf einer Einladung der Berliner Akademie der Künste. Der 9. Oktober 1989 war ein Montag. Nach den offiziellen Jubelfeiern zun 40. Jubiläum der DDR-Gründung zwei Tage zuvor sollte es in Leipzig wieder eine Bürgerdemonstration für Reformen und Reisefreiheit geben. 8000 Mann Sicherheitskräfte waren zusammengezogen worden, nach chinesischem Vorbild sollten sie den friedlichen Aufstand ersticken. Um ein Blutbad zu verhindern, riefen sechs bekannte Leipziger, angeführt vom Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, zur Gewaltlosigkeit auf. 70.000 Bürger ließen sich nicht einschüchtern und zwangen die Sicherheitskräfte zum Rückzug. Ermutigung kam damals von vielen prominenten DDR-Künstlern, so verlasen seit dem 4. Oktober 1989 Schauspieler des Dresdner Staatstheaters nach jeder Vorstellung einen flammenden Aufruf für politische Reformen. Grund genug für die die Berliner Akademie, kommenden Freitag mit einer langen Nacht der Künstler ihren eigenen Revolutionsfeiertag zu begehen. (5. Oktober 2009)


Kulturrepublik (35)
Riesige Einheitsfeier

Der Fall der Mauer vor 20 Jahren und die gewaltlose Wiedervereinigung hatten etwas Märchenhaftes, doch davon war bei den bisherigen Gedenkveranstaltungen wenig zu spüren. Die Deutschen zeigen wenig Neigung, das historische Ereignis zu romantisieren. Anders die Franzosen, die um den Tag der deutschen Einheit herum in Berlin ein viertägiges Straßentheaterspektakel inszenieren. Zwei tonnenschwere Marionetten, 15 und 7 Meter hoch, werden von Dutzenden Helfern durch die Hauptstadt bugsiert, um sich am Brandenburger Tor symbolträchtig wiederzubegegnen. Mit einer imposanten rosa Brille auf der Nase dirigiert Jean Luc Courcoult, Chef der Theatercompagnie „Royal de Luxe“, das Spektakel (s. Foto). Bundesregierung, Hauptstadt und Sponsoren haben gut 1,5 Millionen Euro locker gemacht, damit er sein Riesenmärchen verwirklichen kann. Möglicherweise lernen die Deutschen wieder, sich über ihre friedliche Revolution so unbefangen zu freuen wie über einen Kindergeburtstag. (28. September 2009)


Kulturrepublik (34)
Brausepulver und Seifenblasen

Der blaue Kinderfußball mit dem übermalten CDU-Logo im Garten stammt aus einem früheren Wahlkampf. So unverwüstlich sind Geschenke der Parteien selten. Die Rosen, Nelken und Sonnenblumen der Kandidaten welken rasch dahin wie Wahlversprechen. Den längsten Gebrauchswert suggeriert in diesem Wahlkampf das Kopftuch der Piratenpartei. Vielleicht sorgt es ja dafür, dass sich in ein paar Wochen noch jemand an sie erinnert. Mit Vitamin-C-Brausepulver versucht die SPD richtig Schwung in den Endspurt ihres pausbäckigen Kanzlerkandidaten zu bringen. Es will leider nicht so recht brizzeln. Die Kanzlerinnenpartei ärgert die Grünen mit dem Verteilen ökologisch korrekter Windrädchen. Lieber noch mögen Wählerkinder die mit seifiger Flüssigkeit gefüllten Pustefixröhrchen der Union. Wenn von diesem Wahlkampf etwas Typisches im Gedächtnis bleibt, dann die schillernden Seifenblasen. (21. September 2009)


Kulturrepublik (33)
Der Alte

„Präsident soll ein anderer werden, ich will Kanzler werden. Ich bin 73 Jahre. Aber ich werde das Amt des Kanzlers annehmen, weil 1. Der Bundespräsident aus dem Parteileben ausscheiden muss… 2. Ich verfüge über gewisse Erfahrungen in staatlichen Dingen und in der Verwaltung. 3. Habe stärkere Ellbogen, als ich früher geglaubt hätte.“ Mit diesem Zitat lädt die Konrad-Adenauer-Stiftung zum morgigen Festvortrag: Am 15. September 1949 wurde ihr Namensgeber mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, vom Bundestag zum ersten Bundeskanzler gewählt. Ein Gutachten der Bonner Universitätsklinik bescheinigte Adenauer „die gesundheitliche Eignung für das Amt des Bundeskanzlers für ein bis zwei Jahre.“ Regiert hat er dann 14 Jahre. Damals war die Bundesrepublik jung, jetzt nähert sie sich zügig dem Rentenalter und auch ihre Bevölkerung wird im Schnitt immer älter. Na und? Die Vergreisung des Führungspersonal war nur in der DDR ein Problem, weil es nicht abgewählt werden konnte. Ansonsten haben die Deutschen mit den Alten in der Politik wenig schlechte Erfahrungen gemacht. (14. September 2009)


Kulturrepublik (32)
Wahlunlust

Der Wahlkampf soll die Bürger mobilisieren und bisweilen gelingt das ja auch, aber möglicherweise erreichen die Parteien mit ihren Anstrengungen genau das Gegenteil. Wer sich als Wähler nicht für voll genommen fühlt, weil er die Wahlplakate nichtssagend und das Buhlen der Kandidaten um seine Stimme peinlich findet, verspürt auch wenig Lust, an die Urne zu gehen. Die geschmeidigen Strategen in den Wahlkampfzentralen scheinen für diesen Zusammenhang völlig blind zu sein. Sie sollten auf den Schriftsteller Thomas Brussig hören, der jüngst im „Tagesspiegel“ eine Lanze für die Nichtwähler gebrochen hat. Brussig nannte den Wahlkampf die „fragwürdigste Phase einer Legislaturperiode, weil in ihm systemimmanente Idiotien zutage treten“. Insbesondere die Verwandlung von umgänglichen Persönlichkeiten in Wahlkämpfer sei ein Jammer: „Politiker sind keine schlechten Menschen. Aber mal ehrlich: Wenn ich sie im Wahlkampf erlebe, verliere ich die Lust, auch nur einen von denen zu wählen.“ (7. September 2009)

Der gesamte Beitrag von Thomas Brussig ist auf Tagesspiegel online nachzulesen.


