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Die europäische Nation
Das Deutsche Historische Museum in Berlin eröffnet seine Dauerausstellung

von Michael Bienert

Im Jahr 1929 besuchte Erich Kästner das Berliner Zeughaus Unter den Linden, damals das größte Militärmuseum Europas: „Welch unheimlicher Spaziergang! Überall Waffen, überall Instrumente, für den Massenmord bestimmt. Langsam schreitet man die Jahrhunderte rückwärts ab, mustert die verschiedenen Garde des Raffinements und erkennt das Wachstum der Bösartigkeit. Von der Streitaxt bis zur Gasgranate ist ein langer, niederträchtiger Weg. Die Menschheit ist ihn gegangen und nennt ihn Fortschritt.“

Gestern hat die Bundeskanzlerin eine neue Dauerausstellung zur deutschen Geschichte im Zeughaus eröffnet. Ab heute darf das Volk wieder durch das Haus flanieren. Wer mittelalterliche Waffen, polierte Harnische und Geschütze sehen will, kommt dabei gewiß auf seine Kosten. Zweitausend Jahre deutsche Geschichte, das ist eben leider auch ein langer Reigen militärischer Konflikte. Neben den Waffen und prächtigen Fürstenporträts aber sieht man ganz erstaunliche Zeugnisse, die den Schrecken fassbar machen. Etwa im Abschnitt über den Dreißigjährigen Krieg ein kleines Ölbild, das den Überfall von Soldaten auf eine Bauernfamilie in höchster Dramatik zeigt. Oder neben einem Zweispitz Napoleons eine großformatige apokalyptische Landschaft eines englischen Malers - das mit Toten und Verwundete übersäte Schlachtfeld von Waterloo am Morgen nach dem Kampf. Oder Stereofotografien aus dem Ersten Weltkrieg, die den Betrachter in trostlose Schützengräben versetzen.

Der Ausstellungsort, das Berliner Zeughaus, hat eine lange Tradition als Kriegsmuseum. Um 1600 als preußische Waffenkammer erbaut, diente das Gebäude immer auch der Verwahrung von Kriegstrophäen. In der Kaiserzeit wurde es zur Ruhmeshalle der preußischen Armee umgestaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog das Museum für Deutsche Geschichte ein, das die offizielle DDR-Sicht auf die Vergangenheit propagierte. Sie wurde als Geschichte von Klassenkämpfen verstanden, der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat feierte sich selbst als deren Überwindung und glänzender Schlussakkord.

Um dieser Geschichtsklitterung etwas entgegen zu setzen, gründete man in den Achtzigern in West-Berlin das Deutsche Historische Museum, ein Lieblingsprojekt des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. An der Berliner Mauer, unweit des Reichstages, sollte das Nationalmuseum in einen postmodernen Neubau einziehen. Die Linke lief Sturm gegen dieses Projekt, sie fürchtete eine konservative Revision des Geschichtsbildes. Auch stellte sich die Frage, wo denn das neue Museum überhaupt seine Exponate hernehmen wolle.

Dann fiel die Mauer und das Zeughaus samt seinen Sammlungen dem Deutschen Historischen Museum als Wiedervereinigungsbeute zu. Ein Glücksfall. Die meisten Wechselausstellungen im Zeughaus und im 2003 eröffneten Erweiterungsbau von I. M. Pei entwickelten sich zu Publikumsmagneten. Inzwischen besitzt das Haus eine 750.000 Objekte umfassende Sammlung, von denen rund 8000 für einen opulenten Bilderbogen deutscher Geschichte seit der Römerzeit ausgewählt wurden. Weil der barocke Altbau zuvor renoviert und heutigen Ausstellungsstandards angepasst werden musste, vergingen bis zur Neueröffnung viele Jahre. Das hatte den Vorteil, dass nun in die Dauerausstellung viele Fundstücke und Erfahrungen eingeflossen sind, die bei zurückliegenden Ausstellungen über Themen wie den Ersten Weltkrieg oder den Holocaust gesammelt wurden.

