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KUNSTFESTSPIELE HERRENHAUSEN
2010

Mit Leibniz unter Palmen

von Michael Bienert
 
Oberbürgermeister von Hannover zu sein, macht gerade richtig Spaß. Erst gewinnt die fesche Lena beim europäischen Sängerwettstreit in Oslo und bekennt sich bei ihrer triumphalen Rückkehr zu ihrer Heimatstadt. Dann nominiert die Berliner Koalition den niedersächsischen Regierungschef für das Amt des Bundespräsidenten. Vor dem Büro des Oberbürgermeisters Stephan Weil stehen Reporter Schlange, die über die „Hannoveranisierung der Republik“ berichten wollen. Besser kann es nicht laufen für eine Landeshauptstadt, die sich nach Weils Aussage „einem harten Standortwettbewerb zu stellen hat“. Dabei gehe es vor allem darum, Menschen an Hannover zu binden. Und deshalb gibt sich die Stadt richtig viel Mühe, auch als Kulturmetropole zu glänzen.

Im Sprengel-Museum mit seiner atemberaubenden Sammlung der klassischen Moderne hängen die Pläne für einen Erweiterungsbau aus, der in drei bis vier Jahren fertig sein könnte. Noch schneller soll der Wiederaufbau der welfischen Sommerresidenz Schloss Herrenhausen voran schreiten. Die VW-Stiftung, die größte Wissenschaftsstiftung in Europa, plant hinter der barocken Fassade ein modernes Tagungszentrum, in dem sich Forscher aus aller Welt treffen sollen. Während anderswo Theater geschlossen werden, finden im Park und erhaltenen Nebengebäuden der kriegszerstörten Schloss Herrenhausen seit diesem Wochenende erstmals ambitionierte Festspiele statt. Wie ist das möglich?

Hannover hatte bis zum Einbruch der Steuereinnahmen durch die Finanzkrise einen ausgeglichenen Haushalt, erklärt Kulturdezernentin Marlis Drevermann. Die Lage ist bei weitem nicht so hoffnungslos wie im hoch verschuldeten Köln oder Wuppertal. Es gibt einen Willen, nach vorne zu denken und in Kultur zu investieren. „Krise heißt Neuanfang“, sei also im Grunde etwas Positives, meint Elisabeth Schweeger, die erste Intendantin der „Kunstfestspiele Herrenhausen“. Bis 2009 leitete Schweeger das Schauspiel Frankfurt. Früher arbeitete sie auch schon als Ausstellungskuratorin und schätzt exzentrische Grenzgänge zwischen den Künsten.

Als Schutzpatron für ihre neues Projekt hat sich Schweeger den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz erkoren, der an den Planungen des Schlossgartens in Herrenhausen um 1700 beteiligt war. Leibniz hatte die Vision, den Park als „Theater der Natur und Kunst“ zu nutzen, als Schauplatz für die Darbietungen von Maschinen, Zaubertricks und wissenschaftlichen Experimenten, anatomischen Vorlesungen, gelehrten Disputen, Schauspielen und Konzerten. Spielerisch sollten die Besucher an neues Wissen herangeführt und zu eigenen Ideen angeregt werden.

Zur Eröffnung der neuen Festspiele bat Schweeger den Hirnforscher Wolf Singer, das Leibnizsche Programm mit Erkenntnissen der Neurophysiologie zu unterfüttern. Die Fähigkeit zum Spielen sei uns angeboren, argumentierte Singer in seiner Festrede, weil sie überlebensnotwendig sei. Erst durch Spielen entwickle das menschliche Gehirn seine volle Funktionstüchtigkeit. Das Verhalten werde dabei feiner an die gegebene Umwelt angepasst, als dies durch eine starre genetische Programmierung möglich wäre.

Dem wissenschaftlichen Diskurs in der barocken Orangerie folgte sofort ein Mark und Bein erschütterndes Schlagzeugsolo der amerikanischen Virtuosin Robyn Schulkowsky, anschließend lockten vier afrikanische Trommler die Festgesellschaft in den abendlichen Park. Dort stellte der Architekt Francis Kéré den Stand seiner Planungen für das von Christoph Schlingensief initiierte Operndorf in Burkina Faso vor. Vor Ort hat Schlingensief eingesehen, dass erst eine soziale Infrastruktur aufgebaut werden muss, ehe die künstlerische Produktion anlaufen kann. Ein Schule für 300 Kinder ist schon fast fertig. Im Park von Herrenhausen ließ sich Schlingensief durch lebensgroße Pappfiguren und eine Videobotschaft vertreten. Er war kurzfristig nach Burkina Faso geflogen, um den Schaden zu begrenzen, der durch den Rücktritt Horst Köhlers  drohte. Denn eigentlich wollte Köhler dieser Tage die Operndorfbaustelle besuchen, die Absage des Bundeshäuptlings traf die afrikanischen Gastgeber völlig unvorbereitet.

Nach der Präsentation von Schlingensiefs Utopie war das Publikum eingeladen, an langen Banketttischen im barocken Festsaal der Galerie von Herrenhausen Platz zu nehmen. Auf den Tischen schmetterten Bläser des Berliner Kammerensembles Kaleidoskop schmissige Tanzmusik. Sie eröffneten die Hochzeitsfeierlichkeiten für Orfeo (Carl Ghazarossian) und Euridice (Isa Gericke) in Monteverdis Oper „Orfeo“. Dieses Event, musikalisch geleitet von dem schwedischen Dirigenten Olof Boman, setzte sich in der Pause im Garten fort und erreichte dann seinen überraschenden künstlerischen Höhepunkt in der Orangerie.
Dort inszenierte der junge Regisseur Alexander Charim das Scheitern Orfeos bei dem Versuch, seine Geliebte aus der Unterwelt zurück ans Tageslicht zu holen, als Künstlertragödie in einer unterhaltungssüchtigen Gesellschaft, angereichert mit Texten des Rockmusikers Kurt Cobain. Sänger und Musiker standen und spielten gemeinsam auf der Bühne, ein so offenes Miteinander erlebt man selten im Musiktheater.
Die Barockoper am historischen Ort als quicklebendiges, beglückendes Gegenwartstheater, dieser heiße Wunsch der Intendantin ging spät am Eröffnungsabend tatsächlich in Erfüllung. Draußen vor der Orangerie wartete auf das Publikum eine laue Juninacht unter Palmen: Da wunderte es niemanden mehr, dass der Oberbürgermeister sich in seiner Begrüßungsansprache fröhlich verhaspelte und statt von der Kulturstadt schon mal von "Hannover als Kurstadt" sprach.

Die Kunstfestspiele präsentieren bis zum 27. Juni 2010 rund 40 Aufführungen, Installationen, Workshops und Diskussionen. Informationen unter
www.kunstfestspieleherrenhausen.de


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 7. Juni 2010
© Text und Fotos: Michael Bienert



 


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