Kulturrepublik (31)
Konsenskultur

Vor vier Jahren hatte es die Union noch offen gelassen, ob es nach der Bundestagswahl weiterhin einen Staatsminister für Kultur im Kanzleramt geben würde. Als einzige Partei im Bundestag stellte sie dessen Existenzberechtigung in Frage. Nach der Wahl fiel das sozialdemokratisch geprägte Amt an den erfahrenen CDU-Politikfunktionär Bernd Neumann, der sich als geschickter Anwalt von Kulturinteressen beim Finanzminister und Bundestag bewährte. Mittlerweile hat die Union zugelernt: Vor der anstehenden Wahl erklärt sie das Amt für unverzichtbar. Das geht aus den Wahlprüfsteinen des Deutschen Kulturrats hervor. Kultur als Staatsziel im Grundgesetz lehnt die Union weiterhin ab. In Fragen des Urheberrechts und der wirtschaftlichen Absicherung der Künstler haben sich die Parteien noch nicht klar festgelegt, da gibt es zwar Differenzen, aber keine verfestigten Gegensätze. Neumanns unideologische und effiziente Amtsführung hat die Kulturpolitik vollends neutralisiert. Mangels klarer Alternativen taugt sie nicht mal mehr als Zünglein an der Waage von Wahlentscheidungen. (31. August 2009)

www.kulturrat.de

Kulturrepublik (30)
Fruchtbringendes

Heute vor 392 Jahren, am 24. August 1617, gründeten Adelsleute in Weimar die „Fruchtbringende Gesellschaft“ mit dem Ziel, „unsre edle Muttersprache, welche durch fremdes Wortgepränge wässerig und versalzen worden, hinwieder in ihre uralte gewöhnliche und angeborne deutsche Reinigkeit, Zierde und Aufnahme einzuführen“. Die älteste Gesellschaft zur deutschen Sprachpflege löste sich um 1680 auf, erfährt jedoch im wiedervereinigten Deutschland ein wachsendes Interesse. Eine Forschungsstelle an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften arbeitet seit Jahren an einer kritischen Ausgabe Schriften und Briefe, die aus dem Umfeld der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ überliefert sind. „Mein schönstes Spracherlebnis“ lautet das Thema eines Schülerwettbewerbs, den eine vor zwei Jahren von Sprachschützern neu gegründete „Neue Fruchtbringende Gesellschaft“ auslobt. Und ein „Fruchtbringendes Wörterbuch“ im Internet lädt dazu ein, überflüssige Fremdwörter einzudeutschen: Wozu brauchen wir News und Facts, solange es Nachrichten und Tatsachen gibt? (24. August 2009)


Kulturrepublik (29)
Kunst am Bau

Wer im Aufwachraum der ambulanten Chirurgie am Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus die Augen aufschlägt, sieht verschlungene blaue Pflanzenmuster. Der Künstler Uwe Schäfer malte sie an die Decke, um den Patienten den Übergang in den Wachzustand zu erleichtern. Sein Werk befindet sich an einem Ort, der nicht ohne weiteres zugänglich ist, so wie  viele Arbeiten, die als „Kunst am Bau“ realisiert wurden. 1950 beschloss der Bundestag, rund ein Prozent der Bausumme bei öffentlichen Aufträgen für künstlerische Arbeiten zu reservieren. Was seither an Kunstwerken in Behörden, Schulen oder Kindergärten entstand, wurde nie vollständig erfasst. Der Deutsche Künstlerbund hat nun damit begonnen, eine Internet-Datenbank aufzubauen, die allerdings nur Kunst-am-Bau-Projekte seiner Mitglieder erfasst. Wie nötig so ein öffentliches Archiv ist, beweist das Verschwinden der Kartoffelbeete vor der Alten Staatsgalerie, mit denen das Berliner Künstlerduos Stih & Schnock an den denkwürdigen Satz eines württembergischen Parlamentariers erinnerte: „Mir brauchet koi Konscht, mir brauchet Grombiere!“ (17. August 2009)


Kulturrepublik (28)
Mauerkunst

Besonders den Künstlern hat Berlin verdanken, dass die Stadt zum 48. Jahrestag des Mauerbaus am kommenden Donnerstag noch nennenswerte Reste der DDR-Grenzanlage vorweisen kann. Die East Side Gallery, der längste Mauerrest, wurde durch eine Bemalungsaktion von 118 Künstlern aus 21 Ländern vor dem Abriss gerettet. Ein Wachtturm am Schlesischen Busch überdauerte als „Museum der verbotenen Kunst“. Im Regierungsviertel pflanzte der Künstler Ben Wagin sein „Parlament der Bäume“ in den Todesstreifen, ein Teil davon ist heute Mauergedenkstätte des Bundestages. Bunt bemalte Mauerteile wurden nicht zu Straßenbelag zerschreddert, sondern in alle Welt verschenkt und verkauft. Die Kunst hatte die Macht, die Mauer von einem verhassten Instrument der Unterdrückung in ein Symbol der Freiheit zu verwandeln. (10. August 2009)


Kulturrepublik (27)
Bahnhof Bundestag



U-Bahn fahren ist zu riskant für die Kanzlerin. Sicherheitshalber kutschiert eine gepanzerte Limousine Angela Merkel von Termin zu Termin. Die Regierungschefin wird von der Eröffnung eines nagelneuen U-Bahnhofs direkt vor dem Kanzleramt am kommenden Wochenende wenig merken. Dabei ist die Linie zwischen Brandenburger Tor und Hauptbahnhof längst als „Kanzler-U-Bahn“ in die Planungsgeschichte der Hauptstadt eingegangen. 15 Jahre lang dämmmerte der Bahnhofsrohbau im märkischen Sand, mangels Verkehrsanbindung wurden hier zwischenzeitlich Opern aufgeführt, im letzten Jahr die „Zauberflöte“ und zuvor schon das erste Singspiel über Angela Merkel. 170 Millionen Euro Zuschuss bewilligte der Bundestag für die nur 1400 Meter lange Tunnelstrecke. Auf Wunsch der Parlamentarierer heißt die neue Station im Regierungsviertel: Bundestag. (3. August 2009)


