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Die Fortsetzung des Traums mit anderen Mitteln
Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt den Malerstar Neo Rauch

Von Elke Linda Buchholz

Ein Mann kämpft mit der weißen Leinwand. Sein Körper steckt bis zur Hüfte in der unbemalten Fläche und ringt um Balance. Eine Gruppe von Zuschauern beobachtet den winzig kleinen Protagonisten mit gespannter Aufmerksamkeit, als sei er ein Versuchskaninchen, wobei ihn einer der Anwesenden mit einer Fernbedienung zu steuern versucht. In einer Sprechblase teilt uns das Bild mit, wie es heißt: „Regel“. Neo Rauchs Gemälde ist eine Allegorie des künstlerischen Schaffensprozesses. Die allbekannte Redewendung vom Ringen des Künstlers mit der weißen Leinwand nimmt er wörtlich. Der Equilibrist der Bildfläche ist er selbst. Ebenso wie der, der ihn zu steuern versucht.

„Natürlich sind das alles Selbstporträts“, sagt der Künstler beim Rundgang durch seine Retrospektive im Kunstmuseum Wolfsburg. Er ist der Lautenspieler unter düsterem Gewitterhimmel, vor dessen Augen sich eine Schwalbe in ein Marx-Konterfei und schließlich in ein Benzinkanister verformt. Oder der Fischer, der mit kräftiger Hand gigantische Kraken aus den Tiefen eines Sees zerrt. Oder der Mann im unförmigen Ganzkörperschutzanzug. Wie ein Museumsstück steht er vor buntgekleideten Betrachtern, die nichts erkennen, da sie Sonnenbrillen tragen. „Ich bin auch der müde Kerl da,“ meint Neo Rauch und weist auf einen unter dicken Steppdecken Schlafenden, zu dessen Füßen drei ungeschlachte Burschen bunte Farbwülste wie Handgranaten um sich schleudern. Der Traum gebiert Ungeheuer? Neo Rauch sagt: „Für mich bedeutet Malen die Fortsetzung des Traums mit anderen Mitteln.“

Die erste große Überblicksschau des höchstbezahlten deutschen Künstlers versammelt 75 meist großformatige Gemälde von 1993 bis heute, die überwiegend aus Privatsammlungen stammen. Die erste Auflage des Ausstellungskatalogs war bereits vor der Eröffnung vergriffen. Für künftige Arbeiten Neo Rauchs stehen die Käufer Schlange. Doch den wachsenden Starrummel liebt der Maler ebenso wenig wie öffentliche Auftritte. Den zur Eröffnung angereisten Pressevertretern wollte er sich nicht zum Interview stellen. Nur im kleinen Kreis gibt er Auskunft darüber, was ihn und seine rätselhaften Bildprotagonisten umtreibt - und kündigt an, künftig ganz hinter sein Werk zurückzutreten.

Rauchs Bilder ködern den Betrachter durch klar erkennbare, ja plakative Figürlichkeit. Da gibt es Häuser, Menschen, Bäume, Berge: Bildwelten, die an altmodische Werbeplakate oder Jugendbuchillustrationen erinnern. Sie sind klassisch komponiert, mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, mit plastischen Gegenständen und Figuren, wenn auch irrealen Perspektivbrüchen.

Dass Neo Rauch sein Malerhandwerk beherrscht und lustvoll anzuwenden versteht, ist keine Frage. In Leipzig hat der 1960 geborene zu DDR-Zeiten bei Arno Rink, später bei Bernhard Heisig studiert und ist 2005 als Professor an die Hochschule für Grafik und Buchkunst zurückgekehrt. Sein kometenhafter Aufstieg vor allem in den USA hat viele junge Leipziger Maler mit ins Licht der Öffentlichkeit und des Kunstmarktes katapultiert. Als neue „Leipziger Schule“ etikettierte die Kunstkritik unterschiedliche Maltalente wie Tilo Baumgärtel, Matthias Weischer oder Tim Eitel, die vor allem ihr entschiedenes Festhalten an der figürlichen Malerei verbindet. Reflexartig wird dies mit dem Verweis auf die erste „Leipziger Schule“ der auch im Westen renommierten DDR-Maler Mattheuer, Tübke, Heisig erklärt. Diese bildeten allerdings ebenso wenig eine einheitliche Gruppe wie die „jungen“ Leipziger Maler.

Der Erfolg Neo Rauchs in den USA und in Westeuropa hat sicher auch damit zu tun, dass seine Bilder als verrätseltes Erinnerungspanaroma des DDR-Alltags wahrgenommen werden, mit ihrer eigentümlich gebrochenen Farbigkeit, ihrem scheinbar willenlos agierenden Personal, ihren unwirtlichen Industriearealen, gesichtslosen Wohnsiedlungen und deutschen Waldgebieten. Neo Rauch selbst sieht sich eher in der Tradition der Pop-Art mit ihren Affinitäten zu Comics und Werbegrafik. Allerdings speist sich sein Motivfundus aus retrospektiven Quellen. Streng gescheitelte Burschen erinnern an die NS- und Nachkriegsära, neuerdings tauchen auch französische Revolutionäre oder napoleonische Soldaten auf. Selbstironisch schlägt auf einem Gemälde der „Orter“, halb Mensch halb Dinosaurier, seinen Weg in die Vergangenheit ein: „retro“, wie der Titel rückwärts gelesen verrät.

Neo Rauch geht es nicht um den realen Ernstfall. Seine Bilder sind Bühnen, auf denen er vereinzelte, in sich verkapselte, stumme Figuren hin- und herschiebt, zu Denk- und Vorstellungsmodellen arrangiert. Sie sind rastlos tätig, ohne etwas zu produzieren, nicht einmal Sinn. Sie wirken bedrohlich, vielleicht weil sie frei von Individualität und Emotionen sind. Naturstudien lehnt Neo Rauch ab, um allein aus seinem individuellen Bildergedächtnis zu schöpfen. Oft ist sich der Maler nach eigener Aussage selbst nicht bewusst, woher seine Bildvorstellungen und Figuren stammen. Er sieht sich als „Membran kollektiver Ströme“, als Regisseur von an ihn „herangespülten Bild-Ahnungen“.

Automatisch setzt vor diesen Bildern eine Art Deutungsreflex ein. Man will die Sinnschnipsel, Verweise und Versatzstücke zusammenfügen, glaubt, kurz vor der Lösung zu stehen, doch das Bild geht nicht auf. Man erkennt alles und versteht nichts. Es ist wie der vergebliche Versuch, einen Traum in Worte zu fassen, der eben noch klar und deutlich greifbar schien.

So macht Neo Rauch die Betrachter zu Traumdeutern von Träumen, die nicht die ihren sind. Oder doch? Der Maler weiß genau: Wenn ein Bild zu eindeutig wird, ist es langweilig. Den Grat zwischen glatter Lesbarkeit und hermetischer Verschlossenheit beschreitet er mit Virtuosität. Allerdings zeigen sich beim Betrachten so vieler Neo-Rauch-Gemälde irgendwann Ermüdungserscheinungen. Zuletzt wirken all die vielgestaltigen, zunehmend figurenreichen Bilder wie Variationen des Immergleichen. Vielleicht wäre es besser, nur ein einziges seiner Gemälde zu betrachten als Dutzende, deren Materialfülle einem den Atem nimmt.

Bis 11.3.2007 im
Kunstmuseum Wolfsburg
Katalog im DuMont Verlag