www.text-der-stadt.de
Startseite
Schaufensterreklame in Weimar, 2005


KOLUMNE SCHILLER LEBT

19 Schlaglichter auf Schillers Leben, Werk und Rezeptionsgeschichichte,  erschienen im Januar bis Mai 2005 in der STUTTGARTER ZEITUNG. Den Kolumnentitel hat sich die Redaktion gewünscht, dem Autor wäre etwas Frecheres lieber gewesen, zum Beispiel: SCHILLERECK.


SCHILLER LEBT (1)
Stuttgarter Zeitung vom 3. Januar 2005

Neujahrsgruß


Einen makabren Neujahrsgruß schickt Schiller im Januar 1805 an den Theaterdirektor Iffland nach Berlin: „Ich lebe auch noch, lieber Freund, wiewohl ich lange geschwiegen, und die Zeitungen mich todt gemacht haben.“ Nicht zum ersten Mal war in der Presse zu lesen, der Dichter sei nach langer Krankheit gestorben. Aber Schiller ist noch wach, will arbeiten und seine Familie absichern, obwohl er längst tot sein müßte - das ergibt fünf Monate später sein Obduktionsbericht, der schwere Mißbildungen an fast allen inneren Organen feststellt. Idealisten leben eben länger, manchmal. Und überleben vielleicht auch den Totenkult, der um Schiller wie um keinen anderen Dichter getrieben wurde. „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ - wie wird man Wallensteins Motto am Ende dieses Schillerjahres lesen? Kann Schillers Denken noch Körperlichkeit gewinnen über rituelle Beschwörungen, museales Gedenken und die merkantile Verwertung des Jubiläums hinaus? Man sieht es noch nicht recht. Schiller selbst gibt (in den Briefen über ästhetische Erziehung) einen Maßstab für Zeitgenossenschaft vor: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf. Leiste deinen Zeitgenossen, aber, was sie bedürfen, nicht was sie loben.“

SCHILLER LEBT (2)
Stuttgarter Zeitung vom 10. Januar 2005

Die Wut des Arbeitslosen

Früher lernten die Kinder in der Schule: „Arbeit ist des Bürgers Zierde / Segen ist der Mühe Preis.“ Heute muß das Lied von der Glocke den Arbeitslosen wie Hohn in den Ohren klingen. Oder wie eine ferne Utopie. Als Schiller das Hohelied des Bürgerfleisses anstimmte, hatte die Industrialisierung die menschliche Arbeitskraft noch nicht entwertet. Gleichwohl gab es Menschen, die vom bescheidenen Wohlstand ihrer Umgebung ausgeschlossen blieben. Wohin das führen mag, untersuchte der Sechsundzwanzigjährige in der Kriminalgeschichte „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. Sein Held Wolf, von Natur mißgebildet, aus armen Verhältnissen stammend, will nichts als einen Zipfel vom Lebensglück. Um ins bürgerliche Leben einzutreten, bietet er sich für die niedrigsten Arbeiten an, wird aber weder als Schweinehirt noch als Soldat angenommen. So bleibt ihm als „trauriges Handwerk“ nur die Räuberei. Schillers Frage: „Warum achtet man nicht (...) auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing?“

SCHILLER LEBT (3)
Stuttgarter Zeitung vom 17. Januar 2005

Im Kanzleramt

„Radikaler schläft keiner“ steht auf einer Postkarte mit dem Kopf des verstorbenen Dichters, die sein Biograf Rüdiger Safranski an die Kulturstaatsministerin im Kanzleramt schickte. Christina Weiss hätte es gern gesehen, wenn der Bundestag anläßlich von Schillers Todestag über das Thema Freiheit diskutiert hätte. Das soll uns erspart bleiben, aber etwas Vernünftiges hat die Staatsministerin doch zuwege gebracht. Sie lud die Jubiläumsplaner zu zwei Schillerrunden ins Kanzleramt ein; dabei stellte sich heraus, dass alles nur Denkbare stattfinden sollte, bloß keine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit. Um diese kulturpolitische Kleinstaaterei zu überwinden, entstand mit Bundeshilfe eine Informationsplattform im Internet (www.schillerjahr2005.de). Ein gemeinsames Fähnchenlogo für alle Gedenkveranstaltungen gibt es auch. Neben dem Dichterkopf prangt als zentrale Botschaft ein einziges Wort: „Freiheit!“, getreu dem Motto: „Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne.“ Ob wir die für Schiller entflammte Staatsministerin alsbald in der Rolle der Jeanne d´Arc erleben? Oder gilt auch fürs Kanzleramt der Satz: „Die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt“?