Kulturrepublik (26)
Übergangsgesellschaft

Bloß keine Bilder von der Berliner Mauer wollte die Akademie der Künste zum Jubiläum des Mauerfalls zeigen. Statt dessen sind in den alten Ausstellungssälen am Pariser Platz, die direkt an der Grenze standen und außer Künstlerateliers auch Grenztruppen beherbergten, Fotos aus der inoffziellen Kunstszene des letzten DDR-Jahrzehnts zu sehen. Eine neue Generation junger Fotografen hielt damals die Aussteiger und Oppositionellen, die Punks und Undergroundkünstler fest - ohne Staatsauftrag und relativ ungestört von der DDR-Kunstzensur. Es sind Bilder gegen das sozialistische Menschenbild, Absagen an die herrschende Ideologie. Ansichten von verfallenden Straßenzügen und trostlosen Neubauten kursierten in privaten Zirkeln, manche Motive wurden Postkarten verschickt. Sie alle dokumentierten den Autoritätsverlust des Regimes und seiner Ideologie. Die Illusionslosigkeit ins Bild zu setzen und diese Fotos in Umlauf zu bringen, war eine leise Revolte. „WIR sind das Volk“ wisperten die Bilder, zu einem Zeitpunkt, als an laute Montagsdemonstrationen noch niemand zu denken wagte. (27. Juli 2009)

Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980-1990, bis 11. 10. im Haus der Akademie der Künste am Pariser Platz 4. - www.adk.de


Kulturrepublik 25
Globalisierung mit Goethe

Auch das Goethe-Institut feiert in diesem Jahr ein rundes Jubiläum: Ab 1959 wurden ihm auf Initiative des Auswärtigen Amtes alle deutschen Kulturinstitute im Ausland angegliedert. Damit entstand ein weltumspannendes Netzwerk für den Deutschunterricht und Kulturaustausch. 1959 war auch das Gründungsjahr des Goethe-Instituts in New Delhi und das Geburtsjahr der Inderin Padma Rao. Als Elfjährige kam sie zum ersten Mal mit dem Goethe-Institut in Kontakt, lernte Deutsch und durfte als Klassenbeste mehrfach in die Bundesrepublik reisen. Heute ist sie Büroleiterin und Auslandskorrespondentin des „Spiegel“ in New Delhi. In den letzten Monaten, erzählte sie beim parlamentarischen Sommerfest des Goethe-Instituts in Berlin, sei wegen der Wirtschaftkrise die Zahl der Auslandsflüge stark zurückgegangen, allein die Berlinflüge hätten um 80 Prozent zugenommen. Deutschkenntnisse sind eine gefragte Zusatzqualifikation auf dem indischen Arbeitsmarkt. Das jüngste Goethe-Institut in Nowosibirsk nahm im März seine Arbeit auf: eine langfristige Investition wie das Pflanzen eines Baums, der nach Jahren nicht mehr aus der Landschaft wegzudenken ist. (20. Juli 2009)


Kulturrepublik (24)
Die Kunstrepublik baut



An der Nahtstelle zwischen früherem West- und Ostberlin gibt es 20 Jahre nach der Maueröffnung noch große unbebaute Brachen, auf denen es jetzt im Sommer üppig grünt und blüht. Ein fünf Hektar großes Stück des Todesstreifens erklärte  die Künstlervereinigung „KUNSTrePUBLIK“ vor drei Jahren zum „Skulpturenpark Berlin Zentrum“ und realisiert dort Kunstprojekte auf Zeit, soweit es die Grundeigentümer und Bauinvestoren zulassen. Derzeit sägt, bohrt und hämmert der Künstler Christoph Ziegler den ganzen Tag ziemlich einsam zwischen hohem Gesträuch. Er errichtet eine avantgardistische Holzhütte auf fünfeckigem Grundriss,  eine sparsame Alternative zu den rundum emporwachsenden Betonimmobilien für Wohlhabende. Die französischen Künstler Arnaud Elfort und Eden Morfaux haben Anfang Juli bereits einen schwarzen Pavillon hinterlassen, bewehrt mit allerlei Vorrichtungen gegen das Verweilen und Eindringen. Die Werke sind Teil der Projektreihe „Wunderland“ in diesem Sommer. Vorerst bleibt der Skulpturenpark eine Zone, die zum Nachdenken über den Umgang mit Raum provoziert, in einer vielerorts gedankenlos gebauten Stadt. (13. Juli 2009)

www.kunstrepublik.de

Kulturrepublik (23)
Mit Pop ins Amt

Eine selten präzise Kindheitserinnerung: Die ganze Familie sitzt auf dem Sofa vorm Fernseher und guckt die ZDF-Show „Drei mal Neun“ mit Wim Thoelke. Überraschungsgast der völlig unpolitischen Sendung ist der Bundesaußenminister, zugleich Stellvertreter des Bundeskanzlers. Umrahmt von einem Altherrenchor und einer Band schmettert Walter Scheel das gute alte Volkslied „Hoch auf den gelben Wagen“ in einer modischen Popversion. Gelb ist seine Parteifarbe, das passt, überdies dient die Plattenaufnahme einem guten Zweck: Sie spült Geld in die Kassen der gemeinnützigen „Aktion Sorgenkind“. Wochenlang führt Scheel 1973 die Hitparaden an, es lässt sich gar nicht vermeiden, dass er im folgenden Jahr zum Bundespräsidenten gewählt wird. Was immer er in diesem Amt gesagt hat, ist vergessen, seine helle, kräftige Stimme nicht. 2004 durfte Scheel eine Goldene Schallplatte für eine Million verkaufte Tonträger entgegen nehmen, zwei Jahre später folgte die Ehrung in Platin. Singen hält fit, auch in hohen Ämtern: Übermorgen, am 8. Juli wird Walter Scheel 90 Jahre alt. (6. Juli 2009)


Kulturrepublik (22)
Krise, nein danke!

