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THEATERKRITIK

Kabale und Liebe von Friedrich Schiller. Premiere am Deutschen Theater am 5. Februar 2010. Regie: Stephan Kimmig. Mit Ulrich Matthes, Ole Lagerpunsch, Elias Arens, Lisa Hagmeister, Alexander Khuon, Matthias Neukirch, Claudia Eisinger und Maria Wardzinska.


Die Kälte der Elite und die Sorgen der Mittelschicht

von Michael Bienert

Zweite Vorstellungen sind bei Schauspielern nicht sehr beliebt. Oft ist nach der Premierenanspannung erstmal die Luft raus. Es gibt aber auch ein Theaterkritikerglück der zweiten, dritten oder zehnten Vorstellung. Statt des teils saturierten, teils voreingenommenen Premierenpublikums erlebt man dann den Normalfall der Theaterarbeit. Im Deutschen Theater beginnt er damit, dass eine halbe Stunde vor der zweiten „Kabale und Liebe“-Vorstellung der Spielzeit die Stühle im Rangfoyer nicht ausreichen, weil unglaublich viele Leute die 15-minütige Einführung eines Dramaturgen zum Stück hören wollen.

Das Publikum erlebt sich vorab als bildungshungrige Theatergemeinde und hält die Konzentration bis zum Ende der über dreistündigen Aufführung. Das ist eine spürbare Hilfe für die Schauspieler, die sich auf dünnem Eis bewegen. So richtig zwingend ist es ja nicht, dass zwei Liebende, die eher aus dem späten 20. Jahrhundert als aus der Schillerzeit stammen, sich mit vergifteter gelber Brause ums Leben bringen, bloß weil eine Intrige sie auseinander treiben soll. Ferdinand (Ole Lagerpunsch), der verwöhnte Sprößling einer Machtelite in blauen Anzügen, benutzt einen Media Player und eine Pistole, aber in seiner Welt gibt es kein Handy, um Mißverständnisse auszuräumen. Wie zu Schillers Zeiten werden gefälschte Briefe von Hand geschrieben und Schweigegelübde erpresst. Das Drama, das dem Publikum aufgetischt wird, ist so kunstfertig konstruiert wie das Bühnenbild von Katja Haß: ein Bühnenkasten mit Dutzenden eingelassener Türen, dessen Wände komplett umkippen oder zu Drehtüren werden können, an denen die Liebenden fröhlich Karussell fahren.

Die Inszenierung macht aus den sozialen Typen der Ständegesellschaft, deren Undurchlässigkeit Schiller in seinem bürgerlichen Trauerspiel anprangerte, merkwürdige Theatergeschöpfe mit heutigen Zügen. Luise im hausbackenen Bürgermädchenkleid (Claudia Eisinger), anfangs von ihrem Verlangen nach Ferdinand fast um den Verstand gebracht, entwickelt sich unter äußerem Druck zur tugendhaften Todesverächterin. Ihr Vater, der Musiker Miller (Matthias Neukirch), ist ein bärtiger Altachtundsechziger, der seine Tochter herzlich liebt und die Sphäre der Machtmenschen verachtet. Denn in ihr gedeihen Charaktere wie der plumpe Scherge Wurm (Alexander Khuon), die hirnlose Hofpuppe von Kalb (Elias Arens) und das nach wahrer Liebe dürstende Sexspielzeug Lady Milford (Lisa Hagmeister). Messerscharf spielt Ulrich Matthes den Präsidenten als kaltblütigen Managertypen mit Dreck am Stecken, dessen Menschenlenkerkünste am eigenen Sohn Ferdinand kläglich scheitern.

Kimmigs Inszenierung überschreibt Schillers Drama mit Signaturen heutiger Machtverhältnisse. Sie richtet den Blick auf eine Macht- und Wirtschaftselite, die in feudalistischer Manier eine von den Nöten der Bevölkerungsmehrheit abgeschottete Parallelwelt bewohnt und sich dafür auch noch Boni auszahlt. Dass die Dramenvorlage aus dem 18. Jahrhundert und die Erfahrungen aus dem 21. Jahrhundert sich nicht bruchlos zusammenfügen, ist dem Abend nicht unbedingt als Schwäche anzukreiden. Es ist eher ein Zeichen von Wirklichkeitssinn. So weit sind wir noch nicht wieder, dass der Mächtige den unbequemen Bürger einfach ins Loch stecken kann, um sich die Tochter gefügig zu machen. Doch die Gespanntheit, mit der das Publikum der Aufführung im Deutschen Theater folgt, ist ein Indiz, dass es mit den Ohnmachtserfahrungen der Bürgerfamilie Miller in Schillers Drama viel anzufangen weiß.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 10. Februar 2010

© Text und Foto: Michael Bienert
















 










Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro



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