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Im Schorfheideviertel in Marzahn 

GARTENWELTEN
I 10 PROJEKTE IN MARZAHN-HELLERSDORF


„In weiter Ferne, so nah“ – Rede von Michael Bienert zur Ausstellungseröffnung
in der Berliner BDA Galerie am 12. September 2011


Sehr geehrte Damen und Herren,

danke für die Einladung, ein paar einführende Sätze zu dieser Ausstellung zu sprechen, trotz meiner beschränkten Kompetenz: Ich bin weder Landschaftsplaner noch Akteur noch Betroffener aus Marzahn und Hellersdorf. Ich habe trotzdem spontan zugesagt, weil ich um einen unabhängigen Blick von außen gebeten wurde. Und weil Marzahn einer der Orte war, an denen ich gelernt habe, meinem persönlichen Zugang zu unbekannten Räumen in der Stadt zu vertrauen. Als ich angefangen habe, über Berlin zu schreiben, im Sommer 1990 muss es gewesen sein, schickte mich eine „taz“-Redakteurin mit einem Reportageauftrag nach Hellersdorf und Marzahn. Ich sollte ein Bezirksporträt für einen Berlin-Reiseführer schreiben, denn die Mauer war überraschend gefallen.

Ich hatte so eine Art von Text noch nie geschrieben, ich war so weit im Osten von Berlin noch nie gewesen. Als jemand, der seit 1977 in West-Berlin lebte, lag mir diese ostdeutsche Lebenswelt so fern wie Wladiwostock. Wie die meisten Westmenschen fand ich die Hochhäuser und die breiten Magistralen in Marzahn auf den ersten Blick unwohnlich und unwirtlich, kam aber zu meinem Glück auf die Idee, einfach unangemeldet ins Rathaus von Marzahn zu gehen und zu fragen, ob mir nicht jemand etwas über das Leben in diesem Neubauviertel erzählen könne.
 
Obwohl sich das Rathaus in innerer Auflösung befand – alle schienen damit beschäftigt, ihre Büros zu räumen – fand sich sofort ein willige Gesprächspartnerin, denn in dieser Übergangszeit des Jahres 1990 war es ganz normal, dass plötzlich wildfremde Leute aus dem anderen Teil der Stadt irgendwo auftauchten und was wissen oder angucken wollten. Die junge Mitarbeiterin, die sich um mich kümmerte, zerstörte sofort meinen Eindruck, in einer lebensfeindlichen Trabantenstadt gelandet zu sein. Sie erzählte von vielen jungen Familien, die aus stinkenden Altbauwohnungen freudig und stolz in die Platte gezogen waren. Von Eltern, die ihre Kinder in Gummistiefeln zur Kita brachten, weil die Straßen zwischen den Wohnblocks oft noch nicht fertig waren. Und von gemeinsamen Arbeitseinsätzen mit dem Ziel, die Umgebung der Wohnblocks zu begrünen und mit Bäumen zu bepflanzen. Das geschah vielfach ohne behördliche Vorplanung, daher können Sie sich als Ortsfremder in Marzahn heute noch vielerorts zwischen Rasenhügeln, Hecken und Obstbäumen verirren.

Das Bedürfnis, die Großsiedlung zu verschönern, sich gemütlich darin einzurichten und sich zu beheimaten, schlug einem vor 20 Jahren aber auch von den Fassaden der Wohnblocks entgegen: Anders als in westdeutschen Großsiedlungen duldete die kommunale Wohnungsverwaltung, dass die Bewohner ihre reichlich vorhandenen Balkone höchst individuell bemalten, ausbauten und begrünten: So brachten sie das öde Raster der Fassaden zum Sprechen. So paradox es klingt: Die sanierten, überarbeiteten, farbig aufgehübschten Fassaden der sogenannten Eierkisten sehen heute vielfach uniformer aus als fünf oder zehn Jahre nach dem Erstbezug.
 