SCHILLER LEBT (4)
Stuttgarter Zeitung vom 24. Januar 2005

Tapetenwechsel

Im Januar 1796 sind Schiller und Goethe mit dem Verfertigen von Spottversen auf die literarische Konkurrenz, den Xenien, beschäftigt, daneben treiben sie ganz praktische Dinge um. „Darf ich Sie mit einem kleinen Auftrage belästigen? Ich wünschte 63 Ellen Tapeten von schöner grüner Farbe und 62 Ellen Einfassung, welche ich ganz ihrem Geschmack und ihrer Farbentheorie überlasse“, schreibt Schiller aus Jena dem Freund, der postwendend mitteilt, derlei sei in Weimar nicht zu haben. Doch Goethe weiß Rat. Er schickt Tapeten- und Bordürenmuster aus seiner Vaterstadt Frankfurt samt genauen Preisangaben und bietet an, den Handel abzuwickeln. Am 24. Januar 1796 gibt Schiller seine Bestellung auf: „Da Sie indessen so gütig sein wollen, diese Verzierung an meinem Horizonte zu besorgen, so bitte ich sie mir 4 Stücke von der grünen Tapete und 2 von Rosa-Bordüren (wenn diese auch 40 Ellen halten) aus Frankfurt kommen zu lassen. Ich ziehe die Rosa Bordüren der Lebhaftigkeit wegen dem beiliegenden Muster vor.“ Schon drei Wochen später trifft die Lieferung bei Schiller ein, samt genauen Instruktionen Goethes, wie man Bordüren fachmännisch verklebt.

SCHILLER LEBT (05)
Stuttgarter Zeitung vom 31. Januar 2005

Exil

Der junge Mann weiß, was er will: Schriftsteller werden. Aus seinem Weltekel formt er ein Theaterstück, das die Grenzen des guten Geschmacks sprengt, und läßt es anonym auf eigene Kosten drucken. Im Ausland wagt ein Theater, das zeitkritische Stück zu spielen: Es wird ein umstrittener Sensationserfolg. Aber der autoritäre Herrscher über sein Heimatland hat andere Pläne mit dem begabten jungen Dichter. Er verbietet ihm weitere literarische Veröffentlichungen. Der junge Mann flieht heimlich über die Grenze, um seiner Wahrheit treu bleiben zu können, und lernt alle Nöte eines mittellosen Emigranten in der Fremde kennen. Erst ein Regimewechsel ermöglicht ihm elf Jahre später einen Besuch in der Heimat. - Die Geschichte des jungen Schiller ist die Geschichte vieler Schriftsteller, bis heute. Wie human, dass der deutsche PEN mit Unterstützung der Bundesregierung seit ein paar Jahren ständig sechs flüchtigen Autoren ein Stipendium, ein Obdach und praktische Hilfe im Alltag anbieten kann. Aber warum ist eigentlich kein Kulturfunktionär auf die Idee gekommen, Schiller dadurch zu ehren, dass man im Gedenkjahr einige verfolgte Autoren zusätzlich unterstützt?

SCHILLER LEBT (06)
Für die Stuttgarter Zeitung vom 7. Februar 2005 geplant, verändert gedruckt am 14. Februar


Der klassische Riecher


Heute ist Rosenmontag, der Tag der Pappnasen. Betrachten wir aus gegebenem Anlass den imposanten Vorsprung in Schillers Gesicht etwas genauer. Seine Nase war oft gerötet von Schnupfen, womöglich auch vom Genuss geistiger Getränke, mit denen er den maladen Körper und Kopf in Schwung brachte. Schiller schätzte starke Nasenreize. Er schnupfte Tabak und verwahrte in seinem Schreibtisch faulige Äpfel, deren Geruch ihm angenehm war, während Goethe bei einem Hausbesuch übel davon wurde. Über Schillers äußere Erscheinung wissen wir wenig Verläßliches, allein die Nase ragt als Konstante aus den sehr unterschiedlichen Schillerbildnissen heraus. Ein großer Mann muss halt eine große Nase haben. Idealisierung war hier nicht nötig, wie wir durch eine wenig schmeichelhafte Profilzeichnung wissen, die der Berliner Bildhauer Johann Gottfried Schadow im Mai 1804 skizzierte. Der nüchterne Realist setzte den Stift bei Schillers Nase zweimal an und vergrößerte sie ins Karikaturistische. Als Kafka diese Zeichnung sah, notierte er begeistert in sein Tagebuch: „Fester als bei dieser Nase kann man ein Gesicht nicht fassen.“

