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MUSEUM FÜR NATURKUNDE


Eine Million Tiere in 80 Tonnen Alkohol

Der kriegszerstörte Ostflügel ist wieder aufgebaut, mit einer farbigen Jubiläumsausstellung feiert das Berliner Museum für Naturkunde seinen 200. Geburtstag.

Von Michael Bienert

Jedes Kind weiß, wie ein Dinosaurier aussieht. Aber lebendig erblickt hat so ein Tier noch kein Mensch. Alle Bilder, die wir davon haben, sind Rekonstruktionen. Das gilt auch für das 150 Millionen Jahre alte Skelett eines Brachiosaurus, das so imponierend den Lichthof des Berliner Naturkundemuseums füllt. Nur etwa 80 Prozent der Knochen, räumt Museumsdirektor Reinhold Leinfelder ein, seien ausgegraben worden. Bei näherem Hinsehen kann man die ergänzten Teile an der glatteren Oberfläche und Färbung leicht erkennen. Die Entscheidung des Museums, das Saurierskelett nicht nur als archäologischen Torso zu präsentieren, ist vor allem eine Referenz an die wissenschaftlichen Laien. Mit 500.000 Besuchern jährlich gehört das Berliner Naturkundemuseum zu den größten Attraktionen in der Hauptstadt, nicht zuletzt dank der Künste seiner Präparatoren, die aus toten Knochen, Fellen und Federn lebendig wirkende Tierplastiken modellieren.

Eine Art Dinosaurier ist auch das Naturkundemuseum selbst. Es hütet 30 Millionen Sammlungsobjekte, die seit dem 18. Jahrhundert zusammengetragen wurden, zunächst in der Königlichen Kunstkammer, seit 1810 im Universitätsgebäude Unter den Linden und seit 1889 in einem gewaltigen Museumskomplex an der Invalidenstraße. Er war von vorherein auf Erweiterung angelegt. Vom Anbau eines Querflügels im Ersten Weltkrieg bis zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung geschah jedoch wenig, daher hatten Besucher bis vor ein paar Jahren den Eindruck, das Museum eines Museums zu betreten. Um es zu sanieren und zu modernisieren, wollen der Bund und Berlin insgesamt 128 Millionen Euro in das Haus stecken. Knapp 30 Millionen kostete allein der nun abgeschlossene Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Ostflügels.

Damit verliert der Museumskoloss den Charakter eines Torsos und präsentiert sich wieder in voller Größe. Ähnlich wie bei der Rekonstruktion des Brachiosaurus wurde die Fehlstelle in der Ostfassade sehr diskret geschlossen, ohne den Unterschied zur Originalsubstanz zu verwischen. Das bei der Gesamtsanierung federführende Architekturbüro Diener & Diener ließ die erhaltene Ziegel- und Sandsteinfassade teilweise in Silikon abformen und die Negative mit Beton ausgießen. So entstanden bis zu 42 Tonnen schwere Wandteile, die millimetergenau in die denkmalgeschützte Substanz eingepasst wurden. Die betongrauen Fassadenelemente nehmen nicht nur den Rhythmus des gelblichen Originalmauerwerks auf, sie wirken durch die feinen Unebenheiten der Vorlage auch ebenso lebendig. Unten stößt das Neue an Steinbalken, die von Bombensplittern und Einschüssen zernarbt sind: Die Fassade erzählt von der Wucht der Zerstörung und von der Sehnsucht, den Gesamtorganismus zu heilen, indem das Unwiederbringliche durch eine kunstvolle Prothese ersetzt wurde.

Auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie der Fassade bliebe der Unterschied zwischen Alt und Neu unsichtbar, gäbe es nicht einen weiteren Verfremdungeffekt:  Die originalen Fensteröffnungen sind vollständig vermauert, während die Betonabdrücke zumindest das Gitterwerk der Fensterrahmen nachzeichnen. Kein Tageslicht soll in den wiedergewonnenen Museumsflügel fallen. Er dient jetzt als Depot für eine Million empfindlicher Tierpräparate. Sie lagern in 276.000 Gläsern, aufgefüllt mit 80.000 Litern Alkohol. Für diese so kostbare wie explosionsgefährdete Sammlung gelten strengste Brandschutzauflagen.

