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THEATERKRITIK
Die Orestie von Aischylos. Premiere am Deutschen Theater am 23. September 2006. Regie: Michael Thalheimer. Mit Constanze Becker, Michael Gerber, Henning Vogt, Katharina Schmalenberg, Michael Benthin, Stefan Konarske, Lotte Ohm, Michael Gerber.
Beschleunigter Blutrausch
von Michael Bienert
Die Hersteller von Theaterblut dürfen auf steigende Umsätze hoffen. In den letzten Jahren wurde der dickflüssige Saft auf den Bühnen sehr sparsam eingesetzt. Die Regisseure zogen bei der Inszenierung von Bluttaten eine antinaturalistische Spielweise vor und verbannten pseudorealistische Requisiten. Das war eine Voraussetzung für den Erfolg der Düsseldorfer Theaterblutorgie, die vor einem Jahr die sogenannte Ekeltheaterdebatte auslöste. In Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung gossen sich nackte Schauspieler reichlich roten Saft aus Flaschen über die Köpfe. Zu recht eröffnete diese Arbeit das letzte Theatertreffen, denn das Kunstblut wurde als vielfältige Maske und Kostüm, als szenisches Schmiermittel und Verfremdungseffekt neu entdeckt, weit entfernt von billigen Ekelerregungsabsichten.
Nun zeigt das Deutsche Theater in Berlin, wo auch Gosch gern inszeniert, eine bluttriefende Orestie, die auf den ersten Blick fast wie ein Schülerplagiat des Düsseldorfer Mordrituals ausschaut. Eine junge Frau mit dunklen langen Haaren, nur mit einem fleischfarbenen Schlüpfer und Büstenhalter bekleidet, klettert auf ein hölzernes Schaugerüst und gießt sich einen Kanister mit Theaterblut über den Kopf. Dann kaut sie an einem Sandwich herum und zündet sich eine Zigarette an. So beginnt die Handlung vor dem rot besudelten Bretterverschlag, mit dem der Bühnenbildner Olaf Altmann die mächtige Guckkastenbühne bis hoch an die Decke zugenagelt hat.
Statt ins Bühnenhaus greift die Inszenierung in den Zuschauerraum über. Das dunkle Rot der Sitze korrespondiert mit den Blutspritzern über zwei breiten, äußerst schmalen Spielebenen vor dem Publikum. Auf den Rängen sitzt in Theaterbesucherkostümen der 40-köpfiger Chor der antiken Tragödie, der stimmlich höchst präzise ins Spielgeschehen eingreift. Das normale Publikum bleibt fast die ganze Zeit im Licht. Auch das kennt man von Jürgen Goschs Inszenierungen, aber hier führt ein Jüngerer Regie, der bisher durch die äußerst eigensinnige Ästhetik seiner Klassikerinszenierungen auffielt. Hat Michael Thalheimer keine eigenen Ideen mehr, ist er etwa schon ausgebrannt?
Diese Befürchtung verflüchtigt sich aber bald, dazu ist die Aufführung viel zu konzentriert und in sich stimmig. Schon das griechische Publikum des Aischylos vor 2500 Jahren saß im Halbrund vor einer breiten Bühne ohne illusionistische Tiefenwirkung. Diese Anordnung kommt in Berlin dem Stück ebenso zugute wie die Reduktion der Mittel auf genaues Sprechen, wenige starke Gesten, ein Minimum an Kostümen und Requisiten. Begleitet wird die Handlung von einem E-Gitarristen, dessen leise Hintergrundmusik sich in kritischen Momenten der Handlung zu ohrenbetäubendem Dröhnen steigert. Dass dabei an allen Figuren reichlich rote Farbe klebt, liegt in der Geschichte begründet. Das vergossene Blut ist das einzige zwischenmenschliche Band, ansonsten herrscht Eiseskälte in Orests Familie.
Im Mittelpunkt steht hier die Mutter Klytaimestra. Constanza Becker spielt eine tief traumatisierte Frau, ausgehöhlt vom Schmerz darüber, dass ihr Mann Agamemnon die Tochter Iphigenie opfern ließ, um dem griechischen Herr die Ausfahrt nach Troja zu ermöglichen. Dieses archaische Blutopfer zieht den Mord am heimgekehrten Ehemann (Henning Vogt) ebenso zwingend nach sich wie die Rache des Sohnes an der treulosen Mutter. Sichtlich erleichtert rühmt Klytaimnestra den Gattenmord nach vollbrachter Arbeit als ihr Meisterstück und weist den Chor, der sie verurteilen will, souverän in die Schranken. Für Orest (Stefan Konarske) ist der Muttermord der Beweis, dass er kein Weib ist, er verwandelt sich dadurch von einem lächerlichen Bübchen in einen blutbesudelten Mannskerl, ehe ihn die Erinnyen heimsuchen. Es ist der einzige Mord, dem das Publikum zusehen muß, wobei die Saaltüren als Fluchtweg sperrangelweit offenstehen. Doch niemand stiehlt sich davon. Orest erdrosselt die Mutter mit seinem vom Blut ihres lächerlichen Liebhabers Aigistos (Michael Benthin) triefenden Hemd. Danach steht die Tote noch einmal auf und bittet den Chor um Gerechtigkeit: eine große Figur, die wirklich Mitleid und Furcht erregt, während die Männer nur lächerliche Machthaber sind.
In der Antike wurden Frauenrollen von Männern gespielt, daran erinnert beiläufig ein komischer Perückenauftritt Michael Gerbers als alte Amme. Eine starke Nebenfigur ist auch Kassandra, gespielt von Katharina Schmalenberg. Von Agamemnon aus Troja verschleppt, geht sie hellsichtig ihrem Untergang entgegen. Gestrichen sind die Auftritte der Erinnyen und der Götter Apollon und Athene, sowie fast die ganze Gerichtsverhandlung über Orest im letzten Teil der antiken Trilogie. Die Idee einer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, von Mensch und Gott ist Thalheimers Theater völlig fremd. Statt dessen kehrt er die schon bei Aischylos spürbaren Dissonanzen hervor. Tun, leiden, lernen, skandiert der Chor und rät, Maß und Mitte zu wahren. Doch das alles hilft dem vorn auf der Bühne kauernden Orest am Ende gar nichts. Und wenn der wankelmütige Bürgerchor wiederholt Frieden für immer ruft, dann klingt das lediglich wie eine hohle Beschwörungsformel.
Das antike Publikum verbrachte mehrere Tage unter freiem Himmel im Theater. Diese Aufführung stützt sich auf die exzellente Übertragung der Orestie durch Peter Stein, bei dessen Schaubühneninszenierung aus dem Jahr 1980 das Publikum viele Stunden auf unbequemen Sitzen ausharrte. Thalheimers Schauspieler schaffen es in nur 100 Minuten, mit phänomenalem Timing fast alles Wesentliche der Geschichte rüberzubringen. Nicht zwangsläufig muß das Theater mit der allgemeinen Beschleunigung des Lebens mithalten, aber an diesem Abend raubt das Tempo der antiken Tragödie nichts von ihrer Wucht.
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