Früheste Zeugnisse der Geschichte, die auf dem Markt nicht mehr zu haben waren, sicherten sich die Berliner Historiker durch Dauerleihgaben, wobei sie die Restaurierungskosten übernahmen. So stammt gleich der allererste Blickfang auf dem langen Ausstellungsparcours, ein bei Sinzheim gefundener römischer Meilenstein, aus dem Badischen Landesmuseum in Karlsruhe. Moderne Meilensteine aus Glas mit Ausstellungstexten und Karten leiten die Besucher weiter durch die Epochen. Der Hauptweg führt zunächst im Obergeschoß des Zeughauses um den überdachten Innenhof herum. Daran schließen sich Ausstellungskabinette an, in denen großartige Historiengemälde, Druckschriften, Alltagsgegenstände und ganze Mobiliars zu farbigen Epochen- und Themenräumen arrangiert sind. Es gibt auch 148 Medienstationen, wo man Filme sehen oder virtuell in mittelalterlichen Handschriften blättern kann. Sogar der Außenraum ist klug einbezogen: So säumen die Dokumente der Kaiserzeit die Fensterfront des Zeughauses zur Straße Unter den Linden, der seinerzeit wichtigsten Bühne für die Inszenierung von Gedenk- und Feiertagen der Monarchie.

Der Erste Weltkrieg bildet die Brücke ins Untergeschoß und ins 20. Jahrhundert. Dort geht es wesentlich beengter zu, da über die Hälfte der Fläche bereits durch Foyers, Museumshop, Kinosaal und Funktionsräume belegt ist. Besonders materialreich ist die Darstellung der nationalsozialistischen Epoche. Die 12 Jahre nehmen ungefähr so viel Platz ein wie die ersten 1200 Jahre des Geschichtsparcours oder die sechs Jahrzehnte vom Kriegsende bis zur Gegenwart. In dieser Gewichtung spiegelt sich der pädagogische Auftrag des Museums, dessen Publikum gut zur Hälfte aus Schülern und jungen Erwachsenen besteht. Eine beschönigende, etwa den Holocaust relativierende Geschichtsdarstellung kann man den Ausstellungsmachern jedenfalls nicht vorwerfen.

Auch im Umgang mit der DDR-Geschichte kommen sie jeder Kritik zuvor, indem diese exakt denselben Raum beanspruchen darf wie die Bundesrepublik. Hier spaltet sich der Hauptpfad der Ausstellung, auf der Ostseite stehen ein Trabbi und Honeckers Schreibtisch, auf der Westseite ein VW-Käfer und Designerobjekte aus der kapitalistischen Warenwelt. Ein Modell des Münchner Olympiastadions von 1972 findet seine Entsprechung in Souvenirs von den Ost-Berliner Weltfestspielen der Jugend im Jahr 1973. Einem Stück Zaun vom umkämpften Bauplatz der Atomanlage im bayrischen Wackersdorf korrespondieren hektografierte Nachrichten aus der alternativen DDR-Umweltbibliothek in Ost-Berlin. Symbolisch überspannt eine begehbare Brücke die spiegelbildlichen Lebenswelten in Ost und West, dort sind Bücher und Filmplakate ausgestellt - trotz der politischen Teilung sind die Deutschen eine Kulturnation geblieben. Den abschließenden Blickfang bilden Transparente von den Demonstrationen im Herbst 1989, die den Prozeß der Wiedervereinigung einleiteten.

Dass die Deutschen nach endlosen Kriegen doch noch eine friedliche Revolution hinbekommen und ihren Platz unter den Völkern Europas gefunden haben, hätte man zupackender inszenieren dürfen. Doch im Untergeschoß verweigern die Ausstellungsmacher jede große Geste, ganz anders als bei den großartigen Rauminszenierungen der älteren Geschichte im Obergeschoß. Man spürt die Unsicherheit im Umgang mit der jüngeren Vergangenheit. Sie ist ja auch nachzuvollziehen: Von der Märzrevolution der Jahre 1848/49 sind uns die schwarz-rot-goldnen Fahnen geblieben, das lässt sich in der Rückschau entsprechend groß herausstellen. Welche Symbole, Bilder und Geschichten aus dem 20. Jahrhundert aber in den kommenden Jahrzehnten formend auf das kollektive Bewußtsein der Nation wirken werden, ist noch nicht ausgemacht.

Klar wird jedenfalls, dass Deutschland und die Deutschen sich nicht aus der Binnensicht, sondern nur aus einer weiträumigen europäischen Perspektive verstehen können. Die Nation ist ein Amalgam aus vielerlei kulturellen Einflüssen, in dem die Zivilisation der alten Römer ebenso aufgehoben ist wie die Erfahrungen der Französischen Revolution oder der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sorgfalt und Opulenz, mit dieses Geschichtsbild jetzt in der alten preußischen Rüstkammer in Szene gesetzt wurde, dürfte auch die schärfsten Kritiker mit der Idee eine solchen Nationalmuseums versöhnen.



Täglich geöffnet 10-18 Uhr / Weitere Informationen unter
www.dhm.de