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Christa Wolf bei der Buchpremiere in der Akademie der Künste, Juni 2010

LITERATUR I CHRISTA WOLF


Einen Engel müsste man haben


Christa Wolfs neues Buch "Stadt der Engel" ist Reisebericht, Autobiografie und Selbsttherapie

von Michael Bienert

Der Anblick einer Zeitung löste sofort Schweißausbrüche aus. Nach dem 11. Plenum des Zentralkommitees der SED im Dezember 1965 musste sich die Genossin Christa Wolf in psychiatrische Behandlung begeben. Sie hatte es als einzige gewagt, gegen den Kahlschlag im Kulturleben anzureden. Umsonst, denn die Parteioberen brauchten dringend einen Sündenbock, den sie für die schlechte Stimmung im Land und den Widerwillen der Jugend gegen das sozialistische Menschenbild haftbar machen konnten. Auf die Ergebenheitsadressen, auch von Künstlerkollegen in der DDR-Presse, reagierte die ZK-Kandidatin Christa Wolf mit einer Zeitungsphobie.

Ähnliche Wirkung hatte die schlechte Presse in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, als der Autorin vielfach vorgeworfen wurde, sie habe sich allzu willfährig mit der SED-Diktatur arrangiert. Im Herbst 1992 erreichte die Krise, die sich in psychosomatischen Beschwerden, Schlafstörungen und Sudizidfantasien manifestierte, ihren Höhepunkt. Die deutschen Feuilletons reagierten mit Unverständnis und Häme, als bekannt wurde, dass die DDR-Staatssicherheit die Autorin als informelle Mitarbeiterin geführt hatte.

Unter dem Vorgangsnamen „Doppelzüngler“ bespitzelte die Staatssicherheit Christa Wolf und ihren Mann von 1968 bis zum Ende der DDR. Ihre Opferakte umfasst 42 Bände. Daneben existiert eine sogenannte Täterakte. Der dünne Hefter über „IM Margarete“ stammt aus den Jahren 1959 bis 1962, damals arbeitete Christa Wolf als Zeitschriftenredakteurin beim DDR-Schriftstellerverband. Sie sprach mit Stasileuten über Kollegen, belastete aber niemanden. Sie unterzeichnete auch keine Verpflichtungserklärung. Wegen mangelnder Bereitschaft zur Konspiration brachen die Geheimdienstler die Anwerbung ab. „Vollständig erhaltene IM-Akten können auch entlastend sein“, urteilt Joachim Walther in seinem Standardwerk „Sicherheitsbereich Literatur“ über die Stasiverstrickungen der DDR-Autoren über den Fall.

Christa Wolf hatte sich im Herbst 1992 vorsorglich in Sicherheit gebracht, sie folgte einer Einladung des Getty Centers zu einem mehrmonatigen Studienaufenthalt in Los Angeles. Dort quoll das Fax über, täglich trafen neue Kopien von Zeitungsartikeln über „IM Magarete“ in Deutschland ein. Sogar die amerikanische Presse griff das Thema auf, auch an der amerikanischen Westküste war Christa Wolf vor peinigenden Nachfragen der Kollegen nicht sicher.

Dabei hätte sie den Sturm ruhigen Gewissens an sich vorüber ziehen lassen können, sie hatte ja niemandem geschadet. Doch dann wäre Christa Wolf eben nicht jene Meisterin der Selbstzergliederung, die sie ist. Die Stigmatisierung als Spitzel verletzte sie, zugleich wurde sie das Gefühl nicht los, ihren eigenen Maßstäben nicht genügt zu haben. Die Spezialistin für Erinnerungsarbeit konnte es sich nicht verzeihen, dass sie die Gespräche mit den Stasileuten aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte. Wie war das möglich? In ihrem neuen Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freund“ wird der Leser auf 400 Seiten zum Zeugen einer quälenden, streckenweise auch humorvollen Selbsttherapie.

Die Erzählerin versucht die psychosomatischen Blockaden mit Akupunktur und Feldenkraisgymnastik zu lösen, sie schreibt ihre Träume auf und studiert das Buch einer buddhistischen Nonne. Als sie einmal nicht weiß, wie sie eine Nacht überstehen soll, singt sie in ihrem verwunschenen Hotel alle Lieder, die sie kennt. Am Ende gelingt es ihr tatsächlich, wieder ihren Frieden mit sich zu machen. Sie erschafft sich einen Schutzengel. Er erscheint ihr in Gestalt einer  rundlichen farbigen Putzfrau aus ihrem Hotel. Der Schutzengel begleitet die Stipendiatin, als sie Los Angeles, die Stadt der Engel, im Flugzeug wieder in Richtung Deutschland verlässt.