SCHILLER LEBT (07)
Für die Stuttgarter Zeitung vom 14. Februar 2005 geplant, vorzeitig gedruckt am 7. Februar

Deutsche Größe

Was sagt der Nationaldichter zur Patriotismusdebatte? Schillers Entwurf über „Deutsche Grösse“ von 1797 ist Fragment geblieben. Damals war Deutschland in Kleinstaaten zersplittert, keine aufstrebende Welt- und Kolonialmacht wie England oder Frankreich Schiller entwirft deshalb eine alternative Perspektive für die deutsche Nation: Sie sei zu Höherem bestimmt als „des Britten todten Schätzen“ und des „Franken Glanz“ nachzujagen, nämlich „an dem ewgen Bau der Menschenbildung zu arbeiten“. Das heißt für den Visionär ganz konkret, „Vorurtheile zu besiegen“, für die „Freiheit der Vernunft“ zu fechten oder in der Sprache „das jugendlich griechische und das modern ideelle ausdrücken“ zu lernen. Dabei sei es nur von Vorteil, dass es in Deutschland eine buntscheckigere Kultur gebe als in zentralistischen Nationalstaaten: „Soviele Länder und Ströme und Sitten, soviele eigene Triebe und Arten.“ Das Ziel der Nation müsse sein, „die Menschheit die allgemeine in sich zu vollenden und das Schönste was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen.“ Soweit Schiller zum Thema Leitkultur.

SCHILLER LEBT (08)
Stuttgarter Zeitung vom 21. Februar 2005

Der Maßstab

Donnerstagabend in der Dänischen Botschaft. Der Journalist Jens Andersen stellt seine exzellente Biografie des dänischen Nationaldichters Hans Christian Andersen vor, der wenige Wochen vor Schillers Tod geboren wurde. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Schillerjahr und dem Andersenjahr? Andersens Werk sei nicht vorstellbar ohne die frühe Kenntnis der modernen deutschen Literatur seiner Zeit, sagt der Biograf. Von Deutschland habe Andersen seine Bildung empfangen. Das machte ihm Mut, einen völlig neuen Weg in der dänischen Literatur einzuschlagen. Am Anfang von Andersens Karriere trug ihn der Erfolg in Deutschland über die heftige Ablehnung der dänischen Kritik hinweg. Sechs Jahre hat er auf Reisen durch Deutschland verbracht. Mehrmals kam er nach Weimar, wo er im Juni 1844 die Fürstengruft mit den Särgen Schillers und Goethes besuchte. „Ich stand zwischen den beiden, sprach mein Vaterunser, bat Gott, mich einen Dichter werden zu lassen, ihnen würdig und im übrigen, dass sein Wille im Bösen wie im Guten geschehen möge“, heißt es in Andersens Tagebuch. Für den Biografen ist die Anekdote eine Schlüsselstelle: Neben Goethe oder Schiller zu bestehen, genau das sei Andersens größter Wunsch gewesen.

SCHILLER LEBT (09)
Stuttgarter Zeitung vom 28. Februar 2005

Im Fuchspelz

Es ist kalt im Februar 1791. Geschwächt von einer Lungen- und Rippenfellentzündung, die bis zu seinem Tod nie ganz ausheilen wird, schreibt der Geschichtsprofessor Schiller aus Jena an seinen Leiziger Verleger Göschen: „Mein Arzt will durchaus, daß ich diesen Winter nie ohne Pelz ausgehe und noch besitze ich keinen. In Leipzig, vermuthe ich, kann ich am besten dazu gelangen, und sie sind wohl so gut, dieß zu besorgen. Am liebsten ist mir Fuchs.“ Der Verleger und Buchhändler muß ein wenig überrrascht gewesen sein, denn acht Tage später wiederholt sein Autor mit Nachdruck seine Forderung: „Ich dachte, ich könnte bei Ihnen Pelze bestellen wie sie bey mir einen Geisterseher oder 30jährigen Krieg, kurz und einsilbig.“ Dann präzisiert Schiller seine Wünsche: „Der Aufschlag müßte wo möglich von der Kehle des Fuchses, die heller ist als das übrige Fell, genommen werden können.“ Auch schärft er Göschen ein, „daß auf meine Länge Rücksicht genommen wird und der Pelz nicht zu knapp ausfällt.“ Dem Verleger liegt viel an der Genesung seines Autors; er besorgt alles zu dessen Zufriedenheit. Dafür bedankt sich Schiller am 5. März 1791 und versichert: „Nunmehr kann ich aller Witterung Trotz bieten.“