„Wolfsburg liegt näher bei Dubai als bei Berlin“ lautet ein frecher Spruch, mit dem das Kunstmuseum Wolfsburg sein 15-jähriges Bestehen feiert. Da ist was dran: Die Retortenstadt hat sich nicht nur den Titel des deutschen Fußballmeisters gekrallt, sondern auch viel Geschick beim Aufbau einer kulturellen Infrastruktur mit überregionaler Ausstrahlung bewiesen. Davon könnte die Hauptstadt, die vergeblich einen Privatinvestor für eine städtische Kunsthalle nicht vom Fleck sucht, noch lernen. Am Arabischen Golf investieren ehrgeizige Scheichs in Kulturprojekte, weil das Ende des Ölsegens absehbar ist, am Mittellandkanal haben VW-Manager rechtzeitig begriffen, dass eine Stadt von ihrer Autofabrik allein nicht ewig leben kann. Der laufende
Betrieb des Kunstmuseums ist über eine Stiftung abgesichert, von der Wirtschaftskrise verspricht sich Museumsdirektor Markus Brüderlein sogar Vorteile: Durch sinkende Preise auf dem Markt für Gegenwartskunst würden Ankäufe erleichtert. Einen Erwerbungsetat allerdings hat das Haus nicht mehr. In die aktuelle Sammlungspräsentation zum 15. Geburtstag wurden 15 Bilder untergemischt, für deren Ankauf Sponsoren gesucht werden. Die begleitende Ausstellung junger Künstler spottet der Krise mit einem aufmunternden Motto: „Leichtigkeit und Enthusiasmus“. (29. Juni 2009)

www.kunstmuseum-wolfsburg.de


Kulturrepublik (21)
Kein Paradies ohne Schlangen

„Keine Kartoffeln im Keller, / Keine Kohlen im Sack, / Es lebe der 20. Jahrestag.“ Einen so schönen Vers wie zum 20.Geburtstag der DDR hat der Volksmund zum  20. Jubiläum ihres Untergangs noch nicht hervorgebracht. Überhaupt lässt die sprachschöpferische Leistung der deutschen Wiedervereinigung zu wünschen übrig. Die „Mauerspechte“ und der „Wendehals“ sind schon wieder ausgestorben. Kein politischer Witz aus dem wiedervereinigten Deutschland hatte das Zeug zu einem Klassiker. Anders als in einer funktionierenden Demokratie war in der DDR oft der Sprachwitz das einzige Ventil für politische Unzufriedenheit. „Kein Paradies ohne Schlangen“, seufzte der Bürger beim endlosen Anstehen. „Warum ist die Banane krumm? Weil sie einen Bogen um die DDR macht.“ (22. Juni 2009)

Helmut Caspar: DDR-Lexikon. Michael Imhof Verlag 2009, 396 Seiten, 9,95 Euro



Kulturrepublik (20)
Lobbyplanet Berlin

Heute findet im Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung statt, bei der es um eine schärfere Kontrolle des Lobbyismus in der Hauptstadt geht. Schätzungsweise 5000 Menschen sind um den Reichstag nur damit beschäftigt, die Interessen von Verbänden und Unternehmen zu vertreten, insbesondere gegenüber Abgeordneten und Medienleuten. Wie dabei politische Entscheidungen beeinflusst werden, bleibt weitgehend undurchschaubar. Denn anders als in den USA gibt es hierzulande kein zentrales Lobbyregister, das für Transparenz sorgt. Doch inzwischen hat sich eine Lobby gegen den Lobbyismus formiert, die zu ungewöhnlichen Maßnahmen greift. Die Initiative „Lobbycontrol“ veranstaltet rund um den Reichstag Stadtspaziergänge, die darüber aufklären, welche Interessen sich hinter den Adressen von Unternehmensniederlassungen, PR-Agenturen oder Rechtsanwaltsbüros verbergen. Inzwischen liegt auch ein hübscher gedruckter Reiseführer („Lobbyplanet Berlin“, 168 Seiten, 7.50 Euro) vor. Manchen Lobbyisten ist diese unkontrollierte Öffentlichkeit unangenehm: Während einer Stadtführung letzte Woche sahen die Teilnehmer etliche  versteinerte Gesichter, als sich zum Dienstschluss die Türen der Bürohäuser  öffneten. (15. Juni 2009)
www.lobbycontrol.de



Kulturrepublik (19)
Demokratiebedarf



Wie humorlos sähen deutsche Geschichtsbücher aus, gäbe es nicht die politischen Fotomontagen von John Heartfield und Klaus Staeck. Was der eine für die Weimarer Republik war, ist der andere für die Bundesrepublik. Zwei Agitatoren, die zu Chronisten wurden, indem sie politische Themen ihrer Zeit treffsicher ins Bild setzten. Staeck, der 1956 aus der DDR floh und seit 1960 SPD-Mitglied ist, legt allerdings Wert darauf, dass er nie ein überzeugter Kommunist war wie Heartfield. Seine satirischen Plakate gegen Franz-Josef Strauß und die BILD-Zeitung, gegen Rüstungsindustrie und Umweltzerstörung waren Gebrauchsgrafik für die demokratische Meinungsbildung. Staeck selbst bezeichnet solche Bilder als „Demokratiebedarf“. Die Langlebigkeit vieler Arbeiten spricht für den politischen Weitblick des Künstlers und entlarvt erst recht die Kurzatmigkeit der Tagespolitik. Auf das Foto vom Aktenköfferchen eines Bankers hat Staeck eine scharfe Axt und ein Sprüchlein montiert: „Wir machen mit ihrem Geld was wir wollen“. Dieses Plakat ist zwölf Jahre alt - und mittlerweile ebenfalls reif für die Schulbücher. (8. Juni 2009)

„Schöne Aussichten“ - unter diesem Titel zeigt die Berlinische Galerie bis 31. August eine große Staeck-Retrospektive, parallel dazu „Zeitausschnitte“ von John Heartfield. Kataloge sind bei Steidl (24 Euro) und Hatje Cantz (19,80 Euro) erschienen.


Kulturrepublik (18)
In den Händen der Profis

„Die kulturelle Substanz ... darf keinen Schaden nehmen“, forderte Artikel 35 des deutsch-deutschen Einigungsvertrages für das Gebiet der ehemaligen DDR. Doch von 78 Verlagen aus dem Osten sind nur eine Handvoll heil in der Marktwirtschaft angekommen. Alte und neu gegründete Verlage aus den neuen Bundesländern steuern heute weniger als ein Prozent zum Umsatz der Buchbranche bei. Warum das so ist, hat der Verleger Christoph Links nun wissenschaftlich untersucht. Er fand heraus, dass DDR-Altverlage, die - wie Aufbau - von branchenfremden Unternehmern übernommen werden, weit bessere Überlebenschancen hatten als solche, die von der Treuhand an westdeutsche Verlagsprofis verkauft wurden. Bei den Westverlagen setzte sich letztlich das Eigeninteresse durch, drohende Konkurrenz aus dem Osten aufzusaugen und zu liquidieren. Manchmal ist ein Stück Kulturerbe in den Händen dilettierender Liebhaber besser aufgehoben als bei knallhart kalkulierenden Profis. (25. Mai 2009)


Kulturrepublik (17)
Einen Kaiser, bitte!

