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THEATERKRITIK

Der Kick
von Andres Veiel und Gesine Schmidt. Produktion des Basler Theaters und des Maxim-Gorki-Theaters, April 2004, verschiedene Spielorte. Mit Markus Lerch und Susanne-Marie Wrage.


Black Box Brandenburg

von Michael Bienert

Das Theater ist eine langsame Kunst. Zwar strengt es sich mächtig an, mit den hektischen Bilderfluten der elektronischen Medien zu konkurrieren, doch seine ganz besondere Kraft entfaltet das Theater durch Geduld und Beharrlichkeit. Wenn die Schauspieler mit Hingabe ihre Figuren entwickeln, die Regie einen Stoff oder ein Stück wirklich ernst nimmt, die Zuschauer sich willig auf eine fremde Geschichte einlassen - dann kann es passieren, dass die uralte Theaterkunst allen neueren Medien plötzlich ein Schnippchen schlägt.

Der Autor, Theater- und Filmregisseur Andres Veiel hat sich ein halbes Jahr Zeit gelassen, einer Geschichte nachzuforschen, die vor nicht langer Zeit die gesamte deutsche Presse aufschreckte: Im brandenburgischen Potzlow quälten im Sommer 2002 Jugendliche bestialisch einen Gleichaltrigen zu Tode und versteckten die Leiche anschließend in einer aufgelassenen Jauchegrube. Die Täter stammten aus der rechtsradikalen Jugendszene, die in dieser Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen Zukunftsaussichten großen Zulauf hat.

Im Dorf Potzlow wurde das Verschwinden des Opfers verschwiegen und ignoriert, bis ein Täter im Suff selber mit der Mordtat prahlte. Danach fegte ein Woge des Medieninteresses und der Empörung über die Dorfbewohner hinweg. Die Anklage im Mordprozeß geißelte deren mangelnden „zivilisatorischen Standard“, was eine „rechtsradikale Gesinnungstat“ begünstigt habe. Der studierte Psychologe Andres Veiel aber mißtraut den gängigen Erklärungsmustern der Juristen und Journalisten. Wie schon für seinen preisgekrönten Dokumentarfilm „Black Box BRD“ über die RAF hat er lange mit den Eltern und Freunden der Tatbeteiligten gesprochen. Aus Interviewprotokollen und Gerichtsakten montierte Veiel mit Gesine Schmidt das eineinhalbstündige Dokumentarstück „Der Kick“, das die Mörder und ihr Milieu nicht bloß stigmatisiert. Es stellt eine menschliche Nähe her, ohne die Mordtat selbst zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Veiel zeigt die Zerstörungen, die DDR-Geschichte und Nachwendezeit in den Seelen der Menschen von Potzlow hinterlassen haben - und die selbst die Mutter des Opfers anfällig machen für rechtsradikales Gedankengut. Die Täter, so der erhellende Befund, hätten ebensogut Opfer werden können. Sie wurden selbst von andern Jugendlichen als Außenseiter schikaniert, ehe sie sich der rechten Szene anschlossen.

Ermöglicht hat Veiels langfristige Arbeit an dem Stück eine Koproduktion des Maxim-Gorki-Theaters mit dem Basler Theater, wo es am Samstag in der ehemaligen Volksdruckerei uraufgeführt wurde. Auch in Berlin dient als Spielort eine stark heruntergekommene, leer geräumte Fabrikhalle: Sinnbild des Vakuums, in das hinein sich der Frust der Arbeits- und Zukunftslosen entlädt. Einziges Requisit sind eine Sitzbank, auf der sich die Eltern der Mörder verstört aneinander drängen, und eine schwarze Box mit grell erleuchtetem Fenster für die Gerichtsszenen. Die Schauspieler Markus Lerch und Susanne-Marie Wrage sprechen sämtliche Rollen. Für jede Figur haben sie eine eigene Körperhaltung und Sprechweise gefunden, und wie Wrage vor dem inneren Auge des Betrachters unprätentiös eine komplette Familie aufbaut, das ist schauspielerisch ganz grandios.

Nicht nur in seiner formalen Strenge erinnert dieses Dokumentartheater an die antike Tragödie. Auch die Verstrickung von Tätern und Opfer in ihr Milieu erweist sich in Veiels Deutung als tragisch. Die Schuldigen bekennen sich zwar schuldig, aber ihre Tat ist nicht durch böse Absicht zu erklären, vielmehr Ausdruck einer explosiven sozialen Notlage. Eindrücklich weist die Inszenierung auf das Pulverfaß. Ein schöner Beweis, wie das Theater mit seinen ureigensten Mitteln noch immer Problemzonen der Gesellschaft aufhellen kann.

Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG, April 2004

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