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INTERNATIONALE BAUAUSSTELLUNG 2010

STADTUMBAU IN SACHSEN-ANHALT


Schöner schrumpfen

von Michael Bienert

„Stadtentwicklung rückwärts haben wir im Studium nicht gelernt“, erzählt Sonja Beeck im Bus nach Dessau. Seit acht Jahren tourt die Stadtplanerin durch Sachsen-Anhalt und hat sich in der Praxis zur Expertin für Stadtschrumpfung fortgebildet. Was tun mit Ortschaften, denen ein Viertel ihrer Bevölkerung abhanden gekommen ist? Was anfangen mit verödeten Altstädten, entvölkerten Plattenbauquartieren und Fabrikruinen, die der Zusammenbruch der DDR-Chemieindustrie um Bitterfeld und Wolfen hinterlassen hat? Die Stadtplanerin aus dem Projektbüro der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Sachsen-Anhalt weiß auch kein Patentrezept: „Jede Stadt muss ihren eigenen Weg finden.“

Stararchitekten und spektakuläre Leuchtturmprojekte hat die „IBA Stadtumbau“ nicht vorzuweisen. Statt dessen kann Sonja Beeck wunderbar Geschichten von der Auseinandersetzung mit Bürgermeistern, Planungsämtern und Einwohnern erzählen. Als Fragende sind die Planer in die Städte gegangen. Die Bevölkerung sollte selbst die Stärken, Potentiale und ein spezifisches IBA-Thema benennen. Das Ziel war, die Aufenthalts- und Lebensqualität in den Siedlungskernen dauerhaft zu verbessern, um die Abwanderung zu bremsen.

Die Kleinstadt Köthen lebte bis zur Wende vom Bergbau und der Maschinenbauindustrie. Die nächste Autobahn ist zu weit weg, um sich Hoffnungen auf Neuansiedlungen mit vielen Arbeitsplätzen zu machen. Daher besinnt sich die 900 Jahre alte Gemeinde auf ihre kulturelle Tradition: In Köthen wurde 1617 mit der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ die erste Vereinigung zur deutschen Sprachpflege gegründet, Bach komponierte dort sein „Wohltemperiertes Klavier“ und Samuel Hahnemann gründete den Zentralverein Homöopathischer Ärzte. Seit der Wiedervereinigung entwickelte sich Köthen ungeplant zu einem Wallfahrtsort für Anhänger der Homöopathie. Darauf reagierte die Gemeinde mit der Einrichtung eines  „Homöopathiepfads“ und lockte die „Europäische Bibliothek der Homöopathie“ aus Hamburg in ein saniertes Klosterspital. Derartige Imagepflege treiben auch andere Städte, neu ist die Anwendung der homöopathischen Krankheitslehre durch ein Team aus Stadtplanern und Ärzten. Als Patienten wählten sie ein Altstadtstraße aus, in der 14 marode Häuser kurz vor dem Abriss standen. Nach einer gründlichen Anamnese versuchten das Team durch gezielte Interventionen die Selbstheilungskräfte in der Bürgerschaft anzuregen. Eines Abends schalteten die Stadtplaner einfach die Straßenbeleuchtung aus und setzten die Abrisskandidaten mit Scheinwerfern dramatisch in Szene. Aufgeschreckte Anwohner kauften bedrohte Nachbarhäuser, um sie zu sanieren, der Niedergang der Straße wurde gestoppt.

Bernburg hat seine Schule am Stadtrand geschlossen und in den alten Stadtkern verpflanzt, dort sorgt ein neuer Bildungscampus für  Wiederbelebung. In Wittenberg sind die Kultur- und Bildungseinrichtungen besser vernetzt worden und ersetzen so die verlorene Universität. Das Geburtshaus Luthers in Eisleben hat ein modernes Besucher- und Ausstellungszentrum bekommen, ein Schub für die ganze Altstadt. Ganz anders die Ausgangslage in Stassfurt: Als Spätfolge des Kalibergbaus versank der historische Stadtkern unrettbar in einem Erdloch. Dort kräuselt sich nun ein künstlicher See.