Am 18. Mai 1953 weihte Bundespräsident Theodor Heuss das Einheitsdenkmal am Deutschen Eck in Koblenz ein. Damit hatte die junge Bundesrepublik für die monumentalen Reste des Kaiser-Wilhelm-Denkmals an der Moselmündung eine bequeme Verwendung gefunden. Einen „Faustschlag aus Stein“ nannte Tucholsky das 37 Meter hohe Reiterstandbild. Am erhaltenen Sockel wurden 1953 die Wappen der Bundesländer angebracht, eine Bundesflagge ersetzte die im Krieg schwer beschädigte Reiterfigur. Nach der Wiedervereinigung kehrte Kaiser Wilhelm als Kopie an seinen Platz zurück. Am Berliner Schlossplatz steht noch der Unterbau eines ähnlich gewaltigen Wilhelmsdenkmals aus der Kaiserzeit, darauf soll nun ein neues Freiheits- und Einheitsdenkmal errichtet werden. Warum nicht gleich eine Replik des wilhelminischen Nationaldenkmals mit Reiterstandbild? Damit wäre der Weg geöffnet zu einem Freiheitsdenkmal an passenderem Ort. (18. Mai 2009)


Kulturrepublik (16)
Parlament der Bäume

„Man kann mit Politik keine Kultur machen, aber vielleicht mit Kultur Politik“, diesen hoffungsfrohen Satz von Theodor Heuss malte der Künstler Ben Wagin 1990 auf ein Stück Berliner Mauer in der Nähe des Reichstages. Davor pflanzte er mit Freunden ein „Parlament der Bäume“ in den ehemaligen Todestreifen zwischen Ost und West. Die Hauptstadtplaner scherten sich jedoch nicht um die illegale Grünanlage. Hunderte von frisch gepflanzten Bäumen wurden bald wieder abgeholzt, um die Gebäude für die Bundespressekonferenz und die Bundestagsbibliothek zu errichten. Dazwischen blieb ein Torso des Baumparlaments mit Mauerresten erhalten, die jedoch nicht unter Denkmalschutz gestellt wurden, weil das Grundstück als Reservefläche für den Bundestag vorgesehen war. Dieser Tage haben sich die Behörden des Bundes und der Stadt Berlin geeinigt, das „Parlament der Bäume“ zu erhalten: Berlin stellt Lottomittel zur Verfügung, der Bund kümmert sich um Bewachung und Pflege, und er gibt als Grundeigentümer eine Bestandsgarantie - allerdings nur für zehn Jahre. (11. Mai 2009)


Kulturrepublik (15)
Kunst und „Bild“

60 Jahre, 60 Kunstwerke: Diese simple Ausstellungsidee zum Verfassungsjubiläum hätte im ernsthaften deutschen Kunstbetrieb wenig Chancen gehabt, käme sie nicht von der „Bild“-Zeitung. Das Blatt war in den vergangenen Jahrzehnten nicht unbedingt ein Forum zeitgenössischer Kunst, derzeit aber präsentiert es täglich ein anderes Werk, von Willi Baumeister bis Neo Rauch, von Anselm Kiefer bis Jonathan Meese. Die Auswahl besorgte ein Kuratorium mit renommierten Experten wie Götz Adriani und Peter Iden. Sie brachten eine halbwegs ansehnliche Jubiläumsausstellung im Martin-Gropius-Bau zusammen, die von der Bundeskanzlerin vergangenen Donnerstag eröffnet wurde. Erfolgreich vermarktet sich „Bild“ im 60. Jahr der Bundesrepublik als Volksbildungsanstalt und Medium der Hochkultur. In früheren Jahrzehnten wäre das schwer vorstellbar gewesen, da war „Bild“ ein klares Feindbild für ernsthafte Künstler und Kritiker. Fragt sich nur, ob das Blatt so viel besser geworden ist, dass es die Zuwendung verdient. Oder ob die kritische Intelligenz in der Bundesrepublik vor der Medienmacht von „Bild“ schlicht kapituliert hat. (4. Mai 2009)


Kulturrepublik (Kommentar)
Eigentum verpflichtet, auch wenn es sich um Kulturschätze handelt

Es ist ein Hilfeschrei, den die Leiter der wichtigsten Archive und Bibliotheken in Deutschland gestern an den Bundespräsidenten gerichtet haben. Das schriftliche Kulturerbe der Nation droht zu zerbröseln, zu verschimmeln oder ein Opfer unzulänglicher Aufbewahrung zu werden - wie beim Brand der Weimarer Anna Amalia Bibliothek und dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Denn die Mittel, die für den Erhalt der schriftlichen Überlieferung zur Verfügung stehen, reichen hinten und vorne nicht. Allein der Alterungsprozess säurehaltigen Papiers aus der Zeit von 1850 bis 1990 bedroht 60 Prozent des staatlichen Archivgutes, das sind 960.000 Regalmeter oder 9,6 Milliarden Blatt. In den Bibliotheken warten zudem 60 Millionen geschädigter Druckschriften darauf, restauriert und konserviert zu werden - damit wenigstens ein Originalexemplar für die Nachwelt erhalten bleibt.

Ob Bundesarchiv oder Deutsche Nationalbibliothek, ob Landesarchiv Baden-Württemberg oder Marbacher Literaturarchiv: Sie alle fühlen sich von der föderalen Kulturpolitik im Stich gelassen und haben sich deshalb zur „Allianz Schriftliches Kulturgut“ zusammengeschlossen. Die gestrige Übergabe einer Denkschrift an Horst Köhler in Schloss Bellevue sollte vor allem den Kulturpolitikern in den Ländern und im Bund zu denken geben. Denn es fällt in ihre Zuständigkeit, nicht die des Bundespräsidenten, für die Erhaltung des Kulturerbes Sorge zu tragen. Die Allianz verweist darauf, dass es sich dabei nicht - wie bei der Kulturförderung - um eine freiwillige Leistung handelt. Für die wertvollen schriftlichen Kulturzeugnisse in Landes- und Bundesbesitz gilt das Grundgesetz, also: Eigentum verpflichtet!

