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THEATERTREFFEN 2011

Triumph der Migrantenkinder

Von Michael Bienert

Die Touristen an den Kaffeehaustischen im Sony-Center können einem schon ein bisschen leid tun. Als Sahnehäubchen zu Kuchen und Eis gibt es Ibsens „Nora“ auf der großen Videowand umsonst dazu. Man kann dem Schauspiel den Rücken zudrehen, aber weghören geht nicht. Aufdringliche Schauspielerstimmen nerven wie die Tonspur eines hektischen Zeichentrickfilms. Vom Großbildschirm glühen grellfarbige Grimassen in expressionistischer Stummfilmästhetik. Das Public Viewing des Theatertreffens ist eine großartige Nervensäge mitten im neuesten Postkartenberlin am Potsdamer Platz. Theatertreffen als Irritationsfaktor im öffentlichen Raum, nicht als gemütliches Branchentreffen wie im Haus der Festspiele, wo die Insider in den Pausen emsig ihre Netzwerke pflegen.
 
Der Regisseur Herbert Fritsch (Foto oben) hat Ibsens "Nora" alle naturalistischen Hüllen heruntergerissen und sie in ein grelloranges Puppenkleid gesteckt, warum auch nicht, schließlich hieß das Stück im Untertitel schon immer „ein Puppenheim“. Wie triebgesteuerte Maschinenmenschen fallen die Schweriner Schauspieler in Doktor Fritschs Horrorkabinett übereinander her. Dahinter steckt jedoch nicht das Konzept eines karrierebewussten Jungregisseurs, sondern der Überdruss eines Sechzigjährigen am Regietheater. Fritsch gehörte zu den Schauspielerstars in Frank Castorfs Volksbühnenensemble, als es noch Dauergast beim Theatertreffen war – lang ist´s her. Seit vier Jahren reist als Spielleiter in Theatermetropolen wie Oberhausen, Halle, Wiesbaden und Schwerin. Sein Credo: Bei ihm dürfen die Schauspieler endlich wieder Spaß an ihrem Beruf haben! Sie sollen keine Konzepte verkörpern, nicht um Authentizität oder Echtheit ringen, sondern vor allem: spielen, spielen, spielen bis zum Umfallen.
 
Mit diesem Rezept hat der Newcomer namhafte Großregisseure ausgestochen, die sich das Theatertreffen jetzt murrend von den Publikumsplätzen ansehen müssen. Oder auch explodieren wie Claus Peymann während der endlosen Schauspielerpolonaise beim Schlussapplaus von Fritschs „Biberpelz“-Spektakel aus Oberhausen. Das sei doch „Verblödungstheater“, tobte der Veteran, der sein Berliner Ensemble zu einem Totenhaus des politischen Theaters gemacht hat. Dagegen lässt Fritsch mit Vollgas alle Fragen nach einem höheren Sinn und politischer Relevanz hinter sich. Ein Slapstick jagt den nächsten, die naturalistischen Bühnenanweisungen von Gerhart Hauptmann sind nur gut, sich drüber lustig zu machen. Eine Blümchentapete auf Rollen reicht vollkommen aus, das Theater in ein schwindelerregendes Karussell zu verwandeln. So ähnlich, nur gemütlicher mag es im Volkstheater des 19. Jahrhundert zugegangen sein, ehe Regisseure und Dramaturgen ihr strenges Regiment errichteten. Fritschs Schauspieler drehen einfach allen Autoritäten eine Nase, mit Frische, Ensemblegeist und Kompromisslosigkeit.
 
Sollte das am Ende politischer sein als alle Bedeutungshuberei? Wie angestrengt  wirkte Stefan Bachmanns Versuch, der Mediengesellschaft den Spiegel vorzuhalten, in seiner Wiener Inszenierung von Kathrin Rögglas Stück „Die Beteiligten“ über den Fall Kampusch. Wie ermüdend zuletzt das Monologisieren und Wassergespritze in Karin Beiers Kölner Eröffnungsinszenierung mit Jelinek-Texten. Stark vor allem die Szenen, in denen ein vielköpfiger Chor die Schauspieler unterstützte. Bezeichnend für dieses Theatertreffen: Es gehört nicht den großen Solisten und Meisterdenkern, es gehört der Schwarmintelligenz hoch motivierter Ensembles.
 
Schön zu beobachten bei der Dresdner „Don Carlos“-Inszenierung von Roger Vontobel, die ganz einfach mehr war als die Summe ihrer Teile. Ein König (Burghart Klaußner) im grauen Anzug, bewacht von Bodyguards, ein ungeliebter Prinz (Christian Friedel) mit Kopfhörern auf den Ohren, eine in modische Kostüme gezwängte Königin (Sonja Beißweger) – all das gehört heute zur Stadttheaterkonvention wie früher die Ritterrüstungen und Säbel. Allein das klug austarierte Zusammenspiel erhob Schillers Drama zu einem packenden Liebes- und Politthriller: Bemerkenswert deshalb, weil so etwas grundsätzlich an jedem größeren Theater in Deutschland möglich sein müsste.

Das wahre Gänsehauttheater für Kopf und Herz aber kam aus dem Off: Im Kreuzberger Ballhaus Naunystraße hat eine junge Truppe mit sogenanntem Migrationshintergrund, angeführt von der Schauspielerin Sesede Terziyan, dem Regisseur Nurkan Erpulat und dem Dramaturgen Jens Hillje, ihr eigenes Stück zur Integrationsdebatte entwickelt. In „Verrücktes Blut“ zwingt eine Lehrerin ihre renitenten Schüler mit vorgehaltener Pistole dazu, bei einem Theater-Projekttag Szenen aus Schillers „Räubern“ und „Kabale und Liebe“ aufzuführen – bis zur finalen demokratischen Abstimmung darüber, ob ein krimineller Mitschüler hingerichtet oder eine Chance auf Besserung erhalten soll. Lustvoll werden alle Klischees über integrationsunwillige Zuwanderer ausgestellt und zerpflückt, deutsche Volkslieder angestimmt und Schillers weltbürgerliche Ideale hoch gehalten, dass einem die Tränen in die Augen schießen.

Kurz vor Beginn des Theatertreffens wurde bekannt, dass Shermin Langhoff, seit 2008 als Intendantin das Ballhaus Naunynstraße mitverantwortlich für den Aufbruch dieses „postmigrantischen Theaters“, zu den Wiener Festwochen wechseln wird. Ab 2014 soll Langhoff dort als stellvertretende Intendantin und Chefkuratorin tätig werden. Der Marsch der Migrantenkinder durch die deutschsprachigen Theaterinstitutionen gewinnt an Tempo, wie im Fußball spielen sie jetzt auch in der ersten Liga. Dass Schiller dabei nicht auf der Strecke bleiben muss, ist beiläufig auch bewiesen. Auf Wiedersehen bei künftigen Theatertreffen!

Das Theatertreffen endet am kommenden Wochenende mit Aufführungen von Christoph Schlingensiefs „Via Intolleranza II“, am Sonntag um 21.45 Uhr sendet 3sat eine Aufzeichnung. Dort wird auch „Verrücktes Blut“ am 6. August ausgestrahlt. Weiteres unter www.theatertreffen-berlin.de

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 20. Mai 2011

© Text und Foto: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro








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