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NEUE BÜCHER 2009  FRIEDRICH SCHILLER


Schiller und kein Ende


von Michael Bienert

Schillers Wirkung auf Frauen war beachtlich, und als er im Februar 1790 in aller Heimlichkeit die junge Charlotte von Lengefeld heiratete, flossen bei den Verehrerinnen die Tränen. Neuere Monografien über die Frauen um Schiller füllen mittlerweile ein Bücherregal; also wurde es Zeit für ein handliches Nachschlagewerk über den weiblichen Kosmos des Dichters. 42 knappe Porträts versammelt das dtv-Taschenbuch „Schillers Frauen" von Joseph Kiermeier-Debre, dabei liegt der besondere Reiz im Nebeneinander von realen und erfundenen Frauen aus Schillers Stücken.

Heimchen am Herd waren für den Dramatiker Schiller uninteressant, er benötigte starke, selbstbewusste und konfliktbereite Frauenfiguren. Auch wenn sie scheiterten, wiesen doch ihr Aufbegehren, ihr Machtinstinkt und ihre klare Diktion auf eine Zukunft voraus, in der sich Frauen größere Freiheiten erkämpften.

Schillers Gespür für die in den Frauen schlummernden Kräfte geht wahrscheinlich auf frühkindliche Erfahrungen zurück. Der Vater war im Schillerschen Haushalt oft abwesend. Neben der Mutter beschützte die ältere Schwester Christophine den kleinen Fritz. Sie war Spielgefährtin, Vertraute und seine Komplizin, als der junge Dichter später aus Württemberg desertierte. Zwei neue Biografien widmen sich dieser wichtigen Bezugsperson. Nah am Archivmaterial rekonstruiert Annette Seemann den langen Weg zur Selbstständigkeit, den Christophine als Stütze ihrer Eltern, dann als Ehefrau eines mit Schiller befreundeten Bibliothekars in Meiningen zurücklegte.

Ihre künstlerischen Anlagen wurden kaum gefördert, aber ausgenutzt: In der Ehe musste die begabte Stillebenmalerin Zeichenunterricht geben, damit das Einkommen reichte. Mit dem Bruder korrespondierte sie heimlich, um die Briefzensur des Ehemanns zu umgehen.

Christophines Schicksal zeigt die Enge des bürgerlichen Lebens in Schwaben, aus der sich auch der Bruder erst herauskämpfen musste. Einmal hat er die Schwester seine „erste Heldin" genannt. Diesen Faden nimmt Dieter Hildebrandt in seiner flüssigen Lebenserzählung auf. Mit großer Empathie zeichnet er das Bild einer Frau, die nichts Großes hinterlassen konnte, aber ihren oft schwierigen Alltag mit Tatkraft, Intelligenz und Herzenswärme meisterte. Nach dem Tod von Vater, Bruder, Ehemann und Vormund lebte sie noch viele glückliche Jahre in Meiningen, was ihrem betagten Biografen besonderen Respekt einflößt: Christophine sei eine „Avantgardistin des Älterwerdens" gewesen, sie habe das Altern als Lebenskunst beherrscht, während der kometenhafte Bruder in der halben Lebensspanne „kreative Selbstzerstörung" betrieb.

Schillers wichtigste Bezugsperson im letzten Jahrzehnt bis zu seinem frühen Tod mit 45 Jahren war Goethe. Rüdiger Safranski schreibt ihm in seiner „Geschichte einer Freundschaft" ebenfalls weibliche Qualitäten zu. Von Goethe habe der Kopfmensch Schiller das „Zutrauen zum Unbewussten" wiedererlernt, als er in einer kreativen Sackgasse steckte und zehn Jahre lang kein Stück mehr zu Papier brachte, sondern nur noch Geschichtswerke und philosophische Abhandlungen verfasste. Umgekehrt war Schiller für Goethe genau der Spiegel, durch den er mehr Klarheit über sein eher intuitives Dichten gewann. Nach einer langjährigen Inkubationszeit, die von Misstrauen und Rivalität bestimmt war, begriffen beide, dass sie sich als schöpferische Persönlichkeiten perfekt ergänzten. Schiller war Geburtshelfer für den „Wilhelm Meister"-Roman, Goethe drängte den Kollegen zum „Wallenstein" und führte bei der Weimarer Uraufführung selbst Regie.

Safranski erzählt sehr spannend, wie die Firma Schiller & Goethe in Schwung kam. Der Dichterbund war weit mehr als ein Zweckbündnis, beide Partner wuchsen - wie in einer gut funktionierenden Ehe - über sich hinaus. Die Hälfte seines Daseins sei ihm verloren gegangen, schrieb Goethe drei Wochen nach Schillers Tod. Den gemeinsamen Briefwechsel nannte Goethe „den größten Schatz, den ich vielleicht besitze" - noch zu seinen Lebzeiten gab er ihn selbst heraus.