Die Rettung der Originale lässt sich nicht umgehen, indem man die Bestände einfach digitalisiert, darauf haben sich die Hüter des Erbes verständigt. Die Unikate sind für die Forschung unersetzlich, die Digitalisierung trägt zu ihrer Schonung und Erhaltung bei. Konservierung und Digitalisierung müssen parallel erfolgen. Beides muss national unter Federführung des Bundes organisiert werden. Die Museen und Archive fordern pro Jahr 10 Millionen zusätzlich vom Bund für die Erhaltung ihrer Bestände - das entspräche etwa einer Verdopplung der Summe, die ihnen bisher für diesen Zweck zur Verfügung steht. Gemessen an den Milliarden, die der Bund gerade für die Verschrottung von Altautos verpulvert, eine lächerlich geringe Summe. Schließlich geht es um den Erhalt unersetzlicher Dokumente und um das Gedächtnis der Nation. (29. April 2009)


Kulturrepublik (14)
Kulturartikel

Der heranrückende 60. Geburtstag des Grundgesetzes beschert uns außer Weihrauch wenigstens eine kleine Verfassungsdebatte. Ehemalige DDR-Bürgerrechtler wie Jens Reich erinnern an Artikel 146, der auf eine künftige Verfassung verweist. Sie sollte, so die Schöpfer des Grundgesetzes, vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen werden. Wäre es anläßlich der Wiedervereinigung dazu gekommen, hätte die Kulturförderung heute sicher Verfassungsrang. „In den Haushalten des Bundes, der Länder und der Träger der Kommunalautonomie sind die dafür erforderlichen Mittel vorzusehen“, heißt es im Artikel 20 des Entwurfs für eine neue DDR-Verfassung, den eine Arbeitsgruppe des „Runden Tischs“ im April 1990 vorlegte. Die staubtrockene Formulierung war eine Gegenreaktion auf das kämpferische Pathos der DDR-Verfassung von 1968. Eine „sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes“ sollte demnach Staatsziel der DDR sein: „Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegsführung und der Herabwürdigung des Menschen dient.“ (27. April 2009)


Kulturrepublik (13)
Weimars Erbe

Am Wochenende stimmen die Berliner in einem Volksentscheid über die Gretchenfrage ab: „Nun sag, wie hast du´s mit der Religion?“ An staatlichen Berliner Schulen ist Ethikunterricht Pflicht, Religionsunterricht nur ein freiwilliges Zusatzangebot. Eine Bürgerinitiative will nun eine Gleichstellung von Ethik und Religion erzwingen. Sie verweist auf Artikel 7 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ... ordentliches Lehrfach“. Für Berlin galt der Artikel allerdings nie, weil dort bereits 1948 eine andere Regelung getroffen worden war. Die pragmatischen Väter des Grundgesetzes verzichteten darauf, das Verhältnis von Staat und Religion neu zu definieren. Sie übernahmen wortwörtlich die einschlägigen Artikel der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die eine saubere Scheidung von Staat und Religion anstrebte. Demnach muss kein Bürger seine religiösen Ansichten offenlegen. Niemand darf „zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden“. Das verfassungsrechtliche Erbe von Weimar schützt die Bundesbürger vor Übergriffen religiöser Fundamentalisten. Daran ändert sich nichts, egal wie die Berliner am Sonntag abstimmen. (20. April 2009)


Kulturrepublik (12)
Feiertagsregelungen

Hätte nicht die Bundesrepublik die DDR geschluckt, sondern umgekehrt, könnten wir am kommenden Sonntag auf einen Schlag vier Feiertage begehen. Der Ostersonntag fiele dann zusammen mit dem „Tag der jungen Techniker und Naturforscher“ und dem „Internationalen Tag der Luft- und Raumfahrt“. Denn am 12. April 1961 schoss die Sowjetunion mit Juri Gagarin den ersten Menschen in den Weltraum. Außerdem war der 2. Sonntag im April der „Tag des Metallarbeiters“. Auf das Ostereiersuchen müssten die Kinder in unserer fiktiven Gesamtdeutschen Sozialistischen Republik (GSR) nicht verzichten, dieser Brauch wurde schließlich auch in DDR-Zeiten gepflegt. Abgeschafft hat die SED jedoch seit 1968 den Ostermontag, um den Produktionsausfall zu begrenzen und die Kirchen in die Schranken zu weisen. Im Zuge der friedlichen Revolution wurde diese Beschneidung der Osterzeit rückgängig gemacht, seit 1990 ruht am Ostermontag wieder in ganz Deutschland die Arbeit. (6. April 2009)


Kulturrepublik (11)
Willy für die Welt

Im Frühjahr 1959 bekommt die Bundesrepublik international ein neues Gesicht. Willy Brandt, gerade von den Westberlinern als Regierender Bürgermeister wiedergewählt, wird von der Bundesregierung auf Weltreise geschickt. Er sonnt sich am Strand von Honolulu, trifft den UN-Generalsekretär, den japanischen Kaiser und den US-Präsidenten. Die 30-tägige Reise ist ein schlauer Propandaschachzug im Kalten Krieg, sie richtet sich gegen sowjetische Forderungen nach einem Rückzug der Alliierten aus Westberlin. Auf internationalem Parkett versprüht Brandt größeren Charme als der greise Kanzler Adenauer. Brandt schafft es auf die Titelseite des „Time Magazine“ und wird sogar von seinem Gegenspieler Chruschtschow zum Gespräch eingeladen. Zwei Tage vor Brandts Aufbruch zur Weltreise hat ihm Bundespräsident Theodor Heuss noch rasch einen Verdienstorden an die Brust geheftet: „Damit sie im Ausland nicht so nackt dastehen.“ (30. März 2009)