Anderswo hilft nur noch Stadtchirurgie. Dessau hat seit der Wiedervereinigung 25.000 Einwohner, ein Viertel der Bevölkerung, verloren, die Stadt schrumpft weiter um 800 Einwohner pro Jahr. Über 10.000 Wohnungen sind überflüssig und müssen aus dem Stadtbild verschwinden. Dafür gibt es einen Plan, der langfristig einen 90 Hektar großen Landschaftszug mitten durch Dessau und die Stärkung der verbleibenden Siedlungskerne vorsieht. Doch die Operation drohte am Widerstand verstörter Anwohner und Grundeigentümer zu scheitern. Eine von der IBA unterstützte Planungswerkstatt versucht den Prozeß in konstruktive Bahnen zu lenken. So wird der Bevölkerung angeboten, Pflegepatenschaften für jeweils 400 Quadratmeter große Felder zu übernehmen. Dass es gelungen ist, 19 solcher „Claims“ und ein Informationssystem entlang eines Radwegs zu etablieren, sehen die Planer schon als Erfolg an. Wer von außen kommt, wird in den notdürftig begrünten Freiflächen, die nach dem Abriss ganzer Straßenzüge zurückgeblieben sind, schwerlich eine attraktive Stadtstruktur entdecken. Dessau bleibt eine extrem fragmentierte Siedlung mit viel Leerraum und überdimensionierten Verkehrswegen, auf denen kaum ein Mensch unterwegs sind. Und wer es nicht weiß, käme nicht auf den Gedanken, dass sich hier gerade eine Bauausstellung der internationalen Öffentlichkeit präsentiert - so verschämt wird dafür im Stadtbild geworben.

Dabei passt Bescheidenheit zu einer urbanistischen Veranstaltung, die sich das Motto „Weniger ist Zukunft“ auf die Fahnen geschrieben hat. Aber es bleiben Zweifel, ob nicht doch etwas mehr hätte investiert werden sollen. 140 Millionen Euro Steuermittel sind in die 19 teilnehmenden Städte geflossen, das ist nicht wenig und doch nur ein Bruchteil dessen, was die Berliner Stadterneuerungs-IBA von 1987 oder der IBA „Emscher Park“ im Ruhrgebiet vor einem Jahrzehnt kostete. Ganz zu schweigen von den Milliarden für breite Straßen, die nach der Wiedervereinigung Investoren und  Wirtschaftswachstum in die Städte Sachsen-Anhalts locken sollten. Wenn nun in Ascherleben im Rahmen der IBA eine wegen des Durchgangsverkehrs unbewohnbar gewordene Straße künstlerisch zur „Drive Thru Gallery“ aufgemotzt wird, dann ist das mehr Kosmetik, keine nachhaltige Korrektur einer Fehlentwicklung. Auch bei anderen Projekten stellt sich die Frage, ob sie Probleme nicht eher verniedlichen statt sie mit größerem Aufwand zu lösen.

„Profilierung durch Vorreiterschaft statt Stigmatisierung durch Schrumpfung“, so beschreibt André Schröder, Staatssekretär im Bauministerium von Sachsen-Anhalt, die politische Strategie. Bereits 2002 erkannte die Landesregierung, dass wegen des Bevölkerungsschwundes so wie bisher nicht weitergeplant werden konnte, und beauftragte die Stiftung Bauhaus und die Landesentwicklungsgesellschaft mit der Durchführung einer IBA. Über die Einzelergebnissen hinaus hat sie Modellcharakter, weil auch andere Bundesländern künftig vor ähnlichen Problemen stehen, genau wie Kommunen in Holland, Schweden oder Japan. Während in Berlin noch der Glaube an die Allheilkraft eines „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ regiert, wird rund um Magdeburg eine Zukunft ohne Wolkenkuckucksheime bereits gestaltet.

Bis zum 16. Oktober 2010 präsentiert sich die IBA in 19 Städten mit zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen. Die zentrale Überblicksausstellung (Foto unten) im Bauhaus Dessau ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Es werden auch Bustouren zu verschiedenen IBA-Städten angeboten. Ein Katalog mit Essays und Projektbeschreibungen ist im Jovis Verlag erschienen (876 Seiten, Buchhandelspreis 39,80 Euro). Alle Termine und Informationen unter www.iba-stadtumbau.de



Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 14. April 2010
© Text und Foto: Michael Bienert 



 


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