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AUSSTELLUNG
I KUNSTMUSEUM WOLFSBURG


Goethe und der Gugelhupftopf
Rudolf Steiner in der Kunst der Gegenwart

Von Elke Linda Buchholz

Farbige Kreide markiert schwungvolle Linien und eine Spirale auf der schwarzen Wandtafel. "Das Äußere wird Inneres. Das Innere wird Äußeres", steht in krakelig-markanter Handschrift daneben. Handelt es sich um eine der berühmten Wandtafelzeichnungen von Joseph Beuys? Nein, auch der charismatische Vortragsredner Rudolf Steiner hat seine Gedanken der Zuhörerschaft gern bildlich vor Augen geführt: "Man muss ebenso denken können in Farben, in Formen, wie man denken kann in Begriffen, in Gedanken." Jetzt hängen die von Verehrern sorgsam aufbewahrten Relikte seiner Liveauftritte als Kunstwerke im Wolfsburger Museum. Die rasch hingezeichneten Diagramme wirken überraschend frisch und lebendig.

Das geistige Erbe des Anthroposophen Rudolf Steiner will die Ausstellung "entsteinern" und aus der sektiererischen Enge eingeschworener Traditionswahrer befreien. Auf zwei unterschiedlichen Wegen nähert sich das großangelegte Projekt dem Protagonisten und seiner ausufernder Gedankenwelt. Der erste Teil der Ausstellung spürt der Präsenz Rudolf Steiners in der Gegenwartskunst nach. Gegenüber von der spiraligen Wandtafelskizze ist eine große Installation von Mario Merz aufgebaut. Auf dem spiralförmigen Glastisch liegt Frischobst appetitlich ausgebreitet. Zugreifen darf man allerdings nicht.

Dafür steht eine Koje weiter eine weißgewandete Masseuse bereit, um die Besucher in das Sehen innerer Farben mittels ayurvedischer Berührungspunkte einzuweihen: Eine Konzeptarbeit des indisch-britischen Künstlers Anish Kapoor. Figurinenentwürfe Steiners für Eurythmie-Tänze werden neben einem regenbogenbunten Tanzvideo von Simon Dybbroe Møller gezeigt. Olafur Eliassons geometrisch ausgeklügelte Spiegelobjekte stehen für den anthroposophischen Anspruch, Kunst und Wissenschaft ganzheitlich zu verknüpfen. Doch die Korrespondenzen wirken teils allzu formal, teils reichlich beliebig. In Formen und Farben denken? Welcher Künstler täte das nicht!
 
 Fragt man die ausgewählten Künstler nach ihrem Verhältnis zu Steiner, so relativieren sie: Kaum einer hat sich in seine Schriften vertieft. Der junge Berliner Maler Bernd Ribbeck meint: "Erkenntnistheoretisch stellen sich mir da die Haare auf." Den Düsseldorfer Jan Albers fasziniert vor allem der allumfassende Gestaltungsfuror des Anthroposophen, der von der Türklinge bis zur Brosche alles seinem Stil unterwarf. Die Malerin Katharina Grosse schwingt ein bunt besprühtes Farbelement 15 Meter hoch in den Raum. Sie beschäftigte sich ohnehin gerade mit dem Wechselspiel von Innen und Außen, von architektonischem Raum und bemalter Fläche, als sie von den Kuratoren angefragt wurde. Nun steht ihr Objekt für die Aktualität von Steiners Inside-Out-Prinzip. Alles hängt eben mit allem zusammen. Der Schweizer Maler Helmut Federle stellte eine Originalsitzgruppe aus dem Umkreis Steiners als Leihgabe zur Verfügung. Einen unmittelbaren Einfluss auf seine abstrakten Bilder bestreitet er allerdings: "Die Steinersche Malerei fand ich eher grauenhaft. Die spirituelle Qualität des Schöpferischen hat mich interessiert." Keiner der Künstler mag sich vorbehaltlos zu Steiner bekennen. Dessen Wahrheitsanspruch und Lebensphilosophie ist den meisten eher suspekt.