Um den Besuchern dennoch einen Einblick zu erlauben, haben die Architekten im Erdgeschoss einen Glaskasten gebaut, der die große Ausstellungshalle so weit ausfüllt, dass man gerade noch bequem drum herumgehen kann. Innen befindet sich ein Eldorado für Forscher, in sechs Meter hohen Regalen stapeln sich die Gläser mit Fischkonserven bis zur Decke, von außen wirkt dieses helle erleuchtete Schaufenster der Wissenschaft wie ein aberwitzige Kunstinstallation. Für die Öffentlichkeit unsichtbar sind hoch oben unterm Dach moderne Arbeitsräume für die Präparatoren entstanden, dort sieht es so ähnlich aus wie in Operationssälen eines Krankenhauses. Ein feines Geschenk zum 200. Geburtstag, den das Naturkundemuseum zusammen mit der 1810 gegründeten Humboldt-Universität begeht.

Deren Namensgeber Alexander vom Humboldt gehörte zu den Forschungsreisenden, denen das Museums seinen Reichtum verdankt. Humboldt vermachte ihm auch den Papagei „Jakob“, der 30 Jahre lang in der Wohnung des Forschers lebte. Erst bei der Präparation für das Museum stellte sich heraus, dass Jakob in Wahrheit ein Weibchen war. Jetzt ist der ausgestopfte Vogel in der farbigen Jubiläumsausstellung zur Geschichte des Museums zu sehen, die von vielen kuriosen Begebenheiten erzählt. Nur das Holzgestell überdauerte vom Ausstellungsstück eines kapitalen Ebers, den der preußische König Friedrich Wilhelm I. 1721 erlegte. Dagegen sehen Schmetterlinge oder Vogelbälge, die vor Forscher im 19. Jahrhundert von Expeditionsfahrten mitbrachten, oft so frisch aus, als wären sie erst letzten Sommer eingefangen worden. Einer war der Dichter Adelbert von Chamisso. Auf seiner Weltreise mit einem russischen Forschungsschiff beobachtete er Wale in arktischen Gewässern, und da er sie schwerlich mit nach Berlin bringen konnte, ließ er kleine Holzmodelle schnitzen, die er dem Museum schenkte.

Eine ganze Wand voller Antilopenschädel erzählt von der Schießwut der Besatzungen in den deutschen Kolonien und dem Anschwellen der Sammlungen in der Kaiserzeit. Die erste deutsche Tiefsee-Expedition beförderte 1898 unbekannte Fische und Krebse ans Tageslicht, bis 1913 bereicherte allein die Tenaduru-Expedition in Ostafrika das Museum um 250 Tonnen Fossilien und Gesteine. Der Obernazi Hermann Göring machte das Museum 1937 zum Schauplatz einer Internationalen Jagdausstellung, der Biologe und SS-Obersturmführer brachte eine einmalige Sammlung von Insekten und Vogelbälgen aus Tibet mit. In den DDR-Jahren war zwar der Kontakt zu Forschern im westlichen Ausland erschwert, dafür förderte die sozialistische Völkerfreundschaft versteinerte Pflanzen in der mongolischen Steppe zutage. Das Bruderland Kuba erlaubte es 1967 der DDR, ein komplettes Korallenriff in 41 Kisten nach Berlin zu transportieren, um es in einem Diorama auszustellen.
 
Heute firmiert das Naturkundemuseum als Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung: Es ist Bildungsanstalt, Archiv der Wissenschaft und zugleich eine weltweit vernetzte Forschungseinrichtung. Der Dinosaurier in der Wissenschaftslandschaft ist quietschlebendig.

Erstdruck (gekürzt): STUTTGARTER ZEITUNG vom 15. Juli 2010
Weitere Informationen: www.mfn-berlin.de



© Text und Fotos: Michael Bienert






Die Jubiläumsausstellung Klasse, Ordnung, Art läuft noch bis 28. Februar 2011.

Das gleichnamige Begleitbuch ist im Verlag Basilisken Presse erschienen (336 Seiten, 29,90 Euro).







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