SCHILLER LEBT (10)
Stuttgarter Zeitung vom 7. März 2005

Morgen ist Frauentag

Als Vordenker weiblicher Emanzipation läßt sich Schiller kaum in Anspruch nehmen. Schon die Romantiker bogen sich vor Lachen, als sie sein Gedicht „Würde der Frauen“ lasen: „In der Mutter bescheidener Hütte / Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte, / Treue Töchter der frommen Natur“. Der Dichter nahm den Spott mit Humor: „Vorn herein liest sich das Lied nicht zum besten, ich les es von hinten, / Strophe für Strophe, und so nimmt es ganz artig sich aus.“ Schillers Frauenbild war nicht bloß zeitgebunden, sondern ganz und gar widersprüchlich. Privatim suchte er das bürgerliche Glück in einer Liebesehe, was den Dramatiker nicht hinderte, ganz andere Rollenmodelle zu entwerfen. Man denke an die starke Lady Milford in „Kabale und Liebe“ oder den Machtkampf zweier Karrierefrauen in „Maria Stuart“. Und an den Schrecken der Männer, die Jungfrau von Orleans: „Noch vielen von den Euren werd ich tödlich sein, / Noch viele Witwen machen, aber endlich werd / Ich selbst umkommen und erfüllen mein Geschick.“ Ja, die religiöse Inbrunst Johannas erinnert fatal an den Fanatismus palästinenischer Selbstmordattentäterinnen...

SCHILLER LEBT (11)
Stuttgarter Zeitung vom 14. März 2005


Auf dem Buchmarkt

„Ob du auch deinen Zahn auf Ostern und Michaelis gewetzt hast? - Die große Bücherepidemie in Leipzig und Frankfurt - Juchheisa, Dürrer! - wird ein königlich Fressen geben.“ Die Buchmessen im Frühjahr und Herbst zählten zu den wichtigen Terminen in Schillers Leben. Dort zeigte sich, ob die neuen Werke den erhofften Absatz fanden. Für den freien Schriftsteller, Buch- und Zeitschriftenherausgeber, der sich und seine Familie von den Früchten dieser Arbeit ernährte, ging es dabei um die Existenz. Schiller beobachtete den Markt sehr genau und versuchte ihn zu beeinflussen. Er lieferte seinen Verlegern nicht bloß Texte, sondern hatte auch ein waches Auge auf die Gestaltung der Umschläge, der Typographie und der Illustrationen. „Wir wollen alles vermeiden, was Schnörkel und Überladung ist“, schreibt er programmatisch seinem Verleger Cotta. Schiller schlug Papiersorten vor und entwickelte genaue Vorstellungen über Kalkulation, Werbung und Vertrieb der Bücher. Trotz aller Sorgfalt blieb der Markt unberechenbar, jede Buchmesse eine Lotterie: „Hier ist Messe, geschwind, packt aus und schmücket die Bude, / Kommt, Autoren, und zieht, jeder versuche sein Glück.“

SCHILLER LEBT (12)
Stuttgarter Zeitung vom 21. März 2005

Geschichte eines Schreibtischs

Länger als ein Jahr stand der Schreibtisch aus Schillers Haus in Weimar im Konzentrationslager Buchenwald. Da die Nazis die gut besuchte Gedenkstätte während des Weltkrieges nicht schließen wollten, aber den Verlust des Mobiliars durch Bombentreffer fürchteten, ließen sie einige Originalmöbel des Dichters von KZ-Häftlingen kopieren. 1943 ersetzten ihre Werkstücke die kostbaren Originale, diese verschwanden in einem sicheren Keller. Nach Kriegsende wurde beides wieder ausgetauscht, aber der Nachbau des Schreibtischs existiert noch in einem Depot unweit des ehemaligen Konzentrationslagers. Es ist eine schwer erträgliche, aber unausweichliche Vorstellung: Der Schreibplatz, an dem Schiller seinen „Wilhelm Tell“ verfaßte, wo er seine Visionen von Freiheit und Humanität niederschrieb, stand länger als ein Jahr in der Folterhölle, deren Insassen aufs Bestialischste gequält wurden. Wie konnte es dazu kommen? Dieser Frage ist der Schriftsteller Kühn in einem Buch nachgegangen. Nach der Lektüre sieht man Schillers Schreibtisch mit anderen Augen: nicht länger als Kultobjekt und als Stätte genialer Inspiration, sondern als ein beunruhigendes Symbol für die Gefährdung des Schönen, Wahren und Guten.

