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THEATERKRITIK

Auf der Greifswalder Straße.
Regie: Jürgen Gosch. Uaraufführung am Deutschen Theater am 27. Januar 2006. Mit Bernd Stempel, Ingo Hülsmann, Katharina Lorenz, Simone von Zglinicki, Katrin Klein, Lotte Ohm, Aylin Esener u. a.


Straße ohne Wiederkehr


von Michael Bienert

Wer an der Greifswalder Straße wohnt, ist nicht zu beneiden. Tag und Nacht dröhnt der Durchgangsverkehr vierspurig über die Ausfallstraße. An ihren Rändern kümmern kleine Geschäfte des täglichen Bedarfs. Trotz ihrer Unwirtlichkeit ist die Greifswalder Straße eine begehrte Berliner Wohnadresse, denn sie führt mitten durch den Stadtteil Prenzlauer Berg.

Dort hatte sich schon in DDR-Zeiten eine subkulturelle Szene formiert. Nach der Wiedervereinigung vervielfachte sich die Zahl der Kneipen, die Mietpreise in den Gründerzeithäusern explodierten und der Prenzlauer Berg wurde ein Zuzugsgebiet für Besserverdienende, gut alimentierte Studenten und Nachwuchskünstler aus dem Westen. Hier mietete sich auch der Dramatiker Roland Schimmelpfennig ein, in Stuttgart bekannt durch seine „Arabische Nacht“ am Staatstheater.

Sein neues Stück „Auf der Greifswalder Straße“ spiegelt 24 Stunden im Leben der Allee. In 63 Szenen treten etwa 50 Figuren auf. Damit lässt sich die Kostümbildnerei eines großen Theaters auf Wochen auslasten und für alle unbeschäftigten Ensemblemitglieder findet sich gewiss eine Rolle. Also ein Stück wie maßgeschneidert für das Deutsche Theater in Berlin. Nur die Bühnentechniker durften sich bei der Uraufführung ausruhen: Als Spielfläche dient einzig eine flache Treppe, die den ganzen weißen Rundhorizont ausfüllt. Die Schauspieler sitzen in der ersten Parkettreihe und klettern von dort auf die Bühne. Auch Lichtwechsel gibt es kaum, das Saallicht bleibt an, so wie schon bei früheren Inszenierungen des Regisseurs Jürgen Gosch.

Die Schauspieler müssen selber so etwas wie Straßenatmosphäre erzeugen. Das fängt vielversprechend an: Ein Mann (Bernd Stempel) schlurft im Morgenmantel auf die Bühne und ruft seinen entlaufenen Hund. Sofort hat man eine Großstadtstraße um vier Uhr morgens im Kopf, in der solche Typen Gassi gehen. Doch das Bühnenungeschick lässt nicht lang auf sich warten. Der Schauspieler Ingo Hülsmann klettert splitternackt auf die Bühne. Er kauert sich auf die Treppe , wo drei schwarz gekleidete Frauen seinen Schlaf stören. „Hüte Dich vor der Giraffe“ raunt die erste. Die zweite warnt ihn, er habe nur noch 24 Stunden zu leben. Die dritte macht die Anspielung auf die drei Nornen komplett. Aber muss man den Albtraum der Hauptfigur, des Gemüsehändlers Rudolf, dermaßen fantasietötend auf die Bühne bringen?

Mit der bedrohliche Giraffe ist ein langbeiniges, hypernervöses Girlie (Katharina Lorenz) gemeint, das in Rudolfs Laden aushilft. Die beiden mögen sich nicht, plötzlich aber fällt Rudolf vor ihr auf die Knie. Total unmotiviert trifft ihn der Blitz der Leidenschaft. Dann verschwindet Rudolf weitgehend aus dem Stück. Spät in der Nacht sucht ihn die Giraffe in seinem Laden auf. Sie zieht Rudolf nackt aus, fordert die Zurücknahme seiner Liebeserklärung und knallt ihn mit einer zufällig gefundenen Pistole ab. Warum? Der einzige nachvollziehbare Grund ist die Konstruktion des Stücks, das nach 24 Stunden erzählter Zeit ein schnelles Ende finden muss.

Lose sind an diesen dünnen Handlungsfaden andere Geschichten angeknüpft. Eine Freundin des Giraffenmädchens wird von einem Hund gebissen, reibt sich den juckenden Körper wund und wird selber zum Wolf (Lotte Ohm). Ein Mann singt plötzlich in einer Sprache, die er nie gelernt hat (hinreißend komisch: Bernd Stempel). Eine Angestellte begreift entsetzt, dass sie nur noch als Tote unter den Lebenden wandelt (Aylin Esener). Penner, Putzfrauen, Bauarbeiter, Körperbehinderte, Liebespaare und eine Kriminellenbande bevölkern die Bühne. Man sieht etliche schauspielerische Kabinettstückchen, aber in dieser kühlen, knappen Inszenierung entsteht kein Mehrwert aus dem Nebeneinander realistischer und surrealer Motive. Alles wirkt nur für Theaterzwecke zusammenmontiert. Da ist es allemal interessanter, sich zwei Stunden dem kunstlosen Schauspiel der echten Greifswalder Straße auszusetzen. Die ist täglich 24 Stunden geöffnet und der Eintritt ist frei.


Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 3. Februar 2006

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