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KULTURMENSCHEN I UDO KITTELMANN


Kunst ist zum Denken da

Eigentlich ist er von Beruf Augenoptiker. Das aber hat Udo Kittelmann gelangweilt. Seit 2009 ist er Herr über die Berliner Nationalgalerie und hat sie schon gehörig umgekrempelt.

Von Elke Linda Buchholz

Lebhafte junge Leute wuseln durch die Ausstellungshallen des Hamburger Bahnhofs. „Super, oder?", meint Udo Kittelmann und schreitet mit zufriedener Miene durch „sein" Museum für Gegenwartskunst. Ruhigen Schrittes, als sei er fest entschlossen, sich keinesfalls hetzen zu lassen, auch wenn noch so viele Termine drängen. Besucher lümmeln auf knallbunten Sofas des Künstlers Franz West: Sie sind Gebrauchsmöbel und Kunst zugleich. Der Altersdurchschnitt, so erzählt Kittelmann stolz, liege bei dreißig Jahren. So jung wie in kaum einem anderen Museum.

Vor einem Jahr hat der 1958 in Düsseldorf geborene Kittelmann die Leitung der Berliner Nationalgalerie übernommen. Er ist damit Herr über sechs Häuser und 200 Jahre Kunstgeschichte vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sein Büro hat er, ohne zu zögern, bei der aktuellen Kunst aufgeschlagen. Kein einziges Kunstwerk schmückt dort die kahlen Wände. Im Vorraum liegen für die nächste Ausstellung, noch halb verpackt, Grafiken des amerikanischen Künstlers Walton Ford. Die riesigen, altmeisterlichen Aquarelle des hierzulande unbekannten Künstlers gleichen Tierillustrationen des 18. Jahrhunderts - bis man plötzlich feststellt, dass die schillernden Kolibris voll bitterbösen Humors und abgründiger Verweise auf die Kolonialgeschichte stecken.

Die Neugier auf Unbekanntes treibt Udo Kittelmann an, seit er vor über zwei Jahrzehnten das Handwerk des Augenoptikers mit der freien Kunst vertauschte. Mit Mitte zwanzig war ihm plötzlich klargeworden, dass ihm als Optiker ein langweiliges Leben drohte. Ohne Studium stieg er beherzt in den Kunstbetrieb ein, arbeitete bei einer Galerie und als freier Kurator, avancierte zum Leiter des Kunstvereins in Ludwigsburg und wenig später in Köln. Mit unorthodoxen Ausstellungen, etwa von Musikvideoclips, erregte er Aufsehen. Der von ihm für die Biennale von Venedig ausgewählte Gregor Schneider gewann mit seinem „Toten Haus u r" prompt den Goldenen Löwen. 2002 war der Außenseiter Kittelmann Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt. Den Anstoß für diese steile Karriere gab ein Kohlkopf.

Kittelmann erinnert sich noch genau. Sechzehn Jahre alt war er, als seine Kunstlehrerin eines Tages einen in Plastik eingeschweißten Kohlkopf mitbrachte. War das Kunst? Während die Mitschüler verständnislos lachten, ließ Kittelmann das von Dieter Roth geschaffene Objekt nicht mehr los. Noch nie hatte er einen Kohlkopf so betrachtet. Aus dem belanglosen Gemüse war plötzlich ein Gegenstand geistiger Auseinandersetzung geworden. Eine Initialzündung. Als Kittelmann in Berlin mit einer Neupräsentation des Hamburger Bahnhofs seinen Einstand gab, lud er auf der Pressekonferenz mitten in Dieter Roths raumfüllender „Gartenskulptur" zum Imbiss, umgeben von Holzlatten, flimmernden Monitoren, Topfpflanzen und lebenden Kaninchen. Den Ehrenplatz in der neu aufgemischten Dauerausstellung jedoch erhielt Marcel Duchamp, der Vater aller Readymades. Kittelmann platzierte dessen zum Kunstobjekt erklärtes Fahrrad-Rad mitten in der historischen Bahnhofshalle: „Auf einem Sockel!" Damit es die Besucher auch wahrnehmen: „Man darf nicht vergessen, viele Leute, die hier reinkommen, kennen Duchamp gar nicht."

