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THEATERKRITIK

Im Dickicht der Städte.
Regie: Frank Castorf. Premiere an der Volksbühne am 23. Februar 2006. Mit Herbert Fritsch, Milan Peschel, Volker Spengler, Rosalind Baffoe, Jeanette Spassova, Irina Kastrinidis, Marc Hosemann, Astrid Meyerfeldt, Hendrik Arnst, Joachim Tomaschewsky und Steve Binetti



Das Chaos ist aufgebraucht

von Michael Bienert

Das Mozartjahr ist auch ein Brechtjahr, denn im August jährt sich Brechts 50. Todestag. Das geht auch an den Spielplänen der Theater nicht spurlos vorbei. Als Topevent soll im Sommer eine freie Produktion in Berlin zu sehen sein: Klaus Maria Brandauer inszeniert die „Dreigroschenoper“ mit Campino von den „Toten Hosen“ als Mackie Messer. Ermöglicht wird dieses Theaterprojekt durch eine Finanzspritze der Deutschen Bank.

Dieses Unternehmen ruiniert gerade seinen Ruf als großzügiger Kunstsponsor, weil es um des schnöden Mammons wegen die Boulevardbühnen am Kudamm abreißen lassen will. Anfang der Woche brachte das 500 Schauspieler und Theaterfreunde zu einer Protestdemo auf die Beine. Ausgerechnet mit Brechtsponsoring will die Bank nun ihr Image aufpolieren! Wie aber heißt es in der „Dreigroschenoper“: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

Ähnliche Neugier wie Brandauer weckte die Volksbühne, deren Chef Frank Castorf „Im Dickicht der Städte“ selbst inszenierte. Niemand hat in den letzten Jahren das Großstadtleben so packend simuliert im Theater simuliert wie Castorf und sein Bühnenbildner Bert Neumann. Für die Adaption von Dostojewskis „Idiot“ haben sie die ganze Volksbühne zu einer mehrstöckigen Containerstadt umgebaut, im letzten Jahr war Döblins „Berlin Alexanderplatz“ als Vorstadtdrama in der Asbestruine des Palasts der Republik zu bewundern. Nun also „der Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chicago“, so der Untertitel von Brechts „Dickicht“-Drama.

Das Bühnenbild läßt sofort Großes erwarten. Eine Art Boxring, mit Straßenpflaster gehärtet, schiebt sich weit in den Zuschauerraum. Hinter dieser Vorbühne funkelt eine witzig verfremdete Brechtgardine, ein halbhoher Vorhang aus Silberlametta. Ein weiterer roter und ein schwarzer Plastikvorhang vor dem mächtigen Bühnenhaus machen neugierig, was sich dahinter versteckt. Leider gar nichts: Der schwarze Vorhang vor der Hauptbühne bleibt den ganzen Abend geschlossen.

Auch sonst enttäuscht die Inszenierung alle Erwartungen. Am Anfang ist man noch gespannt, wie sich die beiden ungleichen Kampfhähne Garga und Shlink schlagen werden. Der Holzhändler Shlink (Herbert Fritsch) steppt im eleganten Anzug in den Ring, während der abgerissene Garga (Milan Peschel) sich im Bett fläzt und Bücher liest. Shlink hetzt einen Zuhälter auf ihn, einen Brutalo im roten Kapuzenshirt (Marc Hosemann), der Garga die Freundin Jane (Irina Kastrinidis) ausspannt. Gargas Vater, ein proletarischer Fettsack (Volker Spengler) wird in den Vernichtungskampf hineingezogen, ebenso die schwarze, bildschöne Mutter (Rosalind Baffoe) und Schwester Marie (Jeanette Spassova).

Vom Untergang einer Familie, den Brecht ausmalte, ist dabei nichts zu sehen. Die Familie Garga ist längst total versumpft. Die Großstadt hat alle Figuren atomisiert. Wahrscheinlich ist der Kampf zwischen Shlink und Garga ein letzter Versuch, so etwas wie eine zwischenmenschliche Beziehung zu erzwingen. Doch das führt nicht zu einer Annäherung, sondern nur zum Rollentausch. Irgendwann hat Garga den Anzug an und schimpft auf die „Sozialschmarotzer“, während der dreckige Shlink Säcke schleppt. Wie und warum es dazu kommt, bleibt so nebulös wie alle Vorgänge auf der Bühne: Man tätowiert und schlitzt sich den Bauch auf, schiebt sich Aktien zu und prostituiert sich. Das ständige Gekeife und Gekreische, der ungepflegte Konversationston, der den Volksbühnenspielern längst zur Manier geworden ist, ermüdet. Die drei Stunden fühlen sich länger als die längsten Castorfschen Theatermarathons an.

„Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit, sagt Garga am Ende von Brechts Stück. So erschöpft und einfallsarm sah Castorfs Volksbühne selten aus. Wer aber sonst holt den Preis für die aufregendste Brechtinszenierung im Gedenkjahr?


Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 25. Februar 2006

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