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Prächtiger Plunder
Die Doppelausstellung über das Heilige Römische Reich deutscher Nation
in Magdeburg und Berlin

von Michael Bienert


Kein politisches System hat in Deutschland länger bestanden als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das vor 200 Jahren unterging. Damals stand Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht und ordnete die europäische Landkarte nach seinen Vorstellungen neu. In Süddeutschland sagten sich am 12. Juli 1806 sechzehn Reichsstände vom deutschen Kaiser los und schlossen sich unter Napoleons Protektion zu einem neuen Bundesstaat zusammen: dem Rheinbund, dem auch Württemberg und Baden angehörten. Kaiser Franz II. in Wien waren in diesem historischen Augenblick die Hände gebunden, nachdem seine Truppen wenige Monate zuvor bei Austerlitz eine verheerende Niederlage gegen die Franzosen erlitten hatten. Am 6. August 1806 legte er die deutsche Kaiserkrone nieder. Damit kein anderer danach griff, erklärte er den alten Reichsverband, der über 800 Jahre existiert hatte, für erloschen.

Es begann die Epoche der modernen National- und Verfassungsstaaten in Mitteleuropa. Das Alte Reich aber blieb als Mythos gegenwärtig. Das 1871 unter preußischer Führung geschmiedete deutsche Kaiserreich bezog sich ebenso darauf wie später die Naziideologie vom „Dritten Reich“. Für Hitler war das retrospektiv verklärte Heilige Römische Reich ein wünschenswertes Gegenbild zum republikanischen Verfassungsstaat. Er ließ 1938 die Reichskleinodien aus Wien nach Nürnberg bringen, um diesen Traditionsbezug seiner Herrschaft zu untermauern.

Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verschwand die Reichsidee aus der politischen Diskussion. Heute dient sie allenfalls noch als abschreckendes Beispiel für den Niedergang eines politischen Systems. „Wenn ich mir die erweiterte EU vorstelle ohne Reform der Institutionen, dann allerdings sind wir in der Spätphase des Heiligen Römisches Reichs“, so warnte etwa der damalige Außenminister Joschka Fischer im Juni 2000.

Viel ineffektiver als die Europäische Union kann das alte Reich indes nicht gewesen sein, sonst hätte es kaum so lange bestanden. Wie der heutige europäische Staatenbund war es multiethnisch, multikonfesssionell und dezentral organisiert. Über lange Zeiträume hinweg sicherte das alte Reich ein relativ friedliches Miteinander in Mitteleuropa. Es ermöglichte eine kulturelle Vielfalt in den Residenzen und Städten, die wir noch heute auf Reisen und in den Museen bestaunen.

Das sehen mittlerweile nicht nur deutsche Historiker so, sondern auch deren Kollegen aus anderen Ländern, die wenig Interesse an einer neuerlichen Mystifizierung der Reichsidee mitbringen. Daher steht die große Doppelausstellung über das alte Reich in diesem Jahr unter der Schirmherrschaft des Europarats und kann mit großartigen Leihgaben aus dem Ausland prunken. Den Ursprüngen und Anfängen im Mittelalter widmet sich eine große kulturhistorische Schau im Kulturhistorischen Museum Magdeburg. Im Dom der Elbestadt befindet sich die Grablege Ottos des Großen, der sich 862 in Rom vom Papst zum Kaiser krönen ließ. Dieser Akt gilt als Geburtsstunde des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, auch wenn dieser Begriff sich erst im 15. Jahrhundert etablierte.

Die Magdeburger Ausstellung orientiert sich streng an der Abfolge der mittelalterlichen Herrscherdynastien, der Ottonen, Staufer, Salier, Luxemburger. Sie prunkt mit Kostbarkeiten wie einer goldenen Barbarossa-Büste aus dem 12. Jahrhundert, die zu ihrer Zeit ihresgleichen sucht. Von der künstlerischen Verfeinerung im Hoch- und Spätmittelalter zeugen die Manessische Liederhandschrift, Goldfibeln, Rittergewänder und elfenbeinerne Schmuckkästchen. Ausgestellt ist der silberne Nürnberger Heiltumsschrein, in dem jahrhundertlang die Reichskleinodien verwahrt wurden. Die achteckige Reichskrone ist freilich nur auf Herrscherbildnissen zu sehen, sie darf die Schatzkammer der Wiener Hofburg nicht mehr verlassen, wie es heißt, bis ein neuer Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bestimmt ist.