Ich kann Ihnen daher als Augenzeuge versichern: Der Stadtumbau Ost hat in Marzahn nicht erst 2002 angefangen – seitdem gibt es das gleichnamige Programm des Bundes und der Länder – sondern schon Ende der 1970er Jahre. Natürlich sind die Prämissen inzwischen andere: In DDR-Zeiten gab es zum relativen Komfort des Wohnens in der Platte wenig echte Alternativen, die Bevölkerung in Marzahn war relativ jung – zwei Drittel der Bewohner jünger als 26 Jahre -, es gab kein Arbeitslosigkeit in der heutigen Form. Die Großsiedlungen hatten nach der Wende mit Wegzug, Leerstand und dem Altern ihrer Bevölkerung zu kämpfen. Das erfordert neue Methoden der Steuerung und Planung. In diesen Kontext gehören auch alle 10 Projekte, die in dieser Ausstellung gezeigt werden: Immer geht es dabei letztlich darum, langfristig die Wohn-, Aufenthalts- und Lebensqualität für die Bewohner in den Großsiedlungen zu verbessern. In meinen Augen schreiben sie damit einen Prozess fort, der schon vor 35 Jahren begann, als die Erstbewohner von Marzahn versuchten, die Fehler und Mängel des industrialisierten, normgerechten Großsiedlungsbaus zu korrigieren.
 
Das Grundproblem ist immer noch dasselbe: Das Abfallprodukt der großmaßstäblichen Planungs- und Bauweise sind riesige Zwischenräume, die nach Gestaltung verlangen und Pflege erfordern. Davon war die DDR-Planwirtschaft völlig überfordert, aber auch die heutige Stadtverwaltung tut sich damit schwer – die Grünflächenämter und Wohnungsbaugesellschaften waren bisher nicht in der Lage, diese Riesenflächen in einen einzigen großen Park oder Garten zu verwandeln. Das Problem hat sich im demographisch schrumpfenden Berliner Osten sogar noch verschärft: Seit 1999 sind in Marzahn-Hellersdorf durch den Abriss von etwas 130 Kitas, Schulen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen etwa 80 Hektar neue Freiflächen entstanden. Typisch für den Bezirk sind fußballfeldgroße Wiesenbrachen, auf denen (wahrscheinlich aus versicherungstechnischen Gründen) nichts steht als ein Schild mit der Aufschrift: „Privatgelände. Betreten verboten“.

Direkt neben so einer Wiese öffnet sich ein neuerer Wohnblock für Fußgänger und Radfahrer zum Branitzer Karree, dem ältesten der hier vorgestellten Projekte. Es liegt in Hellersdorf, wo es nach der Wende leichter war, neue Wege zu gehen als in Marzahn. Die Wohnblocks waren dort nicht ganz so hoch, an entscheidenden Punkten musste man nicht abreißen und rückbauen, sondern konnte das Noch-Nicht-Gebaute verwerfen und versuchen, qualitätvoller weiter zu bauen. Am Branitzer Karree wurde inmitten eines weit gediehenen Baufeldes mit Wohnblöcken ein Stadtplatz mit einer Umbauung angelegt, die sich strukturell und architektonisch am Siedlungsbau der 20er Jahre orientiert. Ansprechend ist nicht nur die Architektur mit Details wie den gewölbten Ziegelbändern, die sofort an Erich Mendelssohn erinnern, sondern auch die Wegeführung und Raumbildung zwischen den Wohnhäusern. Ich habe mich sofort eingeladen gefühlt, den schlangenartig gewundenen Asphaltweg in Ost-West-Richtung zu betreten und die kabinettartigen Grünräume links und rechts zu erkunden. Mannshohe Buchenhecken trennen sie von den Terrassen und Privatgärten der Erdgeschossmieter, bilden weite und enge Räume. Der Freiraum (von Levin Monsigny Landschaftsarchitekten) ist sehr stark ausdifferenziert, er macht mir eine Fülle von Angeboten, auf die man je nach Stimmung und Betätigungswunsch eingehen kann – ich bin dort als Fremder sehr gerne zu Besuch gewesen.

Was am Branitzer Karree im kleineren Maßstab gelungen ist, nämlich ein identitätsstiftendes Zentrum zu schaffen, versuchte die Stadt Berlin im Großen am U-Bahnhof Hellersdorf. Bereits 1990 schrieben Senat und Magistrat gemeinsam einen städtebaulichen Wettbewerb für die „Helle Mitte“ aus, ein Bezirkszentrum vom Reißbrett mit allem, was dazugehört: U-Bahn-Anschluss, Rathaus, Einkaufspassagen, Fußgängerzone, Multiplexkino, Arbeitsamt, Ärztehaus, Oberstufenzentrum und Jugendzentrum. Neben dem Potsdamer Platz war die „Helle Mitte“ das zweitgrößte Berliner Bauprojekt in den 1990er Jahren. Dieses kapitalistisches Kunstherz für die Retortenstadt Hellersdorf funktioniert offensichtlich gut, so finden Sie dort alle großen Ladenketten, die auch in anderen Bezirkszentren vertreten sind, aber es wirkt gerade dadurch auch austauschbar. An den Rändern sind kleinere Brachen übrig geblieben, eine davon war der Peter-Weiss-Platz.
 
Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen, wenn so eine Brache in eine hübsche Grünanlage umgewandelt wird, in deren Beeteinfassungen sogar Werktitel des Schriftstellers Peter Weiss eingemeisselt wurden. Und warum soll einem Fußgänger, der sich auf dem Weg vom Shopping-Center zu den Parkplätzen von Aldi und Norma befindet, nicht eine Abkürzung über einen schön gestalteten Peter-Weiss-Platz angeboten werden? Das wäre alles ganz prima, wenn an der abgerundeten Platzecke, wo eine Absperrung das Weitergehen verhindert, ein Fluss, ein See oder ein schöner Ausblick wäre – und nicht eine vielbefahrene Autostraße. Von zwei Seiten dröhnt der Verkehr die adrette Grünanlage (von Christiane Gottwald) zu, die viel zu klein ist, um als Rückzugsraum oder Ballspielplatz tauglich zu sein. Mit schöner Ironie hat die Künstlergruppe DRACO ein Trafohäuschen so bemalt, dass es als Mini-Plattenbauwohnblock im orginalen DDR-Look in der Gegend steht, und mit einem Peter-Weiss-Zitat geschmückt: „Große Kunst ist immer klassenlos, weil sie sich an alle richtet, die aufnahmefähig sind.“ - Ich hatte offen gestanden Mühe, das als „Neue Stadtwiesen“ annoncierte Projekt der TU Berlin in der Nähe des Peter-Weiss-Platzes überhaupt zu identifizieren. An der angegebenen Adresse – Senftenberger Straße 12/14 - hat die zuständige Wohnungsbaugesellschaft mit EU-Geldern einen Weg zu einem künstlichen Tümpel anlegen lassen, diese mäßig einladende Grabenlandschaft hat aber mit diesem Projekt gar nichts zu tun. Seit 2008 testet eine Forschergruppe an mehreren Standorten in Hellersdorf, wie sich Abrissflächen effektiv und kostensparend in regionentypische Wiesen zurückverwandeln lassen. Angesichts der vielen Brachflächen stellt sich die ganz legitime Frage, wie man mit minimalem Aufwand ein Maximum an Ansehnlichkeit und Artenvielfalt erzielen kann, dabei setzen die Forscher vor allem auf die Aussaat einheimischer Arten aus Brandenburg – und sind damit wohl auch – so die Auskunft der Projektbeteiligten Leonie Fischer -  relativ erfolgreich.
 
Mit massiverem Einsatz hat die gruppeF einen Flecken brandenburgischer Landschaft nach Marzahn geholt. Im Schorfheideviertel haben die Landschaftarchitekten gemeinsam mit den Anwohnern nach einer Gestaltung gesucht, mit der sich die Betroffenen wirklich identifizieren können. Im Schorfheideviertel ist das mit einem Charette-Verfahren gelungen, das in den angelsächsischen Ländern relativ weit verbreitet ist, hierzulande noch nicht, weil es die verrechtlichten Planungsabläufe und Hierarchien durchkreuzt. In einer kurzen, intensiven Planungsphase wird versucht, ganz früh alle Beteiligten zusammenzubringen, damit diese ihre Standpunkte austauschen, voneinander lernen und eine gemeinsame Lösung finden. Nach Angabe der gruppeF waren 200 Personen an der Charette beteiligt. Für mich überraschend ist es dabei gelungen, das alte Sprichwort „Viele Köche verderben den Brei“ zu widerlegen. Inmitten eines gelichteten Plattenbaugevierts ist ein Stück ansprechender märkischer Heidelandschaft entstanden – mit blühenden Sandhügeln, Kiefer- und Mischwald, lauschigen Rückzugsorten unter Obstbäumen und röhrenden Hirschen aus braun gefärbtem Beton. Diese leicht ironisch gefärbte Inszenierung hat Charme, als ich mit Familie im August dort ein Test-Picknick durchführte, waren wir ganz betört von zahllosen über den Heidegräser und blühendes Kraut flatternde Schmetterlingen und wurden schließlich von den Mücken vertrieben. Es war ganz so wie in der freien Natur, trotz der über die Kiefern ragenden Wohnblockfassaden. Das alte Versprechen, durch modernen Siedlungsbau reichlich Licht, Luft und Sonne in die Wohnquartiere zu holen, ist hier mit einiger Verspätung sehr anmutig eingelöst worden.

