Startseite



SAMMLUNG SCHARF-GERSTENBERG I DOUBLE SEXUS


Körperfantasien
Louise Bourgeois und Hans Bellmer begegnen sich in einer Ausstellung

Von Elke Linda Buchholz

"Wir empfehlen einen Ausstellungsbesuch erst ab 16 Jahren, da teilweise sexuelle Darstellungen zu sehen sind," warnen die Kuratoren auf der Website. In der Tat: Wer das Halbdunkel der historischen Remise in der Sammlung Scharf-Gerstenberg gegenüber vom Schloss Charlottenburg betritt, den erwarten multiple Busen, schwellende Gliedmaßen und Geschlechtsteile in jeder Gestalt und Größe. Die heikelsten Werke werden dezent unter dunklen Metallklappen verborgen in einem eigenen Kabinett präsentiert. Denn in der Ausstellung "Double Sexus" geht es ganz klar um das Eine. Doch eindeutig ist nichts in der obsessiven Auseinandersetzung des Künstlers Hans Bellmer und der in Paris geborenen Louise Bourgeois mit dem Körper und seinen geheimen Phantasien, Ängsten und Lüsten.

Verschmitzt lächelt die betagte Künstlerin von einem Großfoto mit ihrer Penis-Skulptur "La Fillette" unterm Arm. Das "Mädchen" aus rauhem Latex entpuppt sich, im Original ausgestellt, als Objekt von hintersinnig androgyner Gestalt, das männliche und weibliche Merkmale verquickt. Auch bei Hans Bellmer verformen sich die Körper, werden zu Puppen und Prothesen des Erotischen. Seine 1965 in glänzendes Aluminium gegossenen "Puppe" von 1935 besitzt Beinstümpfe, die prallen Brüsten oder phallischen ausgestülpten Hoden gleichen. Gliedmaßen duplizieren sich, werden fragmentiert und neu zusammengefügt. In minutiösen Zeichnungen erkundet Bellmer Auflösung und Metamorphosen der Körper, während Bourgeois in Textil, Gummi, Bronze und Stahl die Ambivalenzen zwischen Weich und Hart, schwellender Form und amorpher Formlosigkeit, Aggression und Zärtlichkeit auslotet. Für beide Künstler ist der Körper keine biologische Konstante: Körper ist, was man sich darunter vorstellt.

Die Begegnung von Bellmer und Bourgeois in einer Ausstellung ist eine Weltpremiere. Trotz ihres hohen Alters hat die Künstlern, die 98jährig in New York lebt, das Projekt unterstützt. Präzise arbeiten die Kuratoren in 60 Werken die frappierenden Korrespondenzen zwischen beiden Künstlern heraus, wobei Bellmers Arbeiten großenteils aus hauseigenen Beständen stammen. Auch Unterschiede werden in der thematischen Engführung spürbar, das latente Aggressionspotential Bellmers, der aufblitzende Humor in Bourgeois´ Arbeiten. Ob sich auch eine spezifisch männliche oder weibliche Sicht in den Werken manifestiert? Udo Kittelmann, der Direktor der Nationalgalerie und Ideengeber der Ausstellung, lässt diese Frage lieber offen.

Im wirklichen Leben sind sich die beiden Einzelgänger der Kunstgeschichte nie begegnet. Als die 1911 in Paris geborene Louise Bourgeois nach einem abgebrochenen Mathematik-Studium 1938 mit ihrem Mann nach New York aufbrach, traf Hans Bellmer auf der Flucht vor den Nazis gerade aus Berlin in der französischen Hauptstadt ein. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1975. Bereits in den 30er Jahren hatten die Pariser Surrealisten Bellmers erotische Fotoinszenierungen seiner "Poupée" veröffentlicht. Einem breiteren Publikum wurde er erst in den 60er Jahren bekannt. Louise Bourgeois erfuhr sogar erst mit über 70 Jahren internationale Anerkennung, als das Museum of Modern Art in New York ihr als erster Künstlerin eine Retrospektive widmete. "Yes I can - presist!!" hat sie 2008 in krakeliger Handschrift auf ihre jüngste in der Ausstellung gezeigte Arbeit geschrieben, neben eine riesige Tüll-Vulva und einen Phallus, der mit rotglühendem Flammenschweif emporsteigt.

Bis 15.8.2010
Di - So 10-18 Uhr
Katalog im Distanz Verlag mit literarischen Texten von Elfriede Jelinek und Henry Miller, 35 € (im Buchhandel 39,90 €)
www.doublesexus.org

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 15. Mai 2010
© Text und Foto: Elke Linda Buchholz



 


Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Die Zwanziger Jahre
in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt

Berlin Story Verlag
280 Seiten
19,80 Euro



Die Bücher
Audioguides
Stadtführungen
Aufsätze im www
Kulturrepublik
Theaterkritiken
Ausstellungen
Reisebilder
Kulturmenschen
Denkmalschutz

Aktuelles im Blog
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Impressum I Suche
Kontakt