Scharlatan oder visionärer Geist? Schon die Zeitgenossen polarisierte der 1861 in Österreich-Ungarn geborene Beamtensohn. Seine Laufbahn begann er als Goetheforscher, Atheist und Nietzsche-Verehrer, bevor er seine eigenen Theorien in Auseinandersetzung mit theosophisch-mystischen Geheimlehren  entwickelte. Steiner amalgamierte westliche und östliche Denktraditionen: ein Katalysator mit missionarischem Impetus. Kandinsky war begeistert, Kafka und Mondrian schrieben ihm Briefe. Den gestalterischen Aktivitäten Steiners als Designer und Architekt geht der zweite, dokumentarisch angelegte Teil der Ausstellung mit rund nach. Den Auftakt bildet eine imposante Bücherwand mit seinem gedruckten Gesamtwerk. Vorbei an einem Gipsentwurf Steiners für die emphatische Großplastik "Der Menschheitsrepräsentant zwischen Luzifer und Ahriman" geht es hinein in das gestalterische Klima des frühen 20. Jahrhunderts. Van de Velde-Möbel und Bruno Tauts Glaspavillon, Karl Blossfeldts Pflanzenformen und die expressionistische Filmwelt des "Dr. Caligari" eröffnen das Spektrum, in dem Steiners gestalterische Ideen sich entwickelten. Bald kristallisiert sich der typisch anthroposophische Stil mit seinen abgeschrägten Kanten und seiner organisch-dynamischer Ästhetik heraus. Wuchtig wie für die Ewigkeit stehen ganze Zimmereinrichtungen aus massivem Naturholz da. Mehr von der Dynamik des Wachsens und Werdens strahlen die aus Gips geformten Architekturentwürfe aus. "Gugelhupftopf" schrieb Steiner neben eine erste Skizze des Goetheanums. Ganz aus Holz errichtet, brannte der erste Bau Ende 1922 ab. Der Nachfolgerbau wurde aus Beton errichtet: Ein wegweisender Meilenstein der organischen Architektur, die dem geometrischen Funktionalismus der Moderne bis heute Paroli bietet. Frank O. Gehry bekennt sich zu Steiner als Anreger. Auch Hans Scharoun knüpft daran an, dessen 1973 in Wolfsburg errichtetes Stadttheater in Sichtweite zum Kunstmuseum steht.

Im Alltag ist Steiner heute gegenwärtiger als in der Kunst. 1919 wurde in Stuttgart, finanziert von der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, die erste Waldorfschule gegründet. Wenige Jahre später nahm in Schwäbisch Gmünd die Firma Weleda den Betrieb auf, die bis heute unter dem von Steiner gezeichneten Firmenlogo firmiert. Ohne seine nachhaltig wirkende Impulse wären die Regale der Biosupermärkte leerer, die Schullandschaft wäre weniger bunt und die Biolandwirtschaft vielleicht noch gar nicht aufgekeimt.

Bis 3.10. 2010, Di 11-20, Mi - So 11-18
Katalog Rudolf Steiner und die Gegenwartskunst, DuMont-Verlag, 38 €
Katalog Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags. Vitra Design Museum Verlag, 79,90 €

www.kunstmuseum-wolfsburg.de



Weitere Stationen in Stuttgart und Weil am Rhein

Die zweite Station der Rudolf Steiner-Ausstellung wird "ein Heimspiel", wie Ulrike Groos, die Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart, ankündigt. Schließlich entwickelte sich Stuttgart schon zu Steiners Zeiten zu einem lebhaftem Zentrum der Anthroposophie. Das Kunstmuseum hat die Ausstellung "Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart" in Kooperation mit Wolfsburg organisiert. Vom 5. Februar bis 22. Mai 2011 sind beide Teile der Ausstellung - zum 150. Geburtstag Steiners - hier zu sehen. Den dokumentarischen Ausstellungsteil zu Design und Architektur kuratierte das Vitra Design Museum. Dort in Weil am Rhein, nur 15 Kilometer von Dornach entfernt, wird das ganze Kooperationsprojekt ab Herbst 2011 gezeigt. Weitere Stationen in der Schweiz und in Österreich sind geplant.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 18. Mai 2010
© Text und Fotos: Elke Linda Buchholz



 


Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Die Zwanziger Jahre
in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt

Berlin Story Verlag
280 Seiten
19,80 Euro



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