Da ist der Quereinsteiger Realist. Er weiß, dass Kunst nicht für sich selbst sprechen kann. Trotz knapper Kassen hat er durchgesetzt, dass es jetzt jeden Tag zwei kostenlose Themenführungen gibt. Kunst ist für Kittelmann ein Mittel zur Kommunikation, ein Anlass zum Denken. Seinen Job versteht er als Bildungsarbeit. Und auf einmal klingt der Mann, der mit poppigen Ausstellungen Furore machte, wie ein Konservativer: Das Museum soll ein Ort der Erkenntnis sein. Aber Spaß machen muss es auch! Ihn interessiert, wo Kunst in Nichtkunst umschlägt und umgekehrt. Immer wieder hat er diese Grenze ausgetestet. In Frankfurt initiierte er ein mehrwöchiges Performance-Marathon, konfrontierte bei Ebay ersteigerten Trödel mit Sammlungskunst und ließ den Japaner Takashi Murakami das ganze Museum in ein Manga-Universum inklusive Shop verwandeln. Vergleichsweise harmlos wirken die Rieseninsektenmodelle, die Kittelmann aus dem Berliner Naturkundemuseum in den Hamburger Bahnhof einschleuste.

Doch von der kuratorischen Mode, aktuelle Kunst in die Sammlungen alter Meister zu verpflanzen, hält Kittelmann wenig. Dort solle die Kunstgeschichte im chronologischen Zusammenhang zu erleben sein. Überhaupt will er den ständigen Sammlungen seiner Häuser stärker zu ihrem Recht verhelfen. Etwa der Klassischen Moderne im Mies-van-der-Rohe-Bau, die unter Amtsvorgänger Peter-Klaus Schuster oft im Depot schlummerte. Das sich beschleunigende Karussell von Blockbusterausstellungen halte er für eine Fehlentwicklung. Das sagt der Mann, der selbst mit publikumswirksamen Inszenierungen Furore machte. „Ein Museum ist wie ein Baum: Die Sammlung ist der Stamm, die Sonderausstellungen sind die Äste. Die Zweige können Sie kappen, der Baum lebt trotzdem weiter. Den Stamm nicht." Keine schlechte Philosophie in den Zeiten der Finanzkrise.

Wer kaum Geld für Ankäufe hat, braucht großzügige Freunde. Der für seine exzellenten Kontakte zu Sammlern und Künstlern bekannte Kittelmann kann sich vor Einladungen und Vernissagen in der quirligen Berliner Kunstszene kaum retten. Doch Networking zahlt sich aus: „Seit einem Jahr haben wir einen unglaublichen Zuwachs an Schenkungen." Nur eines mache ihm bei den ganzen Terminen zu schaffen, meint Kittelmann lachend: das viele Essen. „Sehr, sehr zuversichtlich" ist der Direktor, dass die umfangreiche Friedrich-Christian-Flick-Collection dem Hamburger Bahnhof auch weiterhin als Dauerleihgabe erhalten bleibt, über die vertraglich zugesicherten sieben Jahre bis 2011 hinaus. Mit einer Bruce-Nauman-Ausstellung will Kittelmann dieses Jahr aus dem Vollen der Flick-Collection schöpfen. Überall im Haus soll man Bezüge zu Nauman entdecken. Draußen wartet die Künstlerin Rebecca Horn. Mit ihr verschwindet Kittelmann im Museumscafé. Vor Mitternacht wird auch dieser Tag nicht zu Ende sein.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 29. Januar 2010

KRITIK I Elke Linda Buchholz über Udo Kittelmanns Neupräsentation der Sammlungen im Hamburger Bahnhof >>>


© Text und Fotos: Elke Linda Buchholz



 

 
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
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