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THEATERKRITIK

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth. Premiere an den Kammerspielen des Deutschen Theaters am 27. Mai 2006. Regie: Andreas Dresen. Mit Sven Lehmann, Inka Friedrich, Christian Grashof, Katharina Schmalenberg u. a.


Auf der Wippe, auf der Kippe


von Michael Bienert

Es ist aus, ehe das Stück angefangen hat. Kasimir, der entlassene Chauffeur, und Karoline, das Bürofräulein, sind schon kein Paar mehr, wenn sie den Rummelplatz betreten. Obwohl sie noch so tun, als wüßten sie es nicht. Hat die beiden überhaupt jemals etwas verbunden außer ihrer kleinbürgerlichen Durchschnittlichkeit? Dieser Kasimir (Sven Lehmann) ist ein kreuzbraver Kerl, der seinen Frust am liebsten in sich hineinfrisst, um ihn dann doch äußerst widerwillig mir rauher Stimme und abgehackten Sätzen auszuspucken. Und Karoline (Inka Friedrich) im leuchtend blauen Kleid will zwar ihren Spaß auf dem Oktoberfest haben, bewahrt sich aber noch im Zustand der Volltrunkenheit eine Aura aseptischer Wohlanständigkeit. Vulgär oder unappetitlich wird sie nie. Sowenig wie Kasimir jemals Gefahr läuft, wirklich die Kontrolle zu verlieren und ihr aus Eifersucht etwas zuleide zu tun.

Kasimir und Karoline: Zwischen den beiden Titelfiguren von Horvaths Stück herrscht in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nicht gerade Hochspannung. Deshalb wirkt es dann doch ein klein wenig hölzern und lehrhaft, wie uns die seelische Zersetzung des Kleinstbürgertums durch Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit vorgeführt wird. 1932 uraufgeführt, ist das Stück durchaus aktuell geblieben. Der Regisseur Andreas Dresen, mittlerweile berühmt durch poetische Milieustudien wie die Filme „Halbe Treppe“ oder „Sommer vorm Balkon“, hat in Horvath einen seelenverwandten Autor entdeckt. Figuren auf der sozialen Kippe lieben beide.

Ihre unsichere Lage symbolisiert eine in der Bühnenmitte aufgehängte Holzplanke, auf der die Schauspieler wippen und Karussell fahren können. Drumherum ein paar Holzgerüste, das ist schon der ganze Rummelplatz (von Matthias Fischer-Dieskau). Bevölkert wird er von 13 Musikanten der Gruppe „17 Hippies“, die schon in Dresens „Halbe Treppe“ für den richtigen Ton sorgten. Ihre zugleich zartsinnige und ironisch gebrochene Schrammelmusik hält den ganzen Theaterabend zusammen. Die Melancholie dieser Musik ist das Netz, das die Figuren immer wieder auffängt und davor schützt, in den Abgründen des Dramas zu versinken.

Karoline will fliegen, deshalb reißt sie sich von dem arbeitslosen Kasimir los; aber sie sinkt immer tiefer, prostituiert sich ums Haar. Der Kommerzienrat Rauch, der sie betrunken macht, ist ein herrlicher Lustgreis (Christian Grashof). Servil räumt ihm Karolines neuer Freund, der ruhige, lebenskluge Schürzinger (Thorsten Merten) den Platz. Widerlich wie Rauch, die Spitze der sozialen Pyramide, sieht ihr unteres Ende aus: Der Kriminelle Merkl (Mark Wasche) ist ein brutaler Menschen- und Frauenverächter. Rücksichtslos demütigt er seine Erna, die alles über sich ergehen läßt. Nach Merkls Verhaftung klebt sie wie ein Klette an Kasimir. Katharina Schmalenbach als fragile Verbrecherbraut besitzt die intensivste Ausstrahlung in diesem Personentableau.

Zudem hat Andreas Dresen für eine Szene einige Körperbehinderte engagiert, darunter einen in Berlin stadtbekannten Bettler, der durch eine Krankheit bis aufs Skelett abgemagert ist. Außerdem eine extrem dicke Frau, ein überlanges Mädchen und einen Liliputaner. Ein unsympathischer Schausteller führt sie dem Rummelplatzpublikum vor. Da es sich offensichtlich nicht um Schauspieler handelt, drohen auch die Zuschauer in die Rolle von Voyeuren zu geraten. Hier riskiert Dresen ein einziges Mal die Geschlossenheit seiner Inszenierung, balanciert auf einem schmalen Grat zwischen Kunst und Nichtkunst. Es ist der konzentrierteste Moment des ganzen Abends. Die Szene glückt, weil es allen Beteiligten gelingt, die Tragik der Figuren in den Vordergrund zu spielen, denen die behinderten Darsteller ihre Körper lediglich leihen. Und wieder ist es die zunächst leise, dann allmählich schneller und lauter wirbelnde Bühnenmusik, die über den Abgrund des Augenblicks hinwegführt.


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