www.text-der-stadt.de
Die Homepage von
Michael Bienert


THEATERKRITIK

Spuren der Verirrten
von Peter Handke. Regie: Claus Peymann. Uraufführung am Berliner Ensemble am 17. Februar 2007. Mit Carmen-Maja Antoni, Ursula Höpfner, Rainer Philippi, Konrad Singer, Axel Werner u. a.


Tempi passati!


von Michael Bienert

Wer sich verirrt, geht nicht gleich verloren. Vielleicht entdeckt er etwas völlig Neues und wächst im Unbekannten über sich hinaus. Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald - und kamen mit einem Schatz wieder heraus. Es könnte sich also lohnen, den „Spuren der Verirrten“, so der Titel von Peter Handkes neuem Stück, zu folgen. Gleich in der ersten Szene markieren Hänsel und Gretel, zwei bereits erwachsene Kinder, ihren Weg mit fetten Brotbrocken auf der abschüssigen grauen Bühne. Andere Paare hinterlassen Zettel und Metallkegel, die alsbald durch einen auffrischenden Theaterwind durcheinander gewirbelt werden.

Unten am Bühnenrand sitzt ein Zuschauer mit dunklem Schlapphut (Veit Schubert), in Handkes Textvorlage der Ich-Erzähler, der das Hin-und-Hergehen vieler Paare auf den Bühnenbrettern imaginiert. Nach eineinhalb Stunden, kurz vor Aufführungsende, klettert er hoch, um dem grauen und trostlosen Treiben eine bessere Wendung zu geben. „Schluß mit dem tragischen Gehabe“, raunzt er die Schauspieler an. Wie ein ins Regiefach übergelaufener Dramaturg hält der Schlapphütige dem Ensemble einen Kurzvortrag übers Ende der Tragödie und fordert die Spieler auf, sich mit positiven Geschichten in die Inszenierung einzubringen.

Dass dem geschauspielerten Zuschauer irgendwann der Geduldsfaden reisst, kann man als echter Zuschauer nachfühlen. Gibt es doch kaum Momente der Aufführung, in denen die Kurzszenen mit ihren vielen über die Guckkastenbühne irrenden Figuren zu leuchten beginnen. Wie aufgezogen lässt der Regisseur Claus Peymann das Personal über die Bühne schnurren: das verkrachte Liebespaar und ein altes jüdisches Ehepaar, alte Kameraden und giftige alte Damen, Abraham und Isaak, Medea und Ödipus.

Dazwischen blinklichtert eine Narrenfigur mit Fliegerkappe, die ein Tischfeuerwerk aus einem großen Zauberbuch explodieren lässt (Konrad Singer). Markant ist auch die Figur des „Dritten“ mit Frack, Dreispitz und Turnschuhen (Axel Werner), ein Retter in der Not bei kriselnden Paarbeziehungen. Er hält dem Ensemble einen Vortrag über das Verschwinden der Zeit und des Anderen: „Ein Stich ist geschehen, ein Stich ins Herz der Welt. Die Zeit, sie zeitigt nichts mehr. Der Donner - donnert nicht mehr. Die Schmerzen - schmerzen nicht mehr. Die Herzen - herzen nicht mehr. - Und die Brandung - brandet nicht mehr. - Und das Währen - währet nicht mehr.“

So geht das noch eine ganze Weile weiter. Es herrscht eine sehr gepflegte, poetisch verbrämte, schön dick aufgetragene Endzeitstimmung am Berliner Ensemble. Dessen Mitglieder spielten sie bei der Premiere so routiniert herunter, als hätten sie schon während der sechs (!) öffentlichen Voraufführungen alle Lust daran verloren. Regisseur Peymann choreographierte das Kopftheater seines Freundes Handke mit eisiger Perfektion. Doch gerade das Anklammern an Äußerlichkeiten verrät insgeheime Zweifel an der Substanz der Textvorlage.

Handke führt das Theater an diesem Abend nicht schön in die Irre, nicht ins Neue, nicht ins Störende und Verstörende, sondern nur ins Altbekannte. Die meisten Gestalten glaubt man auf den ersten Blick aus früheren Peymann-Inszenierungen zu kennen. Nie haben sie die Zeit, sich davon freizuspielen. Die Bandagen und schweren Blessuren, die sich die Figuren während des Abends zuziehen, bleiben so steril wie das über die Bühne kullernde Gummiobst. Selbst dem großartigen Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann ist nichts eingefallen als ein von grauen Zackenwänden umstellter Einheitsraum.

Spuren der Verirrten: Sie führen an diesem Abend in die Theatervergangenheit, sonst nirgendwo hin. „Das waren noch Zeiten. Das war die Zeit“, singt das Ensemble sehr melodisch zum Schluss. Aber selbst dieser aufs Gemüt zielende Theatertrick wollte bei der Premiere nicht verfangen, der Beifall des Publikums blieb matt und höflich. Die Berliner sind längst aufregendere Irrwege des Theaters gewohnt: Tempi passati!


zurück zur Startseite
zurück zur Rubrik THEATERKRITIK
zum
Spielplan des BERLINER ENSEMBLES