Dieter Kühn: Schillers Schreibtisch in Buchenwald. S. Fischer Verlag, 250 Seiten, 18,90 Euro

SCHILLER LEBT (13)
Stuttgarter Zeitung vom 29. März 2005

Frühlingsgefühle

„Jetzt mit eintretendem Frühjahr kehrt die Heiterkeit und der Lebensmut zurück, und so wie die Erde der Sonne, öffnet sich auch die Seele der Freundschaft wieder“, schreibt Schiller am 2. April 1805 in einem von fünf Briefen an langjährige Freunde. Der Jahreszeitenwechsel bringt den letzten Aufschwung in Schillers Leben - fünf Wochen später ist er tot. Sicher hat man vor 200 Jahren den Frühlingsbeginn viel intensiver empfunden, es gab ja nicht mal Zentralheizung, fließendes Warmwasser und elektrisches Licht zur Milderung des Winters. „Wie sind wir doch mit aller unsrer geprahlten Selbständigkeit an die Kräfte der Natur gebunden, und was ist unser Wille, wenn die Natur versagt! Worüber ich schon fünf Wochen fruchtlos brütete, das hat ein milder Sonnenblick binnen drei Tagen in mir gelöst“, heißt es in einem Brief an Goethe über die Arbeit am Wallenstein-Drama. Schiller kannte aber auch die Frühjahrsdepression, wie er dem Freund am 20. März 1802 gestand: „Ich freue mich, daß sie bald hier sind und daß wir den Eintritt des Frühjahrs zusammen zubringen werden, der mich immer traurig zu machen pflegt, weil er ein unruhiges und gegenstandsloses Sehnen hervorbringt.“

SCHILLER LEBT (14)
Stuttgarter Zeitung vom 4. April 2005


Demetrius


„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, / Verstand ist stets bei wen´gen nur gewesen“, heißt es prophetisch im letztem Stück, an dem Schiller arbeitete, dem „Demetrius“-Fragment. „Der Staat muß untergehn, früh oder spät, / Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“ Die blutigen Exzesse der Französischen Revolution hatten den Freiheitsdichter mit tiefer Skepsis gegen die Demokratie erfüllt. Demetrius ist ein Verblendeter, von seiner politischen Mission absolut Überzeugter, der von einer Welle der Volksbegeisterung und einem hinterhältigen Geflecht politischer Interessen auf den Zarenthron getragen wird. Er kann von der Macht nicht lassen, auch als seine Legitimation bröckelt - also muß er gewaltsam beseitigt werden. Schillers politische Welt ist eine düstere Welt. Es gibt Lichtblicke in ihr wie den Volksaufstand in „Wilhelm Tell“. Aber weder der Freiheitswille der Massen noch die politische Klugheit einzelner garantieren einen gesellschaftlichen Fortschritt. Da war Schiller ganz und gar Realist.

SCHILLER LEBT (15)
Stuttgarter Zeitrung vom 11. April 2005

Bildung

Es muß mehr für die Bildung getan werden, da sind sich nach dem PISA-Schock alle einig. Aber genügt es, wenn die Kinder früher rechnen und lesen lernen? Ist alles gut, wenn sie das Schulsystem erfolgreich auf eine Karriere als Spezialisten vorbereitet? Schiller, glänzender Absolvent einer württembergischen Eliteschule, warnt: „Ewig nur an ein einzelnes Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus ... und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“ Bildung ist für Schiller nicht allein an kognitiven Fähigkeiten meßbar, da „alle Aufklärung des Verstandes nur insofern Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß gefunden werden. Ausbildung des Empfindungsvermögen ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit.“ Hier kommt die Kunst ins Spiel: Ästhetische Erziehung heißt für Schiller die Heranbildung von Menschen, die sich frei fühlen können, weil ihre vielseitigen Anlagen früh erkannt und gefördert wurden.

