www.text-der-stadt.de
Die Homepage von
Michael Bienert


THEATERKRITIK

Die Antigone des Sophokles
von Bertolt Brecht. Regie: George Tabori. Premiere am Berliner Ensemble am 25. August 2006. Mit Christina Drechsler, Judith Stößenreuter, Gerd Kunath, Martin Seifert, Ursula Höpfner u. a.


Brecht über die Schulter geschaut


von Michael Bienert

Was kann, was soll ein Theater zum 50. Todestag Brechts spielen? Das Gedenkjahr war vielfach ein schöner Vorwand, mal wieder die Dreigroschenoper auf den Spielplan zu setzen, allemal ein Kassenknüller, selbst wenn (wie am 14. August berichtet) das künstlerische Resultat so dürftig ist wie bei Klaus Maria Brandauers Inszenierung mit Starbesetzung im wiedereröffneten Berliner Admiralspalast. Ein paar Schritte weiter feiert das Berliner Ensemble seinen Hausheiligen mit einem großen, bunten Brecht-Fest: ein bunter Reigen aus Lesungen, Filmvorführungen, hauseigenen Brechtinszenierungen und Gastspielen, Konzerten von gestandenen und jungen Brechtinterpreten wie Gisela May oder Max Raabe. Um den Theatervorplatz flattern Gazevorhänge mit Brechtgedichten und Brechtfotos, jeden Abend schallt die krächzende Stimme des toten Meisters über den Platz. Dann setzt sich das haushohe Brecht-Monument des Bühnenbildners Karl-Ernst Hermann in Bewegung, eine Jahrmarktsfigur aus Sperrholz mit beweglichen Gliedern, die kräftig qualmt und mit bunten Birnchen flackert.

Leicht zu übersehen inmitten des Brecht-Rummels ereignete sich am Wochenende eine eher stille, doch umso gelungenere Premiere. Auf der Probebühne des Berliner Ensembles inszenierte George Tabori „Die Antigone des Sophokles“ von Brecht. Das Stück gilt nicht als Hauptwerk: Brecht hat seine Fassung des antiken Dramas 1948 in Chur erarbeitet, weil er nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil Theaterpraxis sammeln wollte und ein passende Rolle für seine Frau Helene Weigel suchte. Er benutzte Hölderlins sperrige Übertragung des Sophokles, um seine Idee von einem „epischen“, den Zuschauer in reflektierender Distanz haltenden Theater zu realisieren. Die Arbeit an der „Antigone“ war ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Inszenierung der „Mutter Courage“ im folgenden Jahr, die den Dichter schlagartig auch als Regisseur und Theaterpraktiker zu Weltruhm brachte.

Brecht löste die Geschichte von Antigone aus dem mythologischen Kontext der Ödipussage, die ihren Untergang als schicksalhafte Verstrickung in eine Familienschuld erscheinen ließ. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg machte er daraus ein Lehrstück über Mechanismen der Macht und den Widerstand dagegen. Da der Mythos und die Dichtung des Sophokles überall durchscheinen, kann man beim Lesen und Betrachten der Brechtfassung dem Theatermann gleichsam über die Schulter schauen. Man sieht sehr genau, wie er Akzente setzt, indem er weglässt oder hinzufügt, wie er Handlungen und Antriebe der Figuren verändert.

Der Regisseur George Tabori ist Brecht im amerikanischen Exil begegnet, er hat ihn übersetzt und verdankt der Beschäftigung mit Brecht ganz wesentlich seine Hinwendung zu Theater. Seine Inszenierung lebt ganz aus einem tiefen Verständnis der Sinnhaftigkeit von Brechts Theatermitteln. Sie kommt so bescheiden daher, als wohnten wir einer Schüleraufführung bei oder dem Treiben eines Wandertheaters in einer Ruinenstadt. Nichts lenkt von der Geschichte ab, die erzählt wird, aber alles erfüllt seine Funktion. Die karge Probebühne wird von zwei kreuzweisen Laufstegen durchschnitten (von Paul Lerchenbaumer), ein Sessel symbolisiert den Thron des Tyrannen, ein schwarzer Sarg das Gefängnis der Antigone. Im Hintergrund sitzen drei Bläser und spielen zwischen den Szenen meist heitere Melodien: Es herrscht Siegesstimmung in der Stadt Theben. Die Tragödie ereignet sich im Hellen, nie wird es dämmrig oder dunkel auf der Bühne.

