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THEATERKRITIK

Berlin Alexanderplatz
nach Alfred Döblin. Berliner Premiere im Palast der Republik am 16. Juni 2005. Regie: Frank Castorf. Mit Max Hopp, Bibiana Beglau, Marc Hosemann u. a.



Spielfläche von Bert Neumann im Palast der Republik



Die Berliner Mitte lebt auch ohne Schloß

von Michael Bienert

Viele Jahre wurde debattiert, was auf dem Berliner Schloßplatz entstehen soll: eine Rekonstruktion des Stadtschlosses, in dem preußische Könige und deutsche Kaiser residierten, oder ein schickes Kongreßzentrum, neue Museen, ein Haus für die Landesbibliothek? Der Bundestag beschloß vor vier Jahren, ein modernes Kulturzentrum mit barocker Schloßfassade zu errichten. Doch wer es bezahlen soll, blieb ungeklärt. Daher werden jetzt auf der zentralen Brache die Weltmeisterschaften im Beachvolleyball ausgetragen. Man hat etliche Lastwagenladungen Sand abgekippt, Tribünen gebaut und Übungsplätze abgesteckt, auf denen muskulöse Sonnenanbeter trainieren. Die Kulisse mit Lustgarten, Dom, Fernsehturm und dem Blick über die Spree zur Prunkallee Unter den Linden ist bizarr und großartig, es fehlt bloß das Meer zum künstlichen Sandstrand: dann wäre die Hauptstadt perfekt.

Plötzlich lebt ihre öde Mitte, und sogar in der vom Spritzasbest gereinigten Ruine des Palastes des Republik neben dem Turnierplatz gehen abends wieder die Lichter an. Vielleicht zum letzten Mal, denn es laufen schon Ausschreibungen für den Totalabriß. Vorgesehen ist eine Grünanlage als Übergangslösung, bis jemand eine Geldquelle für das von Bundestag gewünschte Kulturschloß findet. Könnte man in der Zwischenzeit nicht etwas Gescheiteres mit dem Palast anfangen? Ja, man könnte: Das ist nach den vielen Kulturveranstaltungen klar, die eine Bürgerinitiative seit einem Jahr in der Ruine organisiert.

Momentan dient der mächtige Stahlbetonklotz als Gehäuse für Frank Castorfs Inszenierung von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“. Vor vier Jahren hatte sie bereits Premiere in Zürich. Aber hier, in Sichtweite des Alexanderplatzes, sind Döblins Roman, der Regisseur und die Ästhetik seiner Adaption eindeutig zu Hause. Dabei haben Castorf und seine Bühnenbildner Bert Neumann das Großstädtische eher spärlich inszeniert. Ein paar Container dienen als Behausung und Kneipe zwischen einem hölzernen Bauzaun. Es gibt keine Massenszenen auf dieser endlos breiten Bühne, nur eine Handvoll Zuhälter, Nutten und Gangster. Eingerahmt von der imposanten Stahlkonstruktion der Palastruine, hinter deren halbblinden Fenstern man die reale Stadt flackern sieht, ist es freilich kein Verlust, dass die Inszenierung sich auf den Haftentlassenen Franz Biberkopf und sein Milieu konzentriert. Döblin selbst hat Berlin einmal mit einem Bienenbau verglichen, der aus zahllosen gleichförmigen Waben bestehe. Castorf zeigt so eine soziale Wabe, in der mit harten Bandagen gekämpft wird: um Geld, Anerkennung, Sex und ein bißchen Liebe.

Franz Biberkopf kämpft um noch mehr, er will ein anständiger Kerl sein, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Max Hopps Biberkopf, von Beruf Transportarbeiter und Zuhälter, ist ein tolles Kraftpaket. Der Überschuß an physischer Energie und sexueller Potenz nützt ihm jedoch wenig. Wenn er nicht dicke tut, sieht man tiefe Verunsicherung, Melancholie und eine hilflose Sehnsucht „nach dem richtigen Nebenmann“. Biberkopf gerät an den alerten Reinhold (Marc Hosemann), blind für dessen kaltherzige Bösartigkeit. Schade, dass Biberkopfs Liebesgeschichte mit Mieze, die Reinhold ermordet, eine bloße Behauptung bleibt. Bibiana Beglaus Mieze ist alles andere als eine Miezekatze, sondern eine höchst geschäftstüchtige Prostituierte. Interessanter, weil komplizierter ist da schon Biberkopfs Verhältnis zu seiner alten Freundin Eva (Iris Minich), die mit dem Gangster Herbert liiert (Alexander Scheer) ist und trotzdem ein Kind von Franz will.

Der Abend hält sich eng an die Romanhandlung. Fünf Stunden dauert der Theatermarathon, bis zum bitteren Ende. Das verlangt von den Schauspielern eine bewundernswerte Kondition, müssen sie doch ständig gegen die Weitläufigkeit des Bühnenbildes und (ohne Mikroports!) gegen die Akustik des Riesenbaus kämpfen. Also ins Publikum schreien, rennen, Stühle zerkloppen, sich in Pfützen wälzen, über den Bauzaun klettern, in einem echten Auto um die Zuschauertribüne kurven. Mit seiner rauen Ästhetik ist dieser Abend eine Kampfansage an die Politiker, die diesen zentralen Ort mit einem Tempel domestizierter Kultur besetzen wollen. Bis es soweit ist, wäre die Palastruine als Haus für allsommerliche Theaterfestspiele allemal brauchbar.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 18.Juni 2005

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