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Babylons Blüte

Mythos und Wirklichkeit der großen Stadt im Berliner Pergamonmuseum

von Michael Bienert

„So wird in einem Sturm niedergeworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden“, prophezeit ein Engel in der Offenbarung des Johannes. Welch ein Irrtum. Babylon ist überall. „Babylon by Bus“ nannte das Reaggaeidol Bob Marley 1978 eine Platte mit Livemitschnitten von Konzerten in aller Welt. Für den Rastafar war Babylon ein Symbol weißer Herrschaft, für Verschleppung, Versklavung und Unterdrückung der Farbigen. Und egal, wo Wolkenkratzer in den Himmel wachsen, sofort stellt sich die Assoziation an den Turmbau zu Babel ein. Hybris, Sittenlosigkeit, Sprachverwirrung, Apokalypse: Der Mythos Babylon erzählt von Urängsten der zivilisierten Menschheit.

Auch Berlin galt vielen als überhebliches Sündenbabel, seit es im späten 19. Jahrhundert eine richtige Großstadt wurde. Damals machten sich deutsche Archäologen auf den Weg, die Metropole aus vorchristlicher Zeit auszugraben. Am Euphrat wurden sie fündig. Wegen des Ersten Weltkrieges mussten die Grabungen 1917 abgebrochen werden, doch gelang es wenige Jahre später, riesige Mengen von Ziegelsteinen und Skulpturen aus dem alten Babylon nach Berlin zu verschiffen. Daraus puzzelte man eine 30 Meter lange Prozessionstraße und das 14 Meter hohe Ishtar-Tor zusammen, die zweite Hauptattraktion des 1930 eröffneten Pergamon-Museums.

Nun haben sich die Berliner Altertumsverwalter mit dem Louvre und dem British Museum zusammengetan, um das alte Babylon auf dem aktuellen Stand der Forschung, in Glanz und Fülle wiederauferstehen zu lassen. Die Ausstellung im Pergamonmuseum tritt mit dem Anspruch auf, Mythos und Wahrheit der großen Stadt säuberlich zu trennen. So geht es vom Pergamonaltar nach rechts zu den archäologischen Exponaten, nach links in eine Art Geisterbahn mit schrillen und schrägen Belegen aus der Rezeptionsgeschichte. Bob Marleys Plattencover liegt dort hinter Glas. In einer Endlosschleife laufen Kinobilder der brennenden Stadt aus dem 1916 gedrehten Riesenfilm „Intolerance“ von David W. Griffith. „Black and White (Babylon)“ nannte der Videokünstler Douglas Gordon 1996 eine raumgreifende Installation mit verschwommenen Amateuraufnahmen einer Stripperin: eine Variation auf die biblische „Hure Babylon“. Den größten Ausstellungsraum füllen Visionen alter Meister und moderner Architekten vom babylonischen Turmbau. Eine große Fotoarbeit zeigt die Künstlerin Cindy Sherman als Judith verkleidet, die das abgeschlagene Haupt des babylonischen Heerführers Holofernes in der Hand hält.

Wie ihre zahllosen Vorgänger aus der Kunstgeschichte bebildert Sherman eine alttestamentarische Episode aus der Zeit des jüdischen Exils in Babylon. Hier liegt in den Augen des Mythenkurators Moritz Wullen der Ursprung aller Babylonmythen vergraben. In Wirklichkeit ging es der jüdischen Elite, die König Nebukadnezar II. im 6. Jahrhundert vor Christus an den Euphrat verschleppen ließ, relativ gut: Babylon war eine multikulturelle Metropole, in der die Juden ihre Religion und Identität nicht aufgeben mussten. Erst in der christlichen Überlieferung wurde der Ort des Exils zu einem Symbol für Versklavung, Unterdrückung, Gewalt und Gottlosigkeit umgedeutet.

Die Befunde der Archäologen im anderen Flügel des Pergamonmuseums setzen sich zum erstaunlichen Panorama einer frühen Hochkultur zusammen, die den Griechen und Römern vieles voraus hatte. Den Satz des Pythagoras beherrschten die babylonischen Mathematiker schon 1500 vor Christus. Astrologie und Medizin waren hoch entwickelt. Eine effiziente Agrarwirtschaft war die Grundlage für den Wohlstand der blühenden Metropole, sie unterhielt Handelsbeziehungen in den Mittelmeerraum und bis nach Indien. Auf Tontafeln mit filigraner Keilschrift sind bis zu 4000 Jahre alte Gesetzestexte, Ehe- und Pachtverträge erhalten. Es gab Schulen, in denen Kinder bis zu zehn Jahre lang unterrichtet wurden, bei Ausgrabungen fand man Häuser mit Bädern und separaten Toiletten.

Spirituelles Zentrum der babylonischen Welt war die Zikkurat, der rund 90 Meter hohe Tempelturm, dessen Fundamente der deutsche Archäologe Robert Koldewey kurz vor dem Ersten Weltkrieg entdeckte. Als das Heiligtum im 6. Jahrhundert vor Christus gebaut wurde, war Babylon bereits eine tausendjährige und vielsprachige Metropole. „Babylon ist nicht gescheitert“, betont der Kurator Joachim Marzahn, der seit 30 Jahren Keilschriften dechiffriert. Anders als der Mythos suggeriert, ging die Stadt nicht plötzlich unter, sondern verlor allmählich an Bedeutung. Alexander der Große eroberte sie im Jahr 323 vor Christus. Er ließ den Tempelturm abreißen, doch erst irgendwann im 4. bis 8. nachchristlichen Jahrhundert wurde die Siedlung Babylon aufgegeben.

Heute ist Babel eine irakische Provinz mit 140.000 Einwohnern. In der Hauptstadt Hilla starben im März 2005 bei einem Attentat 125 schiitische Pilger. Er glaube nicht, dass sich so etwas wiederhole, sagt der örtliche Polizeichef. Der irakische Filmemacher Hadi Mahood hat ihn interviewt, auch einen Schmied, einen Unternehmer, eine Frauenrechtlerin, einen Korangelehrten, einen Künstler und andere Bewohner der Gegend. Beim Verlassen des Pergamonmuseums sprechen sie von einer Videowand zu den Besuchern. „Ich fühle mich zuerst als Babylonier, dann als Iraker“, sagt ein junger Straßenpolizist. Schließlich gehöre die Etablierung von Recht und Ordnung zu den großen Kulturleistungen vor 3500 Jahren.

In der Nähe von Hilla liegen sich die archäologischen Grabungsstätten. 1985 begann Saddam Hussein mit dem Wiederaufbau des alten Babylon, dabei ließ er wie die alten Könige die Ziegelsteine mit seinem Namen stempeln. Polnische und US-Truppen besetzten das Gelände nach Saddams Sturz. Beim Bau von Hubschraubererlandeplätzen und Verteidigungsanlagen soll die Ruinenstadt erheblich beschädigt worden sein. Die Berliner Ausstellung zeigt keine Leihgaben aus dem Irak, weil der Transport nach Ansicht der Irakis viel zu gefährlich gewesen wäre. Babylons Geschichte ist noch nicht zuende.


Bis 5. Oktober 2008. Zwei Kataloge zu „Mythos“ und „Wahrheit“ sind im Hirmer Verlag erschienen, zusammen 928 Seiten, 39,90 Euro. Empfehlenswert ist eine Ticketreservierung unter www.smb.museum/babylon.