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THEATERKRITIK

Winterreise von Elfriede Jelinek. Premiere am Deutschen Theater am 9. September 2011. Regie: Andreas Kriegenburg. Mit Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulescia und Susanne Wolff.


Fräulein Jelinek auf der Blumenwiese


von Michael Bienert

Die alte Leier! Wer will sie noch hören? Das fragt sich die Ich-Stimme am Schluss von Elfriede Jelineks acht „Winterreise“-Monologen, für die sie im Juni mit dem renommierten Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde. Auf der großen Bühne des Deutschen Theaters richtet die Schauspielerin Annette Paulmann die Frage direkt in Publikum, mit leiser Dinglichkeit: Ach bitte, liebe Leute, seht es mir nach, dass ich Euch fast drei Stunden mit meinem Wortgeleier auf die Nerven gegangen bin, ich kann nun mal nicht anders.
 
In diesem finalen Augenblick trifft die Aufführung einen Ton, der direkt berührt. Doch die Stimmung drehen – wie ein erlösendes Tor in der Nachspielzeit eines zerfahrenen Fußballspiels – kann der gelungene Abgang nicht. Bleiern lastet die verstrichene Zeit auf dem Gemüt. Wann nimmt es endlich ein Ende? Zu oft hat man sich das vorher gefragt. Besonders nach der Pause, während des Monologs von Maria Schrader über den Vater Elfriede Jelineks, den Mutter und Tochter in die Psychiatrie abschoben, fühlt sich der Zuschauer als Geisel genommen. Klar, das ist beabsichtigt, die enervierende Länge der Szene soll einem das Qualvolle, Ausweglose des Psychiatrie-Aufenthalts recht fühlbar machen. Aber das begreift man allzu bald und ist genervt, ehe sich ein Mitgefühl einstellen kann.

Während Schrader sich einsam durch den Text beißt, simulieren ihre vier Kolleginnen Annette Paulmann, Judith Hofmann, Susanne Wolff und Anita Vulescia in schwarzen Anzügen vier stumme Demenzkranke. Sie schieben ein Krankenbett auf die Bühne, auch das noch! Der Regisseur Andreas Kriegenburg bebildert seine Strichfassung von Jelineks Prosa mit erschreckender Einfalt. Wenn eine Klavierspielerin mit Stricken und Klebeband an einem Konzertflügel festgebunden wird, dann ist das ein überdeutlicher Fingerzeig auf das Musikstudium der Autorin und ihren Roman „Die Klavierspielerin. Und für das Thema Autoaggression sind große  Scheren und Messer allzu nahe liegende Requisiten.
 
Eisstücke bringen die Actricen mit bloßen Händen zum Schmelzen, damit niemand glaubt, in dieser „Winterreise“ herrsche ewiger Sommer. Denn Nikolaus Frinke hat die ganze Bühne vor dem kahlen Rundhorizont in eine üppige Blumenwiese mit stattlichen Ritterspornen verwandelt. Mittendrin steht ein Konzertflügel, auf dem sich anfangs eine der Schauspielerinnen ganz sachte an die ersten Takte von Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ herantastet. Zu einer Einspielung vom Band kommen sie dann alle bräutlich gewandet (in geblümten Kleidern von Andrea Schraad) auf die Bühne, mit Wanderrucksäcken auf den zarten Schultern. So symbolisieren sie beides zugleich, die zurückgelassene Geliebte und den depressiven Wandersmann in Schuberts Liedern.

Kein Werk der Kunst habe ihr je mehr bedeutet, schrieb Elfriede Jelinek in ihren Dankesworten zum Mülheimer Theaterpreis. Die Grundstimmung ihrer „Winterreise“ ist dieselbe wie bei Schubert, das Ich der Monologe ist genauso einsam und verzweifelt, es kommt so wenig vom Fleck wie der Wanderer in den Liedern. Was aber bei Schubert zu einer Kunst von glasklarer Härte zusammenfriert, zerschmilzt bei Jelinek in einen mäandernden Wortstrom. Vom sprachspielerischen Reflektieren über Sein und Zeit bewegt er sich auf die Vatergeschichte zu, auf Jelineks ganz private Leiche im Seelenkeller.
 
Ihr Assoziations- und Sprachstrom hat eine innere Logik und einen Sog, der in dieser Aufführung allerdings nur einmal wirklich mitreißt: Vor der Pause ergießt sich Susanne Wolff in einer Suada über die Liebe in den Zeiten des Internets, das ununterbrochen neue Freunde und Sexpartner ausspuckt, ohne je den elementaren Hunger nach der Liebe der Mutter stillen zu können. Mit schwarzem Humor und Selbstironie führt die „Winterreise“ plötzlich eisklar in die Gegenwart:  Schuberts einsamer Wanderer würde seiner Liebsten heute wohl eine Abschieds-SMS schicken und gar nicht mehr aus dem Haus gehen, sondern sich in der Kälte des Cyberspace verlieren.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. September 2011

© Text und Foto: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro








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