THEATERKRITIK

Mutter Courage und ihre Kinder
von Bertolt Brecht. Premiere am Berliner Ensemble am 26. November 2005. Regie: Claus Peymann. Mit Carmen-Maja Antoni, Christina Drechsler, Thomas Niehaus, Michael Rothmann, Martin Seifert, Manfred Karge, Ursula Höpfner u. a.


Die Drehbühne steht still

von Michael Bienert

Der Planwagen der Mutter Courage hat aufblasbare Gummireifen und eine Plastikplane bekommen, ist aber sonst ganz der alte. Mit den menschlichen Zugtieren an der Deichsel erinnert er an die vielen Flüchtlingstrecks, die seit dem Zweiten Weltkrieg unterwegs waren. Der Wagen ist für die Courage, ihre Kinder und vagabundierenden Männer vor allem notdürftige Behausung. Damit man das armselige Gefährt als Krämerladen überhaupt wahrnimmt, hat sich die versierte Kauffrau eine schicke Leuchtreklame angeschafft. Der weiß geschwungene Neonschriftzug „Courage & Co“ wandert durch die Nacht, wenn sie ihren Karren über die tiefschwarz ausgeschlagene Bühne des Berliner Ensembles zieht.

Es gehört Mut dazu, dieses Stück überhaupt an diesem Theater zu inszenieren, wo immer noch die Erinnerungen an Brecht umgehen. Und an die Weigel als bauernschlaue, zählebige Titelheldin seiner eigenhändigen, triumphalen „Courage“-Inszenierung. Über 400 Aufführungen hat sie am Berliner Ensemble erlebt. Zunächst kam sie 1949 am Deutschen Theater heraus, wo Peter Zadek vor zwei Jahren ein Remake versuchte. Doch außer einer Besetzung der Hauptrolle gegen den Strich, damals mit der zarten Angela Winkler, fiel dem Meisterregisseur nichts ein, was eine neue Sicht auf Brechts berühmtestes Stück eröffnet hätte. Ähnlich respektvoll nähert sich ihm nun Claus Peymann am Berliner Ensemble. Auch Peymann läßt den Klassiker vom Blatt spielen und beschränkt sich auf die minutiöse Herstellung einer Inszenierung, in der nichts dem Zufall überlassen bleibt. Sie ist aus einem Guss, und doch fehlt ihr etwas: ein Überraschungsmoment, eine Irritation, ein inspirierender Funke.

Carmen-Maja Antoni in der Hauptrolle ist eine sichere Bank für Peymann: Eine versierte, sichere Brecht-Spielerin, die hundertprozentig den richtigen Ton trifft, die Figur aber auch mit ganz eigenen Zügen ausstattet. Antoni ist kleiner und rundlicher als die hagere Weigel, wirkt viel verschmitzter und lebenslustiger mit ihrem feschen roten Hut. Am stärksten ist Antoni als Komödiantin, als gewitzte Überlebenskünstlerin mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Wie der Krieg die Courage entstellt, was er sie kostet, das sieht man bei dieser Schauspielerin zwar auch ganz genau - aber spürt es wenig. Es bleibt vor allem an der Tochter der Courage hängen, der stummen Katrin (Christina Drechsler), den Zuschauern das unaussprechliche Elend des Krieges durch hilflose Gesten einzuprägen.

Ursula Höpfner hat einige glänzende Szenen als Hure Yvette, zuerst als virtuose Chansonette ihres Liebesleids, später als Edelprostituierte, die einen völlig vertrottelten General hinter sich herschleppt. Was für ein Schmankerl, dass Peymann für solch eine Mini-Nebenrolle den großen alten Walter Schmidinger auf die Bühne holen kann! Martin Seifert als korrupter Feldprediger, Manfred Karge als hungriger Koch, Thomas Niemann und Michael Rothmann als Söhne der Courage - sie alle machen ihre Sache tadellos. Die Kostüme von Maria-Elena Amos sind vorbildlich, schaffen eine künstlich-zeitlose Theaterwelt und charakterisieren die Figuren dennoch genau. Die Bühnenmusik von Paul Dessau allerdings hat viel von ihrem Biss und ihrer verstörenden Schroffheit verloren. Umarrangiert klingt sie mehr wie eine kulinarische Beilage, das hätte Brecht nicht gefallen.

Schauplatz ist eine leicht zum Publikum geneigte, kreisförmige schwarze Spielfläche (von Frank Hänig), was sofort an den Einsatz der Drehbühne bei Brecht denken läßt. Unvergesslich das Bild der Weigel, die auf der rotierende Bühne ihren Karren zog, ohne vom Fleck zu kommen. Wie schon Zadek bei seinem „Courage“-Remake schreckt Peymann vor dieser direkten Wiederholung zurück. Lieber läßt er den Karren umständlich immer wieder vom Spielkreis über die Hinterbühne und dann zurück ins Rampenlicht zerren. An der symbolischen Gefangenschaft aller Figuren im Todeskreis des Krieges ändert das nichts.

Die Zuschauer sollten darauf blicken und erkennen, was falsch läuft, so wünschte sich das Brecht. Um das Publikum auf Distanz zu halten, hatte er sich allerlei Verfremdungseffekte ausgedacht. Peymann streicht alle didaktischen Ausrufezeichen und ersetzt sie durch die bewährten Mittel seines Theaters. Das Ergebnis: Wir sitzen wir im Berliner Ensemble und freuen oder ärgern uns über die handwerkliche Perfektion dieser „Courage“-Aufführung. Mehr passiert nicht. Stillstand auf der Bühne, Stillstand im Parkett. Genau die Art von bürgerlichem Theater, gegen die Brecht immer angerannt ist.


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 1. Dezember 2005.

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