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THEATERKRITIK

Alle meine Söhne von Arthur Miller. Premiere in den Kammerspielen des Deutschen Theaters am 16. Dezember 2010. Regie: Roger Vontobel. Mit Jörg Pose, Ulrike Krumbiegel, Daniel Hoevels, Meike Droste, Ole Lagerpunsch und Angela Meyer

Der Krieg ernährt die Familie

von Michael Bienert

Draußen auf dem Theatervorplatz herrscht dichtes Schneetreiben, drinnen im Deutschen Theater wässert ein Rasensprenger ein saftiges Grasviereck. Drumherum sitzt das Publikum und bildet die lebende Mauer um eine brüchige Familienidylle. Die Geschichte ihres Zusammenbruchs beginnt - im stimmungsvollen Bühnenbild von Claudia Rohner - mit einer heiteren Rückblende: Der hemdsärmelige Fabrikbesitzer Joe Keller tollt mit fünf Kindern, alle im Grundschulalter, ballspielend auf dem Rollrasen herum. Noch ist seine Welt in Ordnung, noch sind die Kinder zu klein, um Fragen nach Verantwortung und Schuld zu stellen.

Eine Ladung Äpfel, die vom Schnürboden auf das Rasenstück prasselt, markiert den Zeitsprung. Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lümmeln Joe und sein erwachsen gewordener Sohn Chris auf einer Decke im Garten. Chris möchte die Jugendfreundin Annie heiraten, doch es gibt ein Problem: Annie war mit dem älteren Bruder Larry liiert, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist.

Die Mutter Kate weigert sich, an Larrys Tod zu glauben. Ihre Realitätsverweigerung trägt pathologische Züge, regelmäßig bügelt sie die Wäsche des Toten und geistert einmal in seiner Fliegeruniform am Rande der Szenerie herum. „Wenn er nicht wiederkommt, bring ich mich um!" Mit solchen Drohungen hält sie Ehemann und Sohn in Schach. Dabei ist sie eigentlich ein lebenslustiges und gutmütiges Muttertier: Sehr schön hält die Schauspielerin Ulrike Krumbiegel die Figur in einer Balance, die ihre Verstörung begreiflich macht. Auch ihr Mann Joe ist ein furchtbar netter Kerl und liebevoller Familienvater. Der wendige Jörg Pose spielt ihn als sympathischen Meister der Schuldverdrängung.

Natürlich wollte Joe nur das Beste für seine Kinder. Schaffe, schaffe, Häusle baue: Der schwäbisch-amerikanische Traum der Mittelschichten erfordert Pragmatismus und Geschäftstüchtigkeit. Der Kleinbürger als Unternehmer will seine Auftraggeber nicht verprellen. Also hat Joe im Krieg eine Partie defekter Zylinderköpfe an die Luftwaffe geliefert, in der Hoffnung, es werde schon alles gutgehen. 21 amerikanische Piloten sind damit abgestürzt. Vor Gericht hat Joe alle Schuld auf seinen Betriebsleiter, Annies Vater, abgewälzt. Als die in Chris verliebte Annie (Meike Droste) und später auch ihr Bruder George (Ole Lagerpusch) im Garten der Familie Keller auftauchen, kommt unaufhaltsam die Wahrheit an den Tag.

Der Regisseur Roger Vontobel, kürzlich für seine Dresdner „Don Carlos"-Inszenierung mit dem „Faust"-Theaterpreis ausgezeichnet, erleichtert Arthur Millers Drama „Alle meine Söhne" um fast alle Nebenfiguren und verleiht dem Enthüllungsdrama die Anmutung eines heiteren Kammerspiels. Aber er verwischt nicht die moralische und politische Fragestellung, die den Autor angetrieben hat. Joe Keller ist der sympathische Vertreter einer Wohlstandsgesellschaft, die anderswo in Kriege verstrickt ist. Das Geschäft muss weitergehen, auch wenn die eigenen Jungs bei Auslandseinsätzen auf der Strecke bleiben.

„Alle meine Söhne" ist nicht zufällig in den letzten zwei Jahren auch am Broadway und in London neu inszeniert worden. Der Zufall wollte, dass die Premiere am Deutschen Theater genau an dem Abend stattfand, an dem Sat 1 die Kerner-Talkshow mit dem deutschen Verteidigungsminister im Feldlager Kundus ausstrahlte.

Miller provozierte seine Landsleute nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Frage, wer im eigenen Land vom Kampf gegen die Nazis profitiert habe. Wer aber verdient eigentlich bei uns am Kampf gegen den internationalen Terrorismus? Und was passiert mit den Söhnen, die aus Afghanistan zurückkehren? Vontobels Inszenierung stellt solche Fragen nicht lautstark, sie stellen sich leise von selbst.

Mit Millers moralischer Schwarz-WeißMalerei hingegen tut sich der 33-jährige Regisseur schwer. Für ihn ist es keine zwingende Lösung, dass sich Joe am Ende erschießt. Der spät ins Spiel gebrachte Brief des toten Larry, in dem dieser den Vater für seinen Freitod verantwortlich macht, wirkt wie eine dramaturgische Verlegenheitslösung. Vontobels fein arrangiertes Personentableau zerfällt in ein wirres Durcheinander von Familienmitgliedern, die sich hilflos anschreien. Schön anzusehen ist das nicht, aber verständlich.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 21. 12. 2010

© Text und Foto: Michael Bienert







Michael Bienert
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