Das Kiezpark-Projekt im nahen Quartier an der Oberweißbacher Straße ist noch im Werden, von den Rändern her nimmt der Park auf dem Gelände zweier abgerissener Schulen ganz langsam Gestalt an. Gut erkennbar ist schon die Streuobstwiese mit Wildobsthecke vor der Plattenbau-Kita „Zwergenoase“: Ich habe gelesen, dass die Baum- und Strauchsorten in Abstimmung mit der Kita-Küche ausgewählt wurden - ein Ansatz, den ich als Vater von zwei Kindern nur begrüßen kann. Der Freiraum ist von Susanne Schnorbusch und Amuth Krause als Nachbarschaftsraum gedacht, er soll allen Generationen attraktive Angebote machen. Mit vielfältigen Aktionen und einem moderierten Stammtisch entwickeln sie die  Planungsergebnisse bis ins Detail mit den Anwohnern. Dieser Ansatz, die Anwohner möglichst früh, intensiv und unbürokratisch an der Freiraumgestaltung zu beteiligen, knüpft an das an, was schon die Erstbewohner der Großsiedlungen versucht haben: Raumplanung nicht von oben herab, sondern möglichst nah an den erfragten Bedürfnissen der Leute.
 
Wenn Sie die Karte des Bezirks Marzahn-Hellerdorf in die Hand nehmen, dann sehen Sie, dass genau in der Mitte – an der Nahtstelle der Altbezirke – ein künstlicher Berg liegt, der früher den sprechenden Namen „Marzahner Kippe“ trug, heute Kienberg genannt wird. Am Fuß dieses Berges sah schon die DDR-Planung einen Erholungspark vor, dort wurde – zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 eine „Berliner Gartenschau“ veranstaltet, das war die Antwort der „Hauptstadt der DDR“ auf die Bundesgartenschau in Westberlin zwei Jahre zuvor. Nach der Wiedervereinigung wurde daraus der „Erholungspark Marzahn“ mit den “Gärten der Welt”. Mit dieser Parkanlage hat Marzahn-Hellersdorf etwas bekommen, was man überhaupt nicht genug rühmen und preisen kann: Es ist nicht nur geografisch oder funktional eine Mitte, sondern ein Ort von der Qualität, der einer menschlichen Ansiedlung eine Identität, eine Unverwechselbarkeit geben kann. Die “Gärten der Welt” sind inzwischen eine Attraktion für die ganze Stadt, sie haben eine große Zukunft als touristische Attraktion vor sich. Sie sind ein internationaler, multikultureller und spiritueller Ort – nicht nur, weil die einzelnen Gärten etwas über die Religionen der Herkunftsländer erzählen, sondern weil dieses Mit- und Nebeneinander der kulturellen Aussagen durch das Medium Garten insgesamt eine ganz starke Botschaft darstellt. Was hier entsteht, ist das Sanssouci im Osten der Hauptstadt, das Sanssouci des beginnenden 21. Jahrhunderts, das Sanssouci nicht einer Herrscherfamilie, sondern einer demokratisch und multiethnisch verfassten Millionenstadt.
 
Ihre Ausstrahlungskraft hat viel mit der handwerklichen Qualität und Sorgfalt bei der Anlage der einzelnen Gärten zu tun, die nicht nur exotische Einflüsse zitieren oder verarbeiten oder kopieren. Der chinesische Garten, der im Jahr 2000 den Maßstab gesetzt hat, ist ein Gartenkunstwerk von Chinesen für Berlin: über 100 Seecontainer mit Steinen, Felsen, Skulpturen und Baumaterialien wurden dafür nach Berlin verschifft. Den japanischen Garten hat der Gartendesigner Shunmyo Masuno entworfen, der zugleich Zen-Priester ist. Auch der hier in der Ausstellung dokumentierte Orientalische Garten (von Louafi Landschaftsarchitekten) besticht durch die Sorgfalt, mit die Vorstellung vom Paradies als “Garten der vier Ströme” praktisch umgesetzt wurde. Es sind handwerkliche Feinheiten wie das Farbenspiel der Bodenfliesen, die von marrokanischen Handwerkern ausgeführten Mosaiken, Schnitzarbeiten und Kalligraphien, die verhindern, dass sich das unangenehme Kitschgefühl einschleicht, das billigen Kopien anhaftet – alles strahlt ein hohes Maß an Authentizität aus, Ernsthaftigkeit, Liebe zum sprechenden Detail aus. Dadurch fühle ich mich als Betrachter oder Flaneur ernst genommen und herausgefordert – ich empfinde mich nicht als Staffagefigur in einer exotischen Kulisse, sondern wirklich als Gast in einem Raum, der mir sofort signalisiert, dass er für Angehörige einer anderen Kultur etwas ganz Wertvolles darstellt.

