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Schrecklich schön
Ein neues Museum für die Surrealisten in Berlin

von Michael Bienert

Die Kuh streckt dem verblüfften Bauern frech die Zunge raus. Mit ihrem knallroten Fell füllt sie fast das ganze Bild. 1943 mit groben Strichen von Jean Dubuffet im besetzten Paris gemalt, kann man die rote Kuh als Symbol der Resistance deuten oder auch als jüdisches Opfertier. Julietta Scharf, die mit dem Gemälde aufgewachsen ist, fühlte sich von ihm ganz direkt angesprochen: So frech, wild und selbstbewusst wollte sie auch werden.

Ihr vor sieben Jahren verstorbener Vater Dieter Scharf war Kunstsammler. Wie schön es sein kann, mit Kunstwerken zusammenzuleben, hatte er bei seinem Großvater Otto Gerstenberg erfahren. Seit der Kaiserzeit sammelte der Berliner Direktor der Viktoria-Versicherung Druckgrafik von Dürer bis Goya, später auch französische Impressionisten. Wichtige Werke der Gerstenberg-Sammlungen kamen nach dem Zweiten Weltkrieg als Beutekunst nach Moskau und St. Petersburg. Dieter Scharf erbte ein paar Blätter von Goya, Meryon und Manet: der Grundstein für sein eigene Sammlung surrealer Bilder, die rund 250 Werke umfasst und fast bis in die Gegenwart reicht.

Julietta Scharf leitet die Stiftung, die dieses Erbe pflegt. Seit vorgestern gibt es dafür in Berlin ein eigenes Museum, hergerichtet von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Für 10 Millionen Euro Bundesgeld wurde der Stülerbau am Schloss Charlottenburg umgebaut, in dem 38 Jahre lang das Ägyptische Museum mit der Nofretete als Hauptattraktion zu sehen war. Als Ausgleich für deren Umzug auf die Museumsinsel entsteht im Westen ein hochfeines Museumsquartier für die klassische Moderne.

Das Architektenbüro Sunder-Plassmann hat die Chance genutzt, durch die Verlegung des Eingangs einen attraktiven Eingangshof mit Café für den Stülerbau, das benachbarte Heimatmuseum und die Sammlung antiker Skulpturenabgüsse zu schaffen. Davon profitiert auch das Bröhan-Museum für Kunst und Design um 1900 auf der anderen Straßenseite. Schon seit 1996 ist im Zwillingsbau des neuen Museums die Sammlung Heinz Berggruens mit den Fixsternen Picasso und Klee beheimatet. Es soll bald einen Erweiterungsbau und einen Skulpturengarten bekommen. Das neue Museum für die Surrealistensammlung vervollständigt den Blick auf die klassische Moderne, ohne den persönlichen Charme beider Sammlungen anzutasten.

Die gemeinsame Liebe von Heinz Berggruen und Dieter Scherf war Paul Klee, seine filigranen Zeichnungen und Aquarelle füllen in beiden Häusern ganze Zimmer. In den villenartigen ehemaligen Kasernenbauten gibt es keine großen Säle, sie sind wie geschaffen für eine Kunst, die den Blick nach innen richtet und sich dem Diktat der äußeren Wirklichkeit entzieht. Ein schrecklich-schönes Pandämonium öffnet sich, angefüllt mit Plagegeistern aus Alpträumen, Todesfantasien und erotischen Obsessionen.

Dabei ist ein Klassiker des Genres wie Dali nur mit sechs filigranen Zeichenblättern aus den Dreißigern vertreten, ein Beleg für das Qualitätsbewusstsein des introvertierten Sammlers. Der Surrealismus als Mode und Zeiterscheinung interessierte ihn nicht. Mit hellwachem Blick trug er phantastische Bildfindungen seit den Architekturlabyrinthen Piranesis und Goyas verrätselten „Capricos“ mit ihren Eselsmenschen zusammen. Eine hingetuschte Ruinenlandschaft des Dichters Victor Hugo, ein geflügelter weiblichen Vampir von Edvard Munch, eine Caféhausszene von Georg Grosz, ein Video mit Tiermenschen von Rosemarie Trockel: der Parcours durch die surrealen Welten steckt voller Überraschungen.

Einen Schwerpunkt bildet das Werk von Hans Bellmer, ein besonderes Geschenk an Berlin, wo der Künstler in den ersten Nazijahren heimlich an seinen Mädchenpuppen baute und sie in erotischen Posen fotografierte. Im April ist bereits eine Gedenktafel an Bellmers damaligem Wohnhaus in der Ehrenfelsstraße 8A eingeweiht worden. Von dort zog er 1938 nach Paris, in die Hauptstadt des Surrealismus. Endlich besitzt auch das nüchterne Berlin eine hübsche Filiale.


„Surreale Welten.“. Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstraße 70, 14059 Berlin, geöffnet täglich außer montags, 10-18 Uhr. Bestandskatalog im Nicolai Verlag, 440 Seiten, 59 Euro.