Ebenso schlicht charakterisieren die Kostüme (von Margit Koppendorfer) die Figuren: der Chor der alten Thebaner besteht aus zwei komischen Jammergestalten (Martin Seifert und Ursula Höpfner) in weißen Lumpen, der Seher Tiresias (Traugott Buhre) trägt einen staubigen Trenchcoat, Sandalen und Sonnenbrille. Um die Stirn des Tyrannen Kreon windet sich ein schwarzer Lorbeerkranz, mit seinem zu großen roten Umhang vollführt er unbeholfen flatternde Bewegungen: Man erkennt sofort, dass der Mächtige von seiner Aufgabe, die Polis Theben zu schützen, überfordert ist.

Gerd Kunath gelingt es, in der Tyrannenrolle ganz menschlich zu erscheinen, ohne zu menscheln, den Herrscher nicht zu dämonisieren oder sonst in ein Rollenklischee zu verfallen. Dieser Kreon ist vor allem ein gealterter, überforderter Politiker, der einen Angriffskrieg führt und einen hohen Preis bezahlt, denn am Ende sind alle seine drei Söhne tot. Nicht klüger sind die alten Honoratioren Thebens, die ihn stützen. Als der Untergang naht, entbrennt ein Streit, wer denn nun wen zum Krieg gedrängt habe, der Herrscher sein Volk oder umgekehrt. Zuletzt müssen alle dafür bluten.

Die Parallelisierung Kreons mit Hitler und der Thebaner mit den Deutschen im Dritten Reich hat Brecht während der Arbeit am Stück zurückgenommen, sie bleibt auch bei Tabori im Hintergrund. Wenn es denn eine Botschaft des inzwischen 92jährigen Regisseurs gibt, dann lautet sie: Alter schützt vor Torheit nicht! Nehmt Euch bloß in acht vor den Autoritäten! Es ist nicht überlegene Klugheit, es sind ungestüme Jugend und der Mut der Verzweiflung, die Antigone treiben, sich die Anordnungen des Staatslenkers Kreon zu mißachten. Christina Drechsler spielt die Figur mit einem fast kindlichen Trotz. Sehr schön charakterisiert ein Regieeinfall ihre Lebenslust: Von dem italienischen Liebeslied eines jungen Mannes angelockt, gerät sie in die Falle ihres Häschers, der sie Kreon gefesselt vorführt.

Großartig auch, wie sie in einem Wechselbad von stolzer Freude und Ekelgefühlen in ihren Sarg steigt. Einen ähnlich starken Abgang zelebriert Antigones Schwester Ismene (Judith Stößenreuter) in der letzten Szene. Kreons Sohn Hämon (Alexander Doering) schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Ein autoritäres Regime vernichtet die Jugend - läuft das nicht immer so, wenn irgendwo Krieg geführt wird? Hier wird das Lehrstück brisant. Während der Probenzeit brach der jüngste Libanonkrieg aus, nur einer von vielen Kriegen der Gegenwart. Sind es nicht wieder vor allem die Jungen (und die Familien) gewesen, die von den Ideologen auf beiden Seiten verheizt wurden?

Solche Gedanken begleiten einen beim Verlassen des Theaters. Vergessen sind das lärmende Business, die bemühten Gedenkveranstaltungen und gequälten Aktualisierungsbemühungen um Brecht. Aber plötzlich ist er ganz nah.

Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 4. September 2006


zurück zur Startseite
zurück zur Rubrik THEATERKRITIK
zum
Spielplan des BERLINER ENSEMBLES