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THEATERKRITIK

Die Fruchtfliege.
Regie: Christoph Marthaler. Premiere an der Volksbühne am 16. Dezember Dezember 2005. Mit Stefan Wirth (Klavier), Susanne Düllmann, Olivia Grgolli, Ueli Jaeggi, Matthias Matschke, Josef Ostendorf, Bettina Stucky und Winfried Wagner


Musik im Labor

von Michael Bienert

Ist eigentlich schon mal wissenschaftlich untersucht worden, welche Glücks- oder Stresshormone im Körper eines Theaterbesuchers ausgeschüttet werden, wenn er einem klassischen Stück oder einer modernen Operinszenierung beiwohnt? Es wäre doch interessant, die Hirnstromkurven zu vergleichen, wenn Wilhelm Tell die Armbrust anlegt und Isolde den Liebestod erleidet. Kunstgenuß ist immer auch Biochemie. Und wenn ein Theaterabend zu wenig Hormonausschüttungen und neuronale Blitze provoziert, dann gehen wir unbefriedigt nachhause und lesen im Bett noch einen halben Kriminalroman.

Während die biologische Entschlüssung des Theaterglücks noch auf sich warten lässt, ist die Erforschung unseres Liebeslebens schon weit fortgeschritten. Man kann wissenschaftlich ganz präzise beschreiben, welche Lock- und Botenstoffe den sexuellen Appetit anregen, welche körpereigenen Suchtstoffe der Verliebte produziert und was bei einem Orgasmus wirklich passiert. Im Liebesalltag allerdings nützt uns dieses Wissen herzlich wenig. Höchstens die Pharmaindustrie profitiert davon, wenn sie Chemiecocktails wie Viagra an sexuell Frustrierte losschlagen kann, Risiken und Nebenwirkungen inbegriffen.

Eine Art transdisplinäres Forschungslabor hat nun Christoph Marthaler an der Berliner Volksbühne eröffnet. In seiner Inszenierung „Die Fruchtfliege“ begegnen sich Genforschung und Gesang. Ihr gemeinsames Forschungsfeld ist die Liebe, wissenschaftlich gesprochen: all das, was zur Reproduktion und Genoptimierung der Gattung über den puren Sex hinaus bislang notwenig war. Gefühle zum Beispiel, damit so etwas wie eine Familie entstehen konnte und die schutzlosen Nachkommen unserer Vorfahren bessere Überlebenschancen hatten. Das ganze Repertoire der Liebesempfindungen, das im Liedgut und den großen Opern gespeichert ist.

All diese Gefühle und Gesänge sind in Zukunft womöglich nicht mehr nötig, weil sich der Nachwuchs dann besser im Reagenzglas optimieren lässt. Vorausschauend inszeniert Marthaler den musikalischen Parcours durch das Liebesliedgut schon mal als Abgesang. „Du hast mich nie geliebt“ - mit einer Arie aus Verdis Don Carlos, beginnt der Abend. Zwei Herren in grauen Anzügen (Winfried Wagner und Ueli Jaeggi, begleitet von Stefan Wirth am Klavier) proben sie in einem weitläufigen Wartesaal. Darin herrscht die abgestandene Atmosphäre, die man von vielen Bühnenbildern Anna Viebrocks kennt. Er ist aber auch ein Wunderwerk an Zweckmäßigkeit mit seinen vielen Garderobenhaken, verschiebbaren Schränken und aufklappbaren Bänken, in denen sich Requisiten und ganze Personen verstauen lassen.

Über den Garderobenhaken befinden sich Ablagen mit Petrischalen, Reagenzgläsern und Milchflaschen. Jeder der sieben Schauspieler besitzt sein eigenes, liebevoll gepflegtes Chemielabor und nimmt auch mal gern einen Schluck daraus. Soviel Forschungseifer bleibt nicht ohne Folgen: Die Wissenschaftler nehmen Züge ihres Lieblingstiers, der sich rasend schnell reproduzierenden Fruchtfliege, an. Die Pupillen der Forscher mutieren zu Insektenaugen, undurchdringlich wie Quecksibertropfen.

Akribisch notieren sie nicht nur, was in ihren Petrischalen passiert, sondern auch die Verhaltensauffälligkeiten ihrer von Liebesaffekten geplagten Kollegen. Matthias Matschke, das quirlige Forschergenie mit steil abstehenden Strubbelhaaren, wird von verzehrender Eifersucht geplagt: eine Szene wie aus einem alten Stummfilm. Susanne Düllmann verwandelt sich, von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, in Marlene Dietrich. Sie referiert aus Wilhelm Reichs Orgasmustheorie, demnach ist Demokratie unmöglich, so lange sexuell gestörte Politiker neurotische Massen regieren. Olivia Grigolli singt eine fiebrige Mozart-Arie, Bettina Stucky ein wunderbares Stück über das Doppelleben mit Ehemann und Liebhaber. Liebestoll wälzt sie ihre Pfunde über die Bühne. Am komischsten aber ist Joseph Ostendorf, das voluminöseste Mitglied der großen Marthaler-Familie. Wie er Karel Gotts „In mir klingt ein Lied“ flötet und Andrew Lloyd Webbers „Music of the night“ röhrt, löst heftigste elektrische Spannungen in den Lachmuskelnerven aus.

Die Protagonisten treten auf der Stelle, wie bei Marthaler üblich. Es ändert sich nichts im Forschungswartesaal, obwohl eine Leuchtschrift immer wieder anzeigt, mittlerweile seien Tage und Jahre vergangen. Eine schöne Schlussvolte gibt es aber nach gut zwei Stunden doch. Eine Forscherin hält einen Vortrag, in dem sie nachweist, dass das männliche Erbgut eigentlich überflüssig sei und demnächst aussterben werde. Die männlichen Forscher antworten darauf mit einem zornig anschwellenden Bocksgesang. Dann kommt plötzlich eine Ansage aus dem Off: Alle Statisten bitte auf die Bühne zu „Fausts Verdamnis“ von Hector Berlioz! Darauf haben sie gewartet.

Warmer Beifall an der Volksbühne, wo man eine so zart- und hintersinnige Inszenierung lange nicht mehr sah. Man spürte: Marthalers Theater, aus Zürich vertrieben, wird im rauen Berlin innig geliebt. Weil es nicht nur durch den Kopf geht, sondern sich mit musikalischem Witz den Weg durch allerfeinste Nervenkanäle bahnt. Ob das die Neurologen und Biochemiker jemals besser erklären können?

Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 18. Dezember 2005

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