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THEATERKRITIK


Ozean von Friedrich von Gagern. Uraufführung an der Volksbühne am 12. November 2009. Mit Max Hopp, Michael Schweighöfer, Hermann Beyer, Volker Spengler, Anne Ratte-Polle und vielen anderen. Regie: Frank Castorf.


Schiffbruch mit Zuschauern


von Michael Bienert


Ein halbes Jahr hat der Dampfer auf der Werft gelegen, weil die museumsreife Maschinerie ausgetauscht werden musste. Auch Lüftungsanlage und Toiletten sind modernisiert. Das freut die Passagiere, alles bekannte Gesichter. Mit sonorem Tuut-Tuut kündigt der Dampfer das Ablegemanöver an. Endlich soll es wieder losgehen, vom Heimathafen am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz hinaus auf die Weiten des Ozeans.

Kurz vor der Abreise hat Kapitän Castorf ein langes Zeitungsinterview gegeben und mal wieder beklagt, wie unwohl er sich in Berlin fühle: „Wenn man woanders arbeitet, ist man wieder der Filibuster, der Korsar, man kann anders wildern“. Eine Räuberzinke ziert nicht umsonst die Flagge seines Luxusdampfers. Sie erinnert an bessere Tage, als die Volksbühne noch nicht an Schlagseite litt. Seit Castorfs alte Mannschaft um Henry Hübchen und Martin Wuttke auseinander gebrochen ist, schlingert das Schiff  beängstigend. Im Interview gesteht der Kapitän ein, er habe Fehler gemacht. Aber auch nach 16 Jahren auf der Kommandobrücke hat er nicht das Gefühl, dass es mal an der Zeit wäre, das Steuerruder loszulassen.

„Ozean“ heißt das Stück, das Castorf zum Zeitvertreib der Passagiere unter Deck aufführen lässt. Der Autor Friedrich von Gagern war zwischen den Weltkriegen ein Bestsellerautor, vor allem durch seine Indianerbücher (“Der Marterpfahl“) und Jägerliteratur („Birschen und Böcke“). Noch nie hat es ein Theater gewagt, Gagerns einziges Drama aus dem Jahr 1921 aufzuführen. Es spielt auf einem Auswandererschiff im 19. Jahrhundert. Damit die Volksbühnenpassagiere ahnen, wie unbequem damals eine Schiffsreise im Zwischendeck war, müssen sie es viereinhalb Stunden auf Sitzkissen im Seesackformat aushalten.

Die Raumeinteilung des Chefausstatters Bert Neumann ist wie so oft das Überzeugendste an dem Volksbühnenspektakel. Parkett und Bühnenhaus fasst er durch schwarze Kunststoffplanen zu einem großen Raum zusammen. Allerdings wird die ohnehin problematische Akustik des großen Volksbühnesaals dadurch nicht besser. Obwohl Schauspieler fast ununterbrochen dagegen anschreien, sind in der Mitte des Parketts zwei Drittel des Textes nicht zu verstehen.

Gagern hat sein Zwischendeck nicht nur mit 20 Figuren, sondern auch mit endlosem Räsonnement vollgestopft: „Er soll erkennen, dass Liebe ohne Weisheit ist wie Flamme ohne Gefäß!“ So giftet ein Missionar den aufwieglerischen Schriftsteller Wiegand (Max Hopp) an, der sich auf der Flucht vor der Restauration in Deutschland befindet; genau wie der alte Barrikadenkämpfer Herczy mit Karl-Marx-Rauschebart (Michael Schweighöfer) oder der kühle Wissenschaftler Wylander (Hermann Beyer). Sie haben die gescheiterte 1848er Revolution hinter sich und hoffen auf eine bessere Zukunft in Amerika. Deswegen sind auch Frauen mit an Bord, die sich mit hysterischem Gekreisch durchsetzen wie die Hure Renate (Anne Ratte-Polle) oder das blinde Mädchen Thekla (Maria Kwiatkowsky).

Im Zwischendeck baut sich revolutionärer Überdruck auf, weil der Kapitän  (Dieter Montag) mit Wasser geizt. Ein Mann (Volker Spengler) krepiert, vorher aber brüllt er noch ein donnerndes Strafgericht über den lieben Gott. Dumpfbackige Matrosen halten die Zwischendeckpassagiere brutal in Schach, bis es zur Verbrüderung und offenen Meuterei kommt. „Deutschland, Deutschland, über alles“, singen die Aufständischen, dann regiert Anarchie, die Wasserfässer werden gestürmt, Frauen vergewaltigt und das mit geschmuggeltem Schießpulver überladene Schiff gerät in Brand. Einige können sich auf ein Floß retten, wo der schmutzige Überlebenskampf weitergeht. Im letzten Bild stehen die Glücklichen in Bademänteln vor einer flimmernden Großprojektion des aufstrebenden Amerika. Sie sind angekommen und träumen weiter von „Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit“.

Doch während im Bauch der Volksbühne der Schweiß der Schauspieler fließt, hat Kapitän Castorf im dichten Nebel längst den Kurs verloren und sein Schiff im Meer des Grauens versenkt.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 14. September 2009

Zum Spielplan: www.volksbuehne-berlin.de


© Text und Foto: Michael Bienert
















 










Michael Bienert
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