Kulturrepublik (10)
Bundeskonzerthalle

Von außen sieht das Berliner Kanzleramt mehr nach einem Kulturpalast als nach einem Regierungsgebäude aus. Der Staatsminister für Kultur hat dort sein Büro eine Etage über der Kanzlerin, was Bernd Neumann sehr bequem findet. So müsse er nicht lange bei der Chefin um Termine bitten, erklärte er neulich der „Rheinischen Post“. Leise beginnt der Wahlkampf, bei dem es auch um die Kulturhoheit in der Machtzentrale geht. SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier will offenbar in die Fußstapfen Gerhard Schröders treten, der Schriftsteller zu Lesungen und Snacks ins Kanzleramt einlud. Dem Klassikmagazin „Crescendo“ hat Steinmeier verraten, dass er sich dort ein Neujahrskonzert wünscht, sollte er das Kommando übernehmen. Die Stille in den meist menschenleeren Fluren und Hallen des Riesenbaus muss schwer zu ertragen sein. Der eingeladene Schriftsteller Wladimir Kaminer fühlte sich im Kanzleramt verloren wie in einer ägyptischen Pyramide. Und Christoph Schlingensief hat während der letzten Berlinale signalisiert, dass er dort gern einen Film drehen würde: „Weil es der schlimmste Ort ist, den ich mir vorstellen kann.“ (23. März 2009)


Kulturrepublik (09)
Staatsfernsehen, nein danke!

Der heftige Streit um die Einmischung des CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch in die Personalpolitik des ZDF erinnert an die Geburtswehen des Senders. Vor 50 Jahren plante die Adenauerregierung ein Bundesfernsehen als Konkurrenz zum ARD-Fernsehen der Länder. Sie beauftragte die Bundespost mit dem Aufbau eines Sendernetzes und gründete eine Deutschland-Fernsehen GmbH. Nach einer kräftigen Anschubfinanzierung durch den Staat sollte sich der Privatsender durch eigene Einnahmen tragen. Der SPD-Abgeordnete Gustav Heinemann geißelte dieses Projekt als „Staatsfunk, schlimmer als wir ihn im Dritten Reich hatten“. Autoren wie Böll, Enzensberger und Grass kündigten einen Boykott des „Adenauer-Fernsehens“ an. Vier SPD-geführte Bundesländer zogen vors Bundesverfassungsgericht und stoppten den geplanten Sendebeginn am 1. Januar 1961 durch eine einstweilige Verfügung. Zwei Monate später stellten die Richter klar, dass der Bund die Kulturhoheit der Länder verletzt habe, das Vorhaben sei verfassungswidrig. Aus den Trümmern des Adenauerprojekts bastelten die Länder dann ihren zweiten öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal, der am 1. April 1963 offiziell in Betrieb ging. (16. März 2009)


Kulturrepublik (08)
Jahrgang 1929

Heiner Müller, Christa Wolf, Günter Kunert, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf, Liselotte Pulver ... die Liste der in diesem Jahr von den Feuilletons abzufeiernden 80. Geburtstage ist ein Alptraum für die Redakteure. Man will nicht undankbar sein, der Jahrgang 1929 hat in der deutsch-deutschen Nachkriegskultur mehr bewegt als jeder andere. Wieso eigentlich? Diese Generation ist in der Nazizeit aufgewachsen, aber nicht mehr im Krieg verheizt worden. Sie war zu jung, um sich an Hitler mitschuldig fühlen zu müssen, und hatte zu viel erlebt, um die Katastrophe vergessen zu können. Die späte Geburt war eine Gnade, entließ die 1929 Geborenen jedoch nicht aus der Verantwortung, lebenslang für ein besseres Deutschland zu streiten. Sie hatten Glück - aber sie haben auch etwas daraus gemacht. (9. März 2009)


Kulturrepublik (07)
Ärger mit dem Vatikan

Heute vor 70 Jahren wählte die Kardinalsversammlung im Vatikan einen neuen Papst: Pius XII., der vor allem für sein öffentliches Schweigen zum Holocaust hoch umstritten bleibt. Als 1963 Rolf Hochhuth in seinem Stück „Der Stellvertreter“ das Verhalten des Papstes anprangerte und wütende  Proteste von Katholiken provozierte, musste auch die Bundesregierung Farbe bekennen. Am 3. Mai 1963 entschuldigte sich Außenminister Schröder (CDU) vor dem Bundestag für den ungeratenen Autor. Er rühmte die Verdienste des Papstes bei der Rettung verfolgter Juden und der Wiedereingliederung Deutschlands in die Staatengemeinschaft nach dem Krieg: „Dies macht die Herabsetzung seines Andenkens gerade von deutscher Seite besonders unverständlich und bedauerlich.“ Umso bemerkenswerter ist es, wenn heutzutage eine CDU-Kanzlerin den Vatikan öffentlich unter Druck setzt, sich von Holocaust-Leugnern im katholischen Klerus zu distanzieren. (2. März 2009)


Kulturrepublik (06)
Komponisten im Krakehlen

„Der Carlo zelebriert wie ein Gedicht / die hohen Worte seines Staatsfragments / auf jedem Comma wuchtet sein Gewicht - / Jetzt die Cäsur, denn fühlsam die Cadenz“, so rühmte Thedor Heuss die Arbeit seines SPD-Kollegen Carlo Schmid am Grundgesetz. Als es vollendet war, ließ Heuss sein „ABC des Parlamentarischen Rates“ für die Ratsmitglieder drucken. Besonders spannungsgeladen fiel sein Gedicht über den Buchstaben K aus. Darin porträtierte der liberale Heuss die in den Nachkriegsjahren tonangebenden Kontrahenten Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD): „Kurt und Konrad, diese diese beiden / keiner konnte keinen leiden, /.../ Komponisten im Krakehlen. / Kinder, lasset Euch empfehlen, / Kürzet, da nun jeder funkte, / Eure Kunst der Kontrapunkte.“ (23. Februar 2009)

Parlamentarische Poesie, herausgegeben von der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart 1999, 48 Seiten, 3 Euro


