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THEATERKRITIK

Die Verstörung
von Falk Richter. Uraufführung an der Schaubühne am 8. Dezember 2005. Regie: Falk Richter. Mit Robert Beyer, Bruno Chathomas, Judith Engel, Stipe Erceg, Jenny Schily u. a.


Stille Nacht, blutige Nacht

von Michael Bienert

Weihnachten ist schrecklich! Friede, Freude, Feststimmung ist angesagt, aber oft genug beschleunigt das nur den Ausbruch familiärer Streitigkeiten und Frustrationen. Noch schlimmer sind die Leute in Falk Richters neuem Stück „Die Verstörung“ dran. Die Heilige Nacht, in der es spielt, ist eine eisige, mörderische Nacht. Der Autor und Regisseur zelebriert sie vor einer nackten, halbrunden Betonwand in der Schaubühne, in der das Krachen zusammenprallender Autos widerhallt. Videos flackern über den Beton und Stellwände, die wie zugefrorene Glasscheiben aussehen. Die Bühne (von Katrin Hoffmann) ist mit blau leuchtenden Eisschollen ausgelegt. Das Personal des Stücks sucht vergeblich Wärme auf herumliegenden Fellen, der Couch eines Psychiaters, an einem schwarzen Klavier und einem nervös auf die Bühne gezerrten Christbäumchen.

Da ist der Junge, den die Mutter (Jenny Schily) im Flieger zum Vater geschickt hat, weil sie mit ihrem Freund feiern will, aber niemand holt das Kind am Flughafen ab. Der Vater (André Szymanski), ein verkrachter Schauspieler, hängt auf einer Theaterprobe herum. Welches Stück dort am Heiligen Abend einstudiert werden soll, weiß keiner der Beteiligten so genau. Die Probe wird zum Psychodrama, bei dem die Grenzen zwischen Kunst und Leben zerfließen. Ist es Rollenspiel, Sehnsucht oder Tatsache, wenn eine spindeldürre Schauspielerin (Judith Engel) von ihrem Ehe- und Schwangerschaftsglück schwärmt? Egal. So oder so taugt das Glück nichts in den Augen des Regisseurs (Bruno Cathomas), denn: „Das ergibt keinen Konflikt.“

Auf der Suche nach einem passenden Sexualpartner für die Heilige Nacht landet der Regisseur via Internetrecherche bei einem schwulen Beau (Stipe Erceg). Weil der sich allzu sehr ziert, haut ihm sein Besucher den Schädel ein. „Jeder bekommt Weihnachten, was er sich insgeheim wünscht“, sagt der Täter dazu, immerhin hatte das Opfer auf seiner Internetseite masochistische Neigungen angegeben. Stille Nacht, blutige Nacht. Je länger sie dauert, desto mehr Leichen stapeln sich in schwarzen Müllsäcken vor der Notaufnahme einer Klinik. Obenauf liegen unausgepackte Geschenkpäckchen. Eine schöne Bescherung.

Alle Figuren sind Monaden, schwer beziehungsgestört und umso gieriger nach Nähe. Schon der allein gelassene Junge am Flughafen hat gelernt, dass man die Bitte um ein wenig körperliche Wärme immer mit dem Nachsatz versehen muß: „Aber es bedeutet nichts.“ Bloß keine Bindung, keine Verbindlichkeit eingehen oder einfordern! Dieses Motiv zieht sich als roter Faden durch Richters locker verbundene Fragmente beschädigten Lebens.

Geschickt arrangiert er sie zu einem apokalyptischen Tableau, doch wirklich verstörend ist diese „Verstörung“ nicht. Die radikale Reduktion menschlicher Beziehungen auf der Bühne birgt offenbar ein dramaturgisches Problem. Am spannendsten auf dem Theater sind nun einmal möglichst komplexe, tiefgehende Beziehungskonflikte. Und wenn es zu denen gar nicht mehr kommen darf, weil die Figuren ständig davor kneifen, dann mag die Theatermaschinerie noch so heftig flimmern, flackern, dröhnen und Kunstschnee auf das Publikum rieseln lassen: Es bleibt nach dieser Uraufführung nur ein fades Gefühl zurück. Nichts gegen die Mißempfindungen, die aufbrechen, wenn die häusliche Inszenierung des Familienfriedens unterm Weihnachtsbaum mal wieder gründlich daneben geht.


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 10. Dezember 2005.

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