Sicherheitshalber betont die Autorin in einem Vorspruch den fiktionalen Charakter ihres kunstvollen Erzählgewebes, so darf der Leser rätseln, ob es zu 70, 80 oder 99 Prozent auf wirklichen Erlebnissen basiert. Tagebuchartige Reiseeindrücke aus dem kalifornischen Winter 1992/1993 sind durchsetzt mit Anekdoten und Erinnerungen, die bis in die Kindheit zurückreichen, und mit Reflexionen, in denen bereits die jüngste Finanzkrise aufscheint. Die kunstvollen Sprünge zwischen den Zeitebenen erinnern an den assoziativen Erzählfluss eines Patienten auf der Couch eines Psychoanalytikers: Der Leser nimmt teil, wie die Ich-Erzählerin ihre Erinnerungen und damit sich selbst neu sortiert. Denn „das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, wie es in Christa Wolfs 1979 erschienenen Buches „Kindheitsmuster“ heißt. In „Stadt der Engel“ lässt sich beobachten, wie aus dem Kindheitsmuster der in der Nazizeit aufgewachsenen Autorin unter gewandelten gesellschaftlichen Umständen ein Lebensmuster geworden ist. Wie sich die protestantische Ethik, die sie mit der Muttermilch aufgesogen hat, oder ihre panische Angst vor dem Liebesentzug durch die gesellschaftlichen Autoritäten ausgewirkt haben - nicht erst, als 1959 die Stasileute anklopften, sondern auch schon am 17. Juni 1953, als Christa Wolf heroisch ihr Parteiabzeichen gegen Aufständische verteidigte, oder später im November 1976, als Wolf Biermann ausgebürgert wurde und es nicht mehr möglich war, dem offenen Bruch mit der Partei und anpassungswilligen Kollegen auszuweichen.

Dass dieses neuerliche Durcharbeiten der Vergangenheit unter der milden Sonne Kaliforniens stattfindet, stellt die persönliche und deutsch-deutsche Geschichte in einen weiten Horizont. Hellhörig notiert die Erzählerin, wie jüngere Amerikaner beklagen, sie könnten ihre Meinung nicht offen sagen, aus Furcht ins gesellschaftliche Abseits gestellt zu werden. Auch was sie von der  Macht der Geheimdienste über die gewählten Politiker erzählen, kommt der ehemaligen DDR-Bürgerin vertraut vor. Blinde Flecken in der Selbst- und Weltwahrnehmung registriert sie nicht allein bei sich. Nur durch eine Abstumpfung des Mitgefühls ist das Leben in Los Angeles auszuhalten, wo die Gegensätze zwischen Arm und Reich sich viel krasser zeigen als in Deutschland. Spuren der Sehnsucht nach einer humaneren Gesellschaft entdeckt die Ostdeutsche dort, wo man ihr nicht zutrauen würde. Regelmäßig schaltet sie den Fernseher ein, „wie üblich lief Star Trek auf Kanal 13, schamlos entzückt folgte ich dem Kapitän Picard und seiner Mannschaft, hingegeben den Weltall-Abenteuern des Sternenschiffs Enterprise, wobei die Picard-Mannschaft vorführte, dass unbedingte Disziplin sehr wohl zusammengehen konnte mit einer durch männliches Understatement veredelten reifen Menschlichkeit“.

In solchen Wortgirlanden schwingt eine gehörige Portion Selbstironie mit. Der Leser denkt an Thomas Mann, der als Emigrant in Los Angeles gelebt hat. So wie Feuchtwanger, Schönberg, Brecht, Eisler und andere, deren geistiges Erbe die junge DDR für sich reklamierte. Die Reise nach Los Angeles ist auch eine zu den idealistischen Ursprüngen der Autorin Christa Wolf, die einen sozialistischen Staat mit aufbauen wollte und ihm bis zu seinem Untergang nicht von der Fahne ging. Und was kommt nach dem Verdampfen der Utopie? Der letzte Satz des Buches lautet: „Ich weiß es nicht.“

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 19. Juni 2010
© Text und Foto: Michael Bienert



 


Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Die Zwanziger Jahre
in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt

Berlin Story Verlag
280 Seiten
19,80 Euro



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 Am 1. November 2011
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