Der besondere Charme der “Gärten der Welt” im Ganzen besteht aber nun gerade nicht darin, dass sie eine im großen Stil durchgeplante Anlage wären, sondern ganz im Gegenteil: Der Erholungspark ist erkennbar und fühlbar ein Patchwork, ein Kollektivwerk, in dem sich verschiedene planerische Ideen verwirklichen und überlagern. Die vielstimmige Poesie der Gärten der Welt ist – um einen Begriff aus der literarischen Romantik aufzunehmen – Sympoesie: Es gibt eine kosmopolitische Vielzahl von geistigen Urhebern, die ihre Spuren hinterlassen haben. Dadurch ist diese Anlage viel komplexer und reicher als alles, was sich ein Masterplaner alleine hätte ausdenken können.
Die vier nach dem Orientalischen Garten realisierten Projekte aus den “Gärten der Welt” in dieser Ausstellung dokumentieren eine Rückbesinnung auf die europäischen Traditionen der Gartenkunst und sie zeigen auch den Mut, diese Traditionen zeitgenössisch zu interpretieren und transformieren.

So knüpft der Karl-Foerster-Staudengarten von Johannes Schwarzkopf und Christian Meyer an die modernen Reformvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts an, genau dort, wo dies schon zu DDR-Zeiten angelegt worden ist. Es ist eine sehr unprätentiöse Anlage mit einer geometrisierten Mitte, umgeben von einem Laubwaldrand, einem offenen Gehölzsaum, einem Steingarten und einer  Heidelandschaft – ein Garten für den zweiten Blick, dessen Besonderheit sich nicht so rasch erschließt wie bei den exotischen Gärten, aufgrund der Vertrautheit, die wir inzwischen mit dieser Art der Gartengestaltung haben; und dessen Qualitäten sich – auch das knüpft an Foerster an – recht eigentlich erst in der Langzeitbeobachtung der Vegetation erschließen. Noch nicht ganz fertig ist die Süderweiterung in Form eines Landschaftparks (von Rehwaldt Landschaftarchitekten), die einen schönen gleitenden Übergang schafft zwischen dem angrenzenden Wuhletal und der exotischen Binnenwelt des chinesischen Gartens. Bisher endete dieser Themengarten ziemlich abrupt an einem Zaun, jetzt wird man durch eine für die Gegend typische Feuchtwiesenlandschaft herangeführt und dezent auf deren Qualitäten und Schönheiten aufmerksam gemacht.
 
Der italienische Renaissancegarten (von Levin Monsigny Landschaftsarchitekten) wirkt auf mich, ehrlich gesagt, ein bisschen künstlich, vielleicht weil ich die Baustelle gesehen habe und mir nicht aus dem Kopf geht, wieviel Beton in den Mauern steckt – und natürlich ist man als gebildeter Berliner mal in Südeuropa gewesen und hat die Aura solcher alten Gärten gespürt, man kennt auch die hinreißenden Italienbeschwörungen aus Potsdam. Dagegen ist schwer anzukommen. Vielleicht braucht es ganz einfach ein paar Jahre, bis dieser Renaissancegarten etwas Patina angesetzt hat, die Mauern fleckig geworden und die Stufen abgetreten sind. Der jüngst fertiggestellte Christliche Garten versucht sehr radikal, die Struktur eines mittelalterlichen Klostergartens in etwas ganz Neues, Noch-Nie-Dagewesenes zu transformieren. Der klösterliche Wandelgang um die Beete und den (aus der Mitte verschobenen) Brunnen hat sich in eine goldglänzende Pergola aus Worten verwandelt. Wenn sie sich Zeit nehmen und in der Textcollage lesen, können sie gehörige Überraschungen erleben, etwa wenn sie zwischen Bibeltexten auf einen Songtext der Scorpions stoßen oder ein Gedicht des Lyrikers Reiner Kunze über einen, dem es nicht gegeben ist, an Gott zu glauben, der aber trotzdem das Ticket zum Paradies erhält. Wer wachsam ist, wird die Verwandtschaften mit dem orientalischen Garten nicht übersehen, die kreuzförmige Anlage in der Mitte bemerken und die Beziehung zwischen der Kalligraphie an den Wänden des Orientalischen Gartens und den Texten im Christlichen Garten.

