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THEATERKRITIK


Berlin Alexanderplatz. Freie Bühnenbearbeitung des Romans von Alfred Döblin mit Chören von Volker Lösch und dem Ensemble. Premiere an der Schaubühne am 13. Dezember 2009. Regie: Volker Lösch. Mit Sebastian Nakajew, Eva Meckbach, David Ruland, Felix Römer und 21 vorbestraften Mitbürgern.


Die Panzerknacker vom Kurfürstendamm

von Michael Bienert


Der Kurfürstendamm ist für Franz Biberkopf eine fremde Gegend. Im bürgerlichen Berliner Westen hat der Transportarbeiter, Zuhälter und Haftentlassene nichts zu suchen. Alfred Döblins Roman von 1929, der Biberkopfs Geschichte erzählt, heißt nicht umsonst „Berlin Alexanderplatz“. Auch heute würde Franz dort im Gewühl der kleinen Angestellten, Niedriglohnempfänger und Arbeitslosen zwischen den Weihnachtsmarktbuden gar nicht auffallen.

Auf dem Alexanderplatz und in der Haftanstalt Tegel, aus der Biberkopf in die Stadt entlassen wird, hat das Gefangenentheater „Aufbruch“ vor elf Jahren Szenen des Romans aufgeführt. Döblins Prosa mischte sich mit Aussagen aus Interviews, in denen Häftlinge über ihre kriminelle Karriere berichteten. Biberkopfs Geschichte entfesselte in den Eingeschlossenen eine imponierende Spiellust. Viel zu wenige Zuschauer konnten diese zweiteilige Theaterproduktion im Getriebe des Alexanderplatzes und hinter Gefängnismauern sehen.

Repertoireversionen von „Berlin Alexanderplatz“ gab es seit 1981 an der Volksbühne und seit 1998 am Maxim-Gorki-Theater, dort mit einem ungestümen Ben Becker als Biberkopf. Beide Inszenierungen mühten sich im Zwanziger-Jahre-Dekor, Großstadtatmosphäre zu simulieren. Frank Castorfs fünfstündige Züricher Adaption spielte vor Bauzäunen, Containern und Lichtreklamen in einer x-beliebigen Stadt der Gegenwart. Mit großem Erfolg gastierte sie 2005 in der Asbestruine des Berliner Palastes der Republik. Doch als die Inszenierung letztes Jahr in den Spielplan der Volksbühne übernommen wurde, war ihre Ausstrahlung dahin.

Der reale Alexanderplatz lag bei diesen Bemühungen um den Stoff immer in Sichtweite. Nicht so jetzt an der Schaubühne. Am Kurfürstendamm hat Volker Lösch einen unbefangeneren Zugriff auf Döblins Roman gewagt. Statt Respekt vor dessen Vielstimmigkeit brachte der Stuttgarter Hausregisseur seine Erfahrung mit der Inszenierung von Bürgerchören mit. Für sein Regiedebut in Berlin hat Lösch Haftentlassene und Freigänger gesucht. Zusammen mit der Stuttgarter Dramaturgin Beate Seidel und dem Chorleiter Bernd Freytag entwickelte Lösch aus Interviewprotokollen eine aussagekräftige Textcollage über die Lage von Straffälligen in unserer Gesellschaft. Ein Chor von 21 Betroffenen spricht ihn im Wechsel mit vier Ensemblemitgliedern. In knappen Szenen führen sie Biberkopfs neuerliches Abgleiten in die Kriminalität vor. Sebastian Nakajew spielt ihn agil, prollig und kampfeslustig in brauner Lederjacke.

Das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ hängt in Großbuchstaben über der weiten, an allen Seiten offenen Spielfläche. Ein dicker Teppich aus blinkenden, unter den Füßen knirschenden Kupfermünzen (von Carola Reuther) bedeckt sie. Geld macht sinnlich, das spürt man hier körperlich. Man möchte es anfassen, sich die Hosentaschen füllen und darin baden wie Dagobert Duck. Ungefähr in der Mitte des knapp zweistündigen Abends streift sich der bis dahin zivil gekleidete Kriminellenchor blaue Pluderhosen, rote Sweatshirts  und Disneymasken über: Die Panzerknackerbande schleppt immer größere Geldsäcke mit Deutsche-Bank-Logo herbei und türmt sie auf den Münzteppich.