Vom 15. Jahrhundert bis zum Untergang des Reiches besetzte die Habsburger Dynastie den Kaiserthron. Die komplizierte Machtbalance zwischen Kaiser und Reichsständen wurde 1495 auf einem Reichstag in Worms neu geregelt. Jährlich stattfindende Reichstage und ein von Wien unabhängiges Reichskammergericht sollten der frieldichen Konfliktregelung zwischen den Parteien dienen. Das neue Regelwerk, der „ewige Landfriede“, zirkulierte bereits in gedruckter Form. Etwa zur selben Zeit entdeckte Kolumbus Amerika und das neuzeitliche Weltbild setzte sich durch.

Mit dieser Zäsur endet die Magdeburger Ausstellung und beginnt die Fortsetzung im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Zwar gibt es auch hier eine schier endlose Kaisergalerie mit Herrscherbildnissen zu bewundern, darunter eine von der Königin von England ausgeliehene Bronzebüste Karls V. Aber der Akzent liegt auf Themenräumen, die sich mit der Kartographie und den Wappen, mit den Herrschaftssymbolen und Zeremonien des Reiches befassen. So stellte das Wiener Hofmobiliendepot einen zusammenklappbaren Reisethron aus dem 18. Jahrhundert zur Verfügung, ein Dokument der Krönungsreisen, die jeder frisch gebackene Kaiser absovieren mußte. Auch Alltagsaspekte wie das Post- und Münzwesen, das Leben der Ritter, Bürger und Juden im Reich sind berücksichtigt. Wer allerdings mit einem primär sozialgeschichtlichen Interesse ins Museum geht, der sieht in der parallel gezeigten Dauerausstellung im Berliner Zeughaus ein weit farbigeres Panorama des behandelten Zeitabschnitts. So eindrucksvoll dort etwa die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges nachinszeniert ist, so episodisch bleibt sie in der Sonderausstellung.

Deren eigentlicher Dreh- und Angelpunkt ist das Jahr 1806, was schon im Titel „Altes Reich und neue Staaten“ anklingt. Das Heilige Römische Reich, so eine Pointe der Ausstellung, verschwand nicht ganz sang- und klanglos vom einen auf den anderen Tag. Die neuen deutschen Könige von Napoleons Gnaden gebärdeten sich wie kleine Kaiser. Das Königreich Württemberg, dessen Geschichte von 1806 bis 1918 ist dafür ein Beispiel. In Berlin sieht man ein elegantes höfisches Speiseservice aus der Ludwigsburger Porzellanmanufaktur neben dem Gemälde einer königlichen Treibjagd bei Bebenhausen. Die feudale Lustbarkeit erregte Anstoß, weil zum selben Zeitpunkt viele württembergische Landeskinder, die in Napoleons Armee dienen mußten, auf dem Rußlandfeldzug elend verreckten.

Krone, Szepter und Zeremonienschwert aus dem Großherzogtum Baden lassen erkennen, dass sie eilig aus Edelsteinen zusammengefügt wurden, die man aus säkularisierten Kirchengütern herausgebrochen hatte. Wie im untergegangenen alten Reich diente nach 1806 die Heiratspolitik der Stabilisierung der neuen Machtverhältnisse: Napoleon verheiratete seinen Bruder Jerome mit der württembergischen Prinzessin Katharina und setzte beide zu Herrschern über das Königreich Westphalen ein, einen territorial völlig neu zusammengeschusterten Modellstaat.

So sehr auch die deutsche Bevölkerung unter der napoleonischen Ausplünderung litten, die neuen Kleinkönige fanden an ihrer gewachsenen Machtfülle Geschmack. Als auf dem Wiener Kongreß des Jahres 1815 die politische Ordnung in Mitteleuropa nach den Freiheitskriegen ausgehandelt wurde, zeigte kaum noch jemand Interesse an einer Wiederherstellung des Heiligen Römischen Reiches. Was blieb, waren der romantische Mythos von einer goldenen Vorzeit im deutschen Mittelalter und die Sehnsucht nach der Zusammenführung der Deutschen unter einem neuen Kaiser. „Das alte heilge römische Reich, / Stells´s wieder her, das ganze / Gib uns den modrigen Plunder zurück / Mit allem Firlifanze“, spottete Heine 1844 im „Wintermärchen“ über seine Zeitgenossen. Die beiden Ausstellungsteile mit ihren 2000 Seiten umfassenden Katalogen zeigen nun ein weit komplexeres Gesamtbild dieses Abschnitts deutscher Herrschaftsgeschichte - so funkelnd und prachtvoll inszeniert, dass die neuerliche Faszination durch das versunkene Reich nicht ausbleibt.

„Heiliges Reich deutscher Nation 962-1806“, geöffnet in Magdeburg und Berlin täglich bis 10. Dezember. Die Kataloge zu beiden Ausstellungen sind im Sandstein Verlag erschienen und kosten 60 bzw. 50 Euro. Informationen unter
www.dasheiligereich.de