SCHILLER LEBT (16)
Stuttgarter Zeitung vom 18. April 2005

Der naive Papst


Nach dem Tod des korrupten Papstes Leo X. dauerte das Konklave 13 Tage. Am 9. Januar 1522 wählten 39 Kardinäle den abwesenden Bischof von Tortosa zum Kirchenoberhaupt. Der in Utrecht aufgewachsene Sohn eines deutschen Zimmermanns war der letzte nicht-italienische Papst vor Johannes Paul II. „Aus der engen Sphäre des Gelehrten war er zu seinem erhabenen Posten emporgestiegen und selbst auf der Höhe seiner neuen Würde jenem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die Mißbräuche in der Kirche rührten ihn, und er war viel zu redlich, öffentlich zu dissimulieren, was er im stillen sich eingestand“, berichtet Schiller in seiner Abhandlung über das Naive und Sentimentalische. War es der sympathischen Naivität Papst Hadrians VI. zuzuschreiben, dass er die Mißstände in seiner Kirche öffentlich eingestand? Es mochte auch politisches Kalkül dabei gewesen sein, vermutet Schiller. Dann aber handelte der ehrliche Papst nicht naiv, sondern unklug, weil er „vergaß, daß das künstlichste aller Gebäude schlechterdings nur durch eine fortgesetzte Verleugnung der Wahrheit“ erhalten werden konnte.

SCHILLER LEBT (17)
Stuttgarter Zeitung vom 25. April 2005


Brieffreundschaft

Wir wüßten wenig über die Schreibwerkstatt und die ganz privaten Empfindungen des Dichters ohne seinen zwanzigjährigen Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner. Mitten in einer tiefen Krise erhält der junge Schiller im Sommer 1784 Fanpost von dem ihm unbekannten Dresdner Juristen und seinen Freunden. In den folgenden Jahren übernimmt der etwa gleichaltrige Körner für den Dichter die Rolle des Ernährers, Lebensberaters, philosophischen Widerparts und Kummerkastens. Am 25. April 1805 schreibt ihm Schiller den letzten Brief, so ungezwungen und schonungslos, wie das nur unter engen Freunden möglich ist: „Indeßen will ich mich ganz zufrieden geben, wenn mir nur Leben und leidliche Gesundheit bis zum 50. Jahr aushält -“ Schillers Handschrift verrät nicht, dass er zwei Wochen später ein toter Mann sein wird. Energisch, schnell und sicher fliegt die Feder über den Briefbogen, bis zum allerletzten Abschiedsgruß: „Herzlich grüßen wir euch alle / Lebewohl / Dein / Sch.“

Schöne Briefe, herausgegeben von Norbert Oellers, DuMont Verlag, 212 Seiten, 98 Euro. Der Prachtband enthält 22 Brieffaksimiles Schillers samt Kommentar.

SCHILLER LEBT (18)
Stuttgarter Zeitung vom 2. Mai 2005

Die letzten Tage

Obwohl Schiller schon lange kränklich ist, rechnet in der Woche vor seinem Tod niemand mit einem schnellen Ende. Noch am 1. Mai 1805 besucht er eine Vorstellung im Weimarer Theater, für das er als Autor, Dramaturg und Regisseur gearbeitet hat. Als Schiller mit Schüttelfrost, Husten und Fieber nach Hause zurückgebracht wird, diagnostiziert der herbei gerufene Arzt einen harmlosen Infekt. In den folgenden Tagen arbeitet Schiller an seinem „Demetrius“-Drama, aus dem er noch auf dem Sterbebett rezitiert. Er empfängt Bekannte und seinen durchreisenden Verleger Cotta. Erst am 6. Mai, drei Tage vor Schillers Tod, setzen Fieberphantasien, Halluzinationen, Herzbeklemmungen und Todesängste ein. Schiller verlangt nach Märchen und Rittergeschichten: „Da liegt doch der Stoff zu allem Schönen und Großen.“ Auf die Frage seiner Vertrauten Caroline von Wolzogen, wie es ihm gehe, antwortet er: „Immer besser, immer heitrer.“

SCHILLER LEBT (19 UND SCHLUSS)
Stuttgarter Zeitung vom 9. Mai 2005

Vivat!