Beim bloßen Nacherzählen klingt das nach plattester Symbolik, doch die drollige Choreografie hat Witz. Das soziologische Lehrstück bekommt einen ironischen Kick. An diesem Wendepunkt der Aufführung gewinnt auch der Durchschnittsmensch Biberkopf die Statur eines tragischen Helden. Auf der Suche nach einem Broterwerb ist er gegen seinen Willen in einen Raubzug der Panzerknackerbande geraten und verliert dabei seinen rechten Arm. Für die geschundene Kreatur gibt es nun erst recht keine Möglichkeit mehr, sich aus dem Kriminellenmilieu in ein normales Erwerbsleben zu hinüberzuretten. Vom soziologischen Forschungsobjekt, an dem man bis dahin viel über Alltagsprobleme einer stigmatisierten Randgruppe lernen konnte, verwandelt sich Nakajews Biberkopf in eine Bühnenfigur, deren hilflose Auflehnung Furcht und Mitleid erregt.

Die Randgruppe der Straffälligen sitzt anfangs unerkannt zwischen den Zuschauern, allmählich formiert sich daraus der Chor. Erst auf der Spielfläche wird er richtig unterscheidbar. Der Übergang ist fließend und wirkt überhaupt nicht ausgedacht. Verblüffend an diesem Abend sind nicht so sehr die Theatermittel, sondern die Abgeklärtheit, mit der Volker Lösch seine Idee von einem „Volks-Theater“ umsetzt. In Berlin eilte ihm der Ruf des Provokateurs voraus, statt dessen geht ein Präzionsarbeiter zu Werke.

Ratzpaff wird Biberkopf von seinen Mitspielern fertiggemacht, erst von dem Spießer Karl und dem Bandenboß Pums (beide schön schmierig von Felix Römer verkörpert), dann von dem falschen Freund Reinhold (David Ruland). Dessen sadistische Natur liegt bis zum Mord-Akt an Biberkopfs Mieze unter einer scheinbar harmlosen Oberfläche versteckt. Sämtliche Frauen Biberkopfs und Reinholds spielt Eva Meckbach. Kein Problem, all die Minnas, Cillys und Miezen sind ja auch austauschbar.

Wer den Roman gut kennt, wird die Tendenz Döblins zur einer mythischen Überhöhung der Biberkopfgeschichte vermissen; die Figuren bleiben sehr schemenhaft, insbesondere wenn man Fassbinders Filmadaption im Hinterkopf hat. Doch das ist der konsequenten Logik einer Aufführung geschuldet, die den Fokus auf die Austauschbarkeit von Menschen in einer geldfixierten Gesellschaft richtet.  Der Unterschied zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen ist nicht sehr groß, so Löschs sachliche Diagnose, wenn man die nichtverschuldeten Umstände rausrechnet, die sie hindern, ein Leben als Durchschnittsbürger zu führen.

Der Franz Biberkopf vom Kurfürstendamm hat seinen Stolz. Er will nicht als „Sozialschmarotzer“ verachtet werden und auch etwas vom gesellschaftlichen Reichtum abhaben. Für ihn gibt es keinen Weg zum Ziel als das Verbrechen. Für die Großkriminellen in den Chefetagen schon. Am Ende der Aufführung schwelgt der Chor in Erinnerungen an geglückte Betrügereien und Raubzüge. Eine Provokation für stramme Juristen, Polizisten, Rechtspolitiker und Kriminalitätsopfer, gewiss. Das gewöhnliche Theaterpublikum empfindet anders: Ungeteilter Jubel an der Schaubühne für Volker Löschs Resozialisierungstheater!

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 15. Dezember 2009

Zum Spielplan: www.schaubuehne.de


© Text: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro



VON STUTTGART NACH BERLIN:


DER REGISSEUR. Die Arbeiten von Volker Lösch, der seit 2005 zur künstlerischen Leitung des Stuttgarter Staatstheaters gehört, werden in der Hauptstadt seit Jahren intensiv diskutiert, doch Einladungen zum Theatertreffen blieben aus. Erst 2009 hat die Jury seine Hamburger Inszenierung „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“ mit Hartz-IV-Empfängern berücksichtigt. Nun setzt er an der Schaubühne mit seiner ersten Inszenierung einen neuen Akzent.

DER HAUPTDARSTELLER. Sebastian Nakajew und Volker Lösch haben bereits in Stuttgart erfolgreich zusammengearbeitet, unter anderem in „Dogville“ und „Faust 21“. Nakajew wurde 1976 in Eisenhüttenstadt geboren und studierte an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“. Seit dieser Spielzeit ist er festes Ensemblemitglied an der Schaubühne.








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