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KULTURMENSCHEN I GANGOLF ULBRICHT

Das Papier und sein Schöpfer

Er rettet zerfallende Bücher und hilft Künstlern, ihre Werke auf speziellen Papieren zu realisieren. Ein Besuch in der Papierwerkstatt im Berliner Künstlerhaus Bethanien.

Von Michael Bienert

Draußen vor dem Kellerfenster fällt feiner Schnee. Wie Rauhreif senkt er sich auf die gefrorenen Kreuzberger Straßen. Noch zarter ist das durchscheinende Blatt Papier, das Gangolf Ulbricht durch seine Kellerwerkstatt schweben lässt. Es schmiegt sich sich jedem Atemhauch an, ohne zu zerreißen. Aus der Nähe erkennt man die einzelnen Fasern des Papiergewebes mit bloßem Auge. Auf ein bedrucktes Papier oder eine Handschrift gelegt, macht es sich nahezu unsichtbar.

Das dünnste Papier der Welt wiegt nur 2 Gramm pro Quadratmeter. Zum Vergleich: Das meistbenutzte Fotokopier- und Druckpapier bringt 80 Gramm pro Quadratmeter auf die Waage. Gangolf Ulbricht hat seine wundersame Schöpfung auf Wunsch von Papierrestauratoren erfunden. Mit der zusätzlichen Papierschicht lassen sich zerfallende Dokumente stabilisieren. „In Japan wird so etwas als Maschinenpapier hergestellt, mit einer Stärke von 3,6 Gramm pro Quadratmeter“, erzählt Ulbricht. Noch feiner geht es von Hand und mit auserlesenen Fasern. Der Papierschöpfer bezieht den Rohstoff von einem japanischen Bergbauern: Maulbeerbast und Mitsumata, eine Pflanze, die auch in japanischen Geldscheinen enthalten ist. Die Fasern liest der Papiermacher von Hand aus den Stängeln, kocht sie, klopft sie vorsichtig weich und wässert sie, bis der Papierbrei die richtige Konsistenz aufweist.

„Papiermachen ist wie Kochen“, sagt Ulbricht, ein kräftiger Mittvierziger mit Kahlkopf und sinnlicher Ausstrahlung, den man sich durchaus auch in der Spitzengastronomie vorstellen könnte. Mit den besten Zutaten fängt alles an.
In seinem Lager hortet er feinen Flachs, Hanf, Baumwolle und Lumpen. Eine besondere Delikatesse sind hundert Jahre alte Leinenkittel. Hergestellt aus Flachs, der ohne Chemie angebaut und noch von Hand geerntet wurde, dann verarbeitet zu Leinenkleidern, die zwar oft durchgeschwitzt, aber nie mit Weichspüler gewaschen wurden. Wenn er die Vorzüge des guten alten Papierrohstoffs schildert, bekommt Ulbricht leuchtende Augen. Bis zu acht Stunden wässert, mahlt und färbt er die Lumpen in sogenannten „Holländern“, museumsreifen Maschinen, die früher in den Versuchsküchen ruinierter Papierfabriken standen. Eine ganze Wand der Werkstatt füllt das Regal mit historischen Schöpfrahmen: „So etwas wird in dieser Qualität überhaupt nicht mehr hergestellt“. Der Niedergang der Papiermacherkunst begann in der Mitte des 19. Jahrhundert, als sich die Industrieproduktion holzhaltiger Papiere von minderer Qualität durchsetzte: „Seitdem ist die Papierindustrie auf dem Holzweg“. Die Holzfasern seien zu kurz, um hochwertige Papiere herzustellen. Viele historische Techniken musste sich Gangolf Ulbricht erst wieder autodidaktisch erarbeiten. Geboren 1964 in Sachsen, studierte er zu DDR-Zeiten Papier- und Zellstofftechnologie, wollte aber nicht als Ingenieur in der Industrieproduktion enden. Seit 1992 betreibt er seine eigene Papierwerkstatt als Einmannbetrieb im Berliner Künstlerhaus Bethanien.