Ein Glas Champagner ist das letzte, was der sterbende Dichter auf Anraten des Arztes zu sich nimmt. Nachdem sich Schiller jahrelang mit seinem kranken Körper gequält hat, kommt der Tod am 9. Mai 1805 schnell. Es ist kein schlechter Zeitpunkt, von der Bühne abzutreten. Der Dramatiker steht auf dem Zenit seines Ruhms. Durch eine äußerste Willensanspannung hat er das Menschenmögliche erreicht. Zehn Jahre vor seinem Tod umriß Schiller in einem Brief an Goethe seine Lebensperspektive: „Eine große und allgemeine Geistesrevolution werde ich schwerlich Zeit haben in mir zu vollenden, aber ich werde tun, was ich kann, und wenn endlich das Gebäude zusammenfällt, so habe ich doch vielleicht das Erhaltenswerthe aus dem Brande geflüchtet.“

Der Briefwechsel mit Goethe, die „Xenien“, „Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Wilhelm Tell“, die klassischen Balladen - das alles entsteht erst im letzten Lebensjahrzehnt Schillers. Und es erweist sich als erstaunlich haltbar, wie man 200 Jahre später landauf, landab bei zahllosen Schillerveranstaltungen erfahren kann. Einen „Zeitgenossen aller Epochen“ hat der Schillerforscher Norbert Oellers den Dichter genannt. Im 19. Jahrhundert brauchten ihn die Deutschen als Nationalheiligen, um sich ihrer Identität zu vergewissern, im 20. Jahrhundert wurde er von wechselnden politischen Systemen in Beschlag genommen. In diesem Schillerjahr gibt es keine weder eine staatliche Lenkung noch eine ideologische Engführung des Gedenkens. Dennoch wird Schillers Werk neu vorgelesen, aufgeführt, gesungen, verfilmt und diskutiert. Wie Phönix aus der Asche steigt der Dichter aus dem Trümmerberg seiner Rezeptionsgeschichte empor.

Zum Teil erklärt sich die Schillerkonjunktur aus den Bedürfnissen der Medien-, Kultur- und Tourismusindustrie, die solche Jubiläen weidlich ausschlachtet. Aber der ganze Zauber funktioniert nur, weil Schillers Werk unerhört modern geblieben ist. Er war eben kein idealistischer Kulissenschieber und Moraltrompeter wie andere, längst vergessene Autoren. Schiller besaß einen wachen Sinn für die Konflikte, in die Menschen durch Sinnlichkeit, Moral, Milieu, Politik und Geschichte geraten. Zugleich dachte er über seine Zeit hinaus, formulierte Ziele für die Kunst, die Gesellschaft und den Einzelnen, über die zu diskutieren sich noch immer lohnt. Dabei war er ein genialer Sprachschöpfer, der viele Tonarten beherrschte: vom ruppigen Sound der „Räuber“ über die luzide philosphische Argumentation bis zur klassizistischen Versform des Spätwerks. Das eröffnet viele Möglichkeiten, sich Schiller anzunähern und mit ihm weiter zu denken.

Sein 200. Todestag ist kein Anlaß, in Sack und Asche zu gehen. Schiller lebt - und wie! Das heutige Publikum darf sich freuen über die Schätze, den Schiller gegen alle Widrigkeiten seiner Epoche und Konstitution „aus dem Brande“ gerettet hat. Ein Grund zum Feiern - mit oder ohne Champagner.




MEHR ZU FRIEDRICH SCHILLER


SCHILLER IN BERLIN. Eine historische Reportage aus der BERLINER ZEITUNG >

DIE GROSSE BÜCHEREPIDEMIE. Schiller auf dem literarischen Markt >

DAS KAPITAL DER KLASSIKER - Schiller und Goethe in Anna Amalias Bibliothek >

WEIMARS HELDEN. Eine Reise zu Schiller und Goethe im Jubeljahr 2005 >

WIE GOETHE ZU SCHILLERS SCHÄDEL KAM. Eine Räuberpistole >













 
Michael Bienert
Schiller in Berlin
oder Das rege Leben einer großen Stadt

Marbacher Magazin 106
Deutsche Schillergesellschaft
Marbach a. N., 2. Auflage 2005
88 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und farbigem Stadtplan
ISBN 3-933679-95-8
7 Euro

Zu beziehen über
bestellung(at)dla-marbach.de





 
 
 

 










 

Die Bücher
Audioguides
Stadtführungen
Aufsätze im www
Kulturrepublik
Theaterkritiken
Ausstellungen
Reisebilder
Kulturmenschen
Denkmalschutz

Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Impressum
Kontakt