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THEATERKRITIK

Das große Fressen
nach Marco Ferreri. Premiere an der Volksbühne am 26. April 2006. Regie: Dimiter Gotscheff. Marc Hosemann, Herbert Fritsch, Samuel Finzi, Milan Peschel, Almut Zilcher u. a.


Das kulinarische Quartett


von Michael Bienert

Sich zu Tode zu amüsieren ist harte Arbeit. Dabei fängt alles so heiter an. Allmählich füllt sich der illusionslose weiße Rundhorizont der Volksbühne mit Skurrilitäten. Am Klavier ganz hinten nimmt Sir Henry Platz, ein alter Bekannter in diesem Hause und längst eine Kultfigur. Ein verwachsener Mensch, bekleidet mit Kochschürze und Küchenhäubchen (Michael Klobe), kriecht auf allen vieren über die leere Riesenbühne. Dann tritt Milan Peschel an die Rampe, wickelt ein halbes Dutzend Respekt einflößender Küchenmesser aus einem Tuch und stellt sich vor: „Ich bin Milan und ein großartiger Koch.“

Alle Schauspieler reden sich an diesem Abend mit ihren bürgerlichen Namen an, was freilich keinerlei Authentizität suggeriert, sondern im Gegenteil den Spielcharakter des Bühnengeschehens betont, denn als hinreißend komisch hingestellte Kunstfiguren sind ihre Geschöpfe jederzeit durchschaubar. Herbert (Fritsch), der Fernsehregisseur, präsentiert sich im rosa Pulli als glänzender Verkäufer von Gummihandschuhen und seiner selbst. Dem sexbesessenen Flugkapitän Marc (Hosemann) ragt sinnfällig eine Baguettestange aus dem Jackett. Und der Jurist Samuel (Finzi) lebt seine erotisch-kulinarischen Vorlieben aus, indem er seinen blütenweißen Hemdzipfel mit Hilfe zweier saftiger Orangen traktiert.

Milan, Marc, Herbert und Samuel also machen eine lustige Landpartie, um mit einem kulinarischen Fest ihr allzu fad gewordenes Leben zu beenden. Die Inszenierung an der Volksbühne folgt dem Plot des Films „Das große Fressen“ von Marco Ferreri, der 1973 einem saturierten Bürgertum den Spiegel vorhielt. Den opulenten Bildern des Kinos setzen der Regisseur Dimiter Gotscheff, seine Bühnenbildnerin Katrin Brack und die Kostümbildnerin Katrin Lea Tag ihre radikal antiillusionistische Bühnenästhetik entgegen. Ein Klobecken ersetzt an der Volksbühne ein ganzes Badezimmer, ein Einkaufswagen aus dem Supermarkt einen Bugatti und ein großer Kühlschrank dient als orgiastisch wackelnde und quietschende Liebeslaube. Dabei waten, schliddern und betten sich die Akteure in einem faszinierend stabilen Seifenblasenschaum, der in riesigen Flocken vom Bühnenhimmel schneit und wie ein Springbrunnen aus dem Boden sprudelt, bis die wabernde Masse die ganze Spielfläche bedeckt.

Klar, ja fast zu durchsichtig ist, dass dieses Bühnenpanorama ein Abbild einer Konsumgesellschaft sein soll, die ihre Mitglieder mit Sinnenreizen bis zur Empfindungslosigkeit zuschäumt. Darunter gähnen Leere, Langeweile und Katzenjammer. Kaum in der Lustvilla angelangt, stürzt die gelöste Stimmung des Männerquartetts schon ab und muß durch Pornofilme und Prostituierte künstlich stimuliert werden.

Harter Sex auf der Bühne ist zwar mittlerweile inflationär, aber meistens völlig unbefriedigend. Diesmal macht er wenigstens richtig Spaß, weil die Regie das Problem mit viel Humor angeht. Ein muskulöser Mannsbrocken mit wasserstoffblonder Perücke (Frank Büttner) führt die Nuttenbande an und wird sofort von dem Stecher Marc im Kühlschrank traktiert. Während die Huren (Anne Ratte-Polle und Rosalind Baffoe) bald der Ekel packt vor der Gefrässigkeit der Herren der Schöpfung, harrt die Lehrerin Almut (Zilcher) tapfer bis zum Ende bei ihnen aus: eine füllige Urgewalt.

Wie diese Schauspielerin es schafft, den Sex mit jedem der Männer bei vollem Körpereinsatz zu einer grotesken Nummer zu machen und wie die vier nacheinander verrecken - das ist jedesmal ein Hingucker. Ja, sogar die braune Theaterkacke aus dem überfüllten Klobecken, die mit einem sanften Plopp in der Hand explodiert, ist ein herzliches Gelächter wert. Wahrscheinlich liegt das einfach daran, dass der alte Theaterfuchs Dimiter Gotscheff eine untrügliche Witterung für das richtige Timing und die Möglichkeiten seiner tollen Schauspieler besitzt. Wer hätte gedacht, dass Ekeltheater noch so witzig sein kann!


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