Kulturrepublik (05)
Parlamentarische Elegie

Rhetorische Kunststücke sind im Bundestag eher selten. Wer gar ans Rednerpult träte, um selbstverfasste Gedichte  vorzutragen, würde von den Prosaisten im Plenum vermutlich gar nicht verstanden. Im Parlamentarischen Rat, dem Vorläufer des Bundestages, wehte ein anderer Geist. „Musen, o helfet! Seid huldreich o Töchter des donnernden Gottes, / lasst das Pierische Tal, kommt zu den Ufern des Rheins“, mit solchen Worten trat der SPD-Fraktionsvorsitzende Carlo Schmid vor seine Kollegen. „Gilt es doch nunmehr den Lobpreis von Helden zu singen, die mehr noch / Ruhm sich erwarben als die einstens nach Troja geschifft!“ Dass die Helden von Bonn mit dem Grundgesetz tatsächlich ein ein Ruhmesblatt der deutschen Geschichte schreiben würden, war im Winter 1948/49, als Schmid seine „Parlamentarische Elegie“ vortrug, noch nicht sicher. Im letzten Vers vergleicht er das politische Geschäft mit der Mühsal eines Galeerensklaven auf seiner Ruderbank. (16. Februar 2009)


Kulturrepublik (04)
Mir san mir

Wir befinden uns uns im Jahr 2009 n. Chr. Ganz Deutschland feiert 60 Grundgesetz... Die ganze Bundesrepublik? Nein! Ein unbeugsamer Völkerstamm im Süden des Landes hört nicht auf, Widerstand gegen die Verfassung zu leisten. Bayern war 1949 das einzige Bundesland, dessen Länderparlament gegen das Grundgesetz stimmte. Die CSU-Mehrheit fand es zu wenig katholisch und vor allem nicht föderal genug. Sich deswegen von der Bundesrepublik abspalten, sprich ins eigene Fleisch schneiden, wollten die schlitzohrigen Bayern aber auch nicht. In einer zweiten Abstimmung bekräftigte der Landtag, die ungeliebte Verfassung anzuerkennen, wenn zwei Drittel der anderen Bundesstaaten zustimmten. Auf ein kraftvolles Ja zum Grundgesetz aus dem Süden jedoch wartet der Rest der Republik bis heute vergebens.  (9. Februar 2009)


Kulturrepublik (03)
Kunst ohne Dunst

Dass in Kunstausstellungen nicht gequalmt werden darf, um die wertvollen Exponate zu schonen, sehen auch die härtesten Raucher ein. Umgekehrt wird kein Nichtraucher den Künstlern das Qualmen an ihrem Arbeitsplatz verbieten wollen, sei es die Bühne, das Atelier oder der Schreibtisch, denn darunter könnte die künstlerische Produktivität leiden. Ein Grenzfall sind Orte künstlerischer Geselligkeit. Striktes Rauchverbot in der Theaterkantine? Das wäre für alle gesünder, könnte aber zu einer Kreativitätsbremse werden. Hätten sich Brecht oder Heiner Müller das Zigarrerauchen bei Sitzungen der Berliner Akademie der Künste verbieten lassen? Schwer vorstellbar. Aber die Zeiten ändern sich. An den Eingängen des Akademiegebäudes im Berliner Tiergarten weisen unübersehbare Schilder auf das vom Bundestag verabschiedete Bundesnichtraucherschutzgesetz (BNichtrSchG) hin: „Damit besteht in Einrichtungen des Bundes Rauchverbot.“ Derart sorgt das Parlament nicht unbedingt für gute Laune, aber für eine kleine Lebensverlängerung verdienter Künstler. (2. Februar 2009)


Kulturrepublik (02)
Nacktkultur im Bundestag

In Artikel 5 garantiert das Grundgesetz die Freiheit der Kunst. Kaum war es 1949 in Kraft getreten, da bastelte die Adenauerregierung schon an einem Gesetz, das  die Jugend vor „Schmutz und Schund“ schützen sollte. Insbesondere die „öffentliche Werbung durch Fotoaufnahmen nackter Männer oder Frauen“ stelle eine „vermeidbare sittliche Gefahr“ dar, behauptete die Regierung. Zu den schärfsten Kritikern des Gesetzes zählte Erich Kästner. Auf einer Anhörung als Sachverständiger in Bonn im Jahr 1950 argumentierte er, dass die Verrohung der Jugend kein Problem der Pädagogik, sondern der wirtschaftlichen Not sei. Mit der Gesetzesinitiative lenke die Regierung nur von drängenderen Problemen ab. Es gehe um ein „Sondergesetz zur Entmündigung moderner Menschen“. Trotz heftiger Proteste trat das „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ 1953 in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht erklärte es 1971 für teilweise verfassungswidrig. Insbesondere von „Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben“ gehe keine spezielle Gefahr für Jugendliche aus, so die Richter, das Grundrecht auf freie Information gehe vor. (12. Januar 2009)


Kulturrepublik (01)
Staatsbesitz

Der Staat muss für alle Katastrophen gewappnet sein. Zum Beispiel könnte mitten im Januar die Heizungsanlage im Kanzleramt ausfallen. Während
eine Spezialfirma nach dem Systemfehler sucht, schiebt sich die pragmatische Kanzlerin eine Wärmflasche unter die Füße. Das ist die Stunde des Referats Bildende Kunst im Kanzleramt, das dem Kulturstaatsminister untersteht. Aus dem Kunstbesitz des Bundes zaubert er einen handlichen Holzofen samt Brennstoff herbei. Der eiserne Brennkessel hat die Form eines Ypsilons, so dass sich der mitgelieferte Stapel Astgabeln bequem verfeuern lässt. Auch zwei Schürhaken, eine Säge und eine Ascheschaufel gehören zu der Installation „Ofen zum Verbrennen von Astgabeln“ des Künstlers Andreas Slominiski, die 1998 für die Sammlung Zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland angekauft wurde. Seit 1971, damals regierte Willy Brandt, kauft eine Expertenkommission auf großen Kunstmessen für den Staat ein. Knapp eine halbe Million Euro darf sie derzeit pro Jahr ausgeben. Mittlerweile umfasst die bundeseigene Sammlung moderner Kunst 1400 Werke. Dazu gehört auch eine stattliche Bürozimmerpflanze von Peter Rösel. Stamm und Blätter eines Drachenbaums hat er aus dem grünbraunen Stoff von Polizeiuniformen  nachgeformt. Die Lebendigkeit einer Demokratie erkennt man auch an ihrem Humor. (5. Januar 2009)



© für Texte und Fotos: Michael Bienert






 
Michael Bienert
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