Er rührt einen großen Plastikbottich mit Papierbrei durch und freut sich wie ein Schneekönig an der weißen Suppe: „Der Stoff ist super!“ Zwei Wochen hat er die Hanffasern gewässert, mit der Zeit werde die Qualität immer besser: „Wie bei einem Eintopf, dreimal aufgewärmt.“ Ulbricht taucht lustvoll einen hölzernen Schöpfrahmen in den Brei, das Wasser tropft durch das Sieb ab und ein von einem Künstler entworfenes Wasserzeichenornament zeichnet sich in der weißen Papierschicht ab. Mit einer Pinzette friemelt Ulbricht weiße Klümchen von dem feuchten Blatt. Er ist unzufrieden mit der Vorlage des Künstlers, erst nach einigen Versuchen entsteht etwas, was sich dieser beim Entwurf am Computer vielleicht erträumt hat. Ein ganzer Stapel Blätter kommt später zwischen Filzmatten aus Schafwolle in die elektrische Presse, zuletzt werden sie in einer selbst gebauten Vorrichtung ganz langsam mit kalter Luft getrocknet.

Manchmal bestellt ein Museum ein einziges Passepartout für eine Zeichnung von Caspar David Friedrich, manchmal schöpft Ulbricht 5000 Blatt von Hand, zum Beispiel für die Doktorandenurkunden einer Universität: „Vom Aufwand her macht das keinen großen Unterschied.“ Auf diese Weise sind auch Kartons für beschädigte Bücher aus der ausgebrannten Anna Amalia Bibliothek entstanden, blau wie die darin verarbeiteten Jeanslumpen. Ein weißer Baumwollbrei im „Holländer“ ist für einen Restaurierungsauftrag der Wiener Nationalbibiothek bestimmt. Für seine Verdienste um die Buchkultur hat der Papiermacher 2010 den renommierten Antiquaria-Preis erhalten. Doch so wichtig es Gangolf Ulbricht ist, alte Handwerkstechniken zu pflegen, so wenig möchte er als „musealer Aufbewahrer“ gesehen werden. Für ihn liegt der Reiz in der Vielseitigkeit seines Werkstoffs und seinen Verwendungsmöglichkeiten: „Papier kann ich leicht machen wie eine Feder und hart wie Holz, fassen Sie das mal an, das können sie sägen und schleifen.“ Er ist gleichzeitig Handwerker, Forscher, Ingenieur, Designer und Mitschöpfer von Kunstwerken, das macht die Arbeit so interessant. Für einen Holzschnitt der Künstlerin Christiane Baumgartner hat Ulbricht einen viereinhalb Meter breiten Papierbogen hergestellt, diese Arbeit befindet sich im Museum of Modern Art. Andere Künstler lassen ihre Fotoarbeiten vom Tintenstrahldrucker direkt auf seine Papiere drucken. In der Kanadische Botschaft in Berlin hängt ein weltweit einzigartiger Raumteiler aus Papier mit Wasserzeichen, über 10 Meter lang und über drei Meter hoch.

Papierschöpfen ist nicht nur eine handwerkliche Technik, sondern ein Schöpfungsakt. Die Verwandlung einer dünnen Wassersuppe mit Lumpenresten in hochfeines Papier oder stabilen Karton hat etwas von Alchemie. In der Sorgfalt, mit der Gangolf Ulbricht zu Werke geht, ist eine philosophische Demut spürbar. Er hat viel von japanischen Meistern gelernt, als er ein Jahr in Japan studierte und die Sprache lernte. Einmal zeigte ihm ein Handwerker sein Lager. Dort fand sich ein nach alten Rezepturen mühsam hergestelltes, äußerst kostbares Papier. Auf die Frage nach dem Preis wusste der Meister keine Antwort. Er konnte auch nicht  sagen, wie lange das Papier im Lager bleiben würde: „Aber irgendwann wird einer kommen und danach fragen. Für ihn ist das Papier bestimmt.“

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 23. Januar 2010



© Text und Fotos: Michael Bienert



 

 
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
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