Der verdiente Schillerforscher Norbert Oellers hat die Briefe in der Reclam Bibliothek jetzt neu ediert. Die historisch-kritische Ausgabe folgt den erhaltenen Originalbriefen. Deren struppige Orthografie und viele für Dritte kaum verständliche Anspielungen erwecken den Eindruck, als hätten die beiden Klassiker kryptische E-Mails in eine Tastatur gehämmert. Goethes Lohnschreiber konnten dem Sinn seiner Sätze oft nicht folgen und schrieben zum Beispiel „von Metall", wo er „formidabel" diktiert hatte.

So erfrischend unklassisch sich die Briefe in dieser Textgestalt lesen, so mühselig ist die Arbeit mit dem gut sechshundertseitigen Kommentarband. Denn was man zum Verständnis einzelner Briefe wissen müsste, ist auf mehrere Register verstreut, einen zusammenhängenden Kommentar hielt der Herausgeber für entbehrlich - leider.

Die Weimarer Verhältnisse um 1800 sind so fern gerückt, dass man sich über jeden Erzähler freut, der sie - auf dem neusten Stand der Forschung, versteht sich - zu vergegenwärtigen versteht. Der Berliner Publizist Friedrich Dieckmann, ein blitzgescheiter Kulturhistoriker mit DDR-Biografie, skizziert in seinem Buch „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume" das geistige und politische Panorama, das Schiller vor Augen hatte, als er mit Goethes Hilfe zum Drama zurückfand. Der blutige Fortgang der Französischen Revolution und die seither drohende Kriegsgefahr hatten ihn ins Mark erschüttert. Dieckmann erzählt, wie die große Politik ihre Spuren in Schillers Alltag, seinen Beziehungen, seinem Schreiben hinterließ.

Seine historischen Dramen werden so als Zeitstücke, was heißt: als Stücke auf der Höhe der Zeit lesbar. Abgerungen sind sie Schillers tiefer Desillusionierung, den Gang der Geschichte betreffend. Das neue Jahrhundert begrüßte er mit prophetischen Versen voller Melancholie: „Ach umsonst auf allen Länderkarten / Spähst du nach dem seligen Gebiet, / Wo der Freiheit ewig grüner Garten, / Wo der Menschheit schöne Jugend blüht."

Auch Walter Müller-Seidel führt - langatmiger als Dieckmann - in seinem Buch „Friedrich Schiller und die Politik" den Nachweis, dass und wie jener gegen Napoleons Aufstieg angeschrieben hat, bis hin zur Legitimierung des Tyrannenmords im „Wilhelm Tell".

Wie man Schiller heute noch als intellektuellen Sparringspartner benutzt, führt der in London lehrende Germanist Rüdiger Görner in seinem Buch „Schillers Apfel" vor. Der Titel bezieht sich nicht auf Tells Apfelschuss, sondern auf die gammligen Äpfel in Schillers Schreibtisch, deren Geruch ihn bei der Arbeit beflügelte. Görner schickt den Leser durch einen Gedankensteinbruch aus Reflexionen und Zitaten, in denen es nur so wetterleuchtet von Geistesblitzen. „Seine Zeitgenossenschaft ist radikal anachronistisch und gerade deswegen wertvoll", schreibt Görner über Schiller. „Sein Werk ist der ,faule Apfel" in unserer Schublade. Dessen großer Anspruch verfällt zwar seit zweihundert Jahren konstant, bleibt aber als Verfall erhalten. Schiller heute - ist eher Ferment als Mineralstoff."

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 18. November 2009



Joseph Kiermeier-Debre: Schillers Frauen. dtv Nr. 13769. 288 Seiten, 8,90 Euro.

Annette Seemann: Schillers Schwester Christophine. Insel Taschenbuch 3410. 256 S., 10 Euro.

Dieter Hildebrandt: Schillers erste Heldin. Hanser Verlag, München. 192 S., 17,90 Euro.

Rüdiger Safranski: Goethe & Schiller. Die Geschichte einer Freundschaft. Hanser Verlag, München. 344 Seiten, 21,50 Euro.

Schiller/Goethe: Der Briefwechsel. Reclam Verlag, Ditzingen. Zwei Bände mit 1808 Seiten, 54,90 Euro.

Friedrich Dieckmann: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume". Schillers Jahrhundertwende. Insel Verlag, Frankfurt am Main. 368 Seiten, 34 Euro.

Rüdiger Görner: Schillers Apfel. Szenen, Gedanken und Bilder. Berlin University Press, Berlin. 144 Seiten im Schuber, 64 Euro.

















 
Michael Bienert
Schiller in Berlin
oder Das rege Leben einer großen Stadt

Marbacher Magazin 106
Deutsche Schillergesellschaft
Marbach a. N., 2. Auflage 2005
88 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und farbigem Stadtplan
ISBN 3-933679-95-8
7 Euro

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