Die starke Präsenz von lyrischen und spirituellen Texten in diesen beiden Gärten ist ein Hinweis, ja ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass die nicht-sprachlichen Elemente der Gartengestalt gleichfalls Bedeutungsträger sind. Auch die nicht beschrifteten Gärten lassen sich als Zeichensysteme, als Texte lesen. Die “Gärten der Welt” sind – literarisch betrachtet – eine Anthologie. Und wer in diesem Buch blättert, indem er darin spazieren geht, der kann gar nicht übersehen, dass die ganz besondere Poesie der einzelnen Gärten immer auch philosophisch, weltanschaulich, religiös fundiert ist. Karl Foerster hat es so gesagt: “Es wäre doch auch widersinnig, sich endlos um schönere Gärten und Blumen zu mühen, wenn damit nicht auch wirksam auf ein höheres Blühen in der geistigen Welt hingearbeitet würde.” - Früher bauten Menschen Siedlungen und krönten den Städtebau durch eine Kirche, die zugleich ästhetische Dominante und Sinnzentrum war. Das geht heute nicht mehr. In einer säkularen, multikulturellen und multiethnischen Stadt wie Berlin kann man keine Kirchen mehr als Gemeindemittelpunkt bauen. Wohl aber einen Park, öffentliche Plätze oder einen großen Garten, der die Städtebewohner aus der Alltagssphäre in eine Sphäre des Angenehmen, Schönen und Bedeutenden hebt – so wie das in Marzahn-Hellersdorf geglückt ist.

Was jeder dort sehen kann, ist die enorme Verantwortung, die der Landschaftsarchitektur in Quartieren zufällt, deren gebaute Architektur austauschbar und ausdruckslos geworden ist. Es reicht ganz offenbar nicht aus, den Raum dawischen einfach nur bedarfsgerecht und pflegeleicht zu gestalten, also in der Logik weiterzumachen, die den industriell gefertigten DDR-Großsiedlungen zugrunde lag. Die ästhetische und intellektuelle Armut der Architektur werden Sie nicht überwinden, indem sie bloß über Funktionsverbesserung nachdenken. Sie müssen mit ganz neuen Ideen und Gestaltungswillen in so ein Quartier hineingehen, wenn Sie einen wirklichen Qualitätssprung erreichen wollen – oder Sie müssen diese überschießenden Ideen mit den Anwohnern gemeinsam entwickeln, wie das zum Beispiel beim Schorfheideviertel gelungen ist. Mich freut es zu sehen, dass alle in dieser Ausstellung vertretenen Büros und Auftraggeber die Chance dazu genutzt haben, den im fernen Berliner Osten reichlich vorhandenen Raum schöpferisch zu nutzen: Ich bin ganz sicher, Ihr Einsatz, Ihre Experimentierfreude und Ihr Mut zur Fantasie nützen auf längere Sicht nicht nur den Bewohnern dort, sondern der ganzen Stadt.

AUSSTELLUNG "In weiter Ferne, so nah..." Neue Freiräume in Marzahn und Hellersdorf. Ausstellung des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten, Landesgruppe Berlin, in der BDA Galerie, Mommsenstraße 64, 10629 Berlin. Geöffnet vom 13. bis 24. September 2011 jeden Montag, Mittwoch, Donnerstag um 10 bis 15 Uhr und nach telefonischer Voranmeldung. Eintritt frei.

STADTSPAZIERGÄNGE zu den Projekten am 17. und 18. September 2011, Treffpunkte und Programm unter www.bdla.de

LITERATURHINWEISE Michael Bienert: Naher und Ferner Osten. Die Gärten der Welt in Marzahn. In: Ders.; Stille Winkel in Berlin, Hamburg 2008, S. 108-116.
Michael Bienert: Relais zur Gegenwart. Rede zur Ausstellung "Der geschriebene Garten" in der Stuttgarter Weißenhof-Galerie am 9. Februar 2011, dokumentiert auf www.text-der-stadt.de
Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf (Hg.): Im Wandel beständig. Stadtumbau in Marzahn-Hellersdorf. Berlin 2007.

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© Text und Fotos: Michael Bienert





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