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ARCHIV 2008 I VENEDIG LITERARISCH

"Das schöne Gegengewicht der Welt"

Von Elke Linda Buchholz

Längst droht Venedig in den tausendfach sich überlagernden Mythen und Beschreibungen zu versinken, die Dichter und Reisende seit Jahrhunderten produzieren. Hinter nebeligen Gemeinplätzen taucht die Stadt ins Irreale ab. Lässt sie sich überhaupt noch in der Wirklichkeit auffinden? Vielleicht sollte man es lieber bei einer Reise im Sessel bewenden lassen. Der Lesestoff würde einem für Wochen, Monate, Jahre nicht ausgehen.

Aber: Es gibt sie wirklich. Und sie ist nicht blasser, nicht schwächer als alles, was die Literatur im Kopf des Lesers an Bildern und Träumen heraufbeschworen hat. Den Ankommenden vermag sie noch immer in staunendes Entzücken zu versetzen, wenn er die giftigen Dämpfe des Industriemolochs Marghera auf dem Festland hinter sich lässt. Venedig ist eine Stadt (fast) ohne Neubauten, ohne Autos, ohne Kaufhäuser, ohne Neonreklamen. Eine Zeitreise, trotz der längst schon motorisierten „Vaporetti“, der „Dampfer“ auf dem Canal Grande.



Die Hinweisschilder „Per Rialto“ und „Per San Marco“, die an jeder Ecke hängen, klug missachtend, überlässt man sich am besten dem Gewirr der Gässchen und Kanäle. Folgt irgendeiner Calle, Salizada oder Ruga, irgendeinem Ramo oder Rio terrà. San Marco? Vielleicht ein andermal. Schon Rilke warnte vor der „verdrießlichen Hast“, in die gerät, wer den „rechthaberischen Sternchen“ des Baedecker hinterherläuft. Die Sehenswürdigkeiten tauchen in Venedig sowieso wie von selbst aus dem Labyrinth der Gassen auf, berühmte Kirchen, in denen Gemälde von Tizian, Tintoretto oder weniger bekannten Meistern wie der Malerin Giulia Lama warten. Trotz ihrer unzähligen Gassen ist die Lagunenstadt erstaunlich klein und lässt sich ohne weiteres zu Fuß durchmessen.

„Wirf doch den Stadtplan weg! Warum willst du unbedingt wissen, wo du dich im Augenblick befindest?... Lass dich in die Irre führen.“ rät Tiziano Scarpa in seinem wunderbaren Buch „Venedig ist ein Fisch“. Was der Titel meint, erhellt ein Blick auf den Grundriss der Stadt.  Die Schwanzspitze Venedigs bilden die Giardini, wo alle zwei Jahre die Kunstbiennale stattfindet. Der Kopf des Fisches liegt im Westen, beim Bahnhof, den die Züge mit dem Festland verbinden. Scarpas Sinnesreise durch die Gerüche, Geräusche und Erfahrungsräume der Stadt gipfelt in der Warnung: „Schütze dich! Venedig kann tödlich sein.“ Gemeint ist nicht die Gefahr, in einen der Kanäle zu gleiten oder einem (womöglich fiktiven) Mord zum Opfer zu fallen. Nein, Venedigs tödliches Potential liegt in seiner für den Menschen unerträglichen Schönheit. Selbst wer die tödliche Überdosis vermeidet, kann schon nach einmaligem Genuss süchtig werden...

Als gebürtiger Venezianer ist Tiziano Scarpa eine Ausnahme im Chor der Autoren, die über Venedig und die Venedig-Literatur schreiben. Eine der erfolgreichsten, wenn auch sicher nicht die brillanteste Stimme in diesem Chor der Zugereisten und Durchreisenden ist die Amerikanerin Donna Leon, die seit vielen Jahren in Venedig lebt, ohne dass auch nur einer ihrer in Deutschland so beliebten Commissario-Brunetti-Krimis ins Italienische übersetzt worden wäre. Kein Wunder: Was man aus ihnen über Venedig erfährt, weiß der Einheimische sowieso schon.

Auch Dorette Deutsch blickt als Zugereiste auf die Stadt: Ihre „Gebrauchsanweisung für Venedig“ verpackt sie in Reportageform, plaudert mit Trattoriabesitzern, Transportbootfahrern und Stadtplanungsdezernenten. Wer tiefer in Geschichte und Gegenwart Venedigs eintauchen will, sollte Judith Rübers Streifzügen durch die Literatur der Stadt folgen. Ihr Klett-Cott-Band „Venedig“ ist weit mehr als ein Literaturführer, erzählt leichtfüßig - und meidet ausgetretene Pfade. Gnadenlos unidyllisch blickt sie mit Egon Erwin Kisch von oben auf die Lagunenstadt. Er bretterte mit einem Doppeldecker als Berichterstatter der k.u.k. Monarchie im Ersten Weltkrieg darüber hinweg und richtete sein Kameraauge auf die Torpedoboote im Arsenale, dem riesigen Militärhafen der Stadt. Das emsige Getriebe in diesen traditionsreichen Schiffsbauwerkstätten faszinierte schon Dante Alighieri, der es im vorletzten Höllenkreis seiner „Divina Commedia“ schilderte. Zeitzeugen wie Giorgio Vasari und Goethe nahmen die bedrohlichen Strömungsverhältnisse der Lagune in den Blick, die bis heute die Stadtplaner in Atem halten. Mit Patricia Highsmiths Klassiker „Venedig kann sehr kalt sein“ setzt Judith Rüber zur vorgelagerten Insel Giudecca über, einst proletarischer Hinterhof Venedigs. Heute ankern vor dem riesigen Backsteinkomplex Mulino Stucky die Luxusboote: die einst größte Nudelfabrik Italiens von 1897 beherbergt nach jahrzehntelangem Leerstand ein Nobelhotel. Sogar der Kinderliteratur mit Schauplatz Venedig widmet Judith Rüber ein Kapitel. Nebenbei erfährt man allerlei übers Gondelwesen, die Entstehung der Oper und den Mangel an Privatsphäre in den engbebauten Sestieri, den „Sechsteln“ Venedigs. Nur das ganze literarische Geraune von Tod und Melancholie, von Versinken und Todessehnsucht passt ihr nicht. War Venedig nicht zu Casanovas Zeiten noch der Inbegriff für Luxus, festliche Vergnügungen und Sinneslust? So eignet sich ihre Buch mehr zur Einstimmung, nicht als Führer vor Ort, auch mangels Karten und Rundgangsvorschlägen. Was Judith Rüber nicht interessiert: wo welcher Dichter nächtigte, schrieb oder starb. 

An die Spuren von Thomas Mann heftet sich Reinhard Papst in seiner Textbildcollage „Thomas Mann in Venedig“. Der Dichter aus Lübeck landete per Dampfboot an der Piazzetta vor dem Dogenpalast an, direkt in medias res. Am Bahnhof anzukommen, kam ihm vor, wie einen Palast durch die Hintertür betreten. Alte Fotos, ja sogar Grundrisspläne vom noblen Grand Hotel Des Bains auf dem Lido, wo Thomas Mann und auch sein Held Gustav Aschenbach logierten, hat Reinhard Papst aufgetrieben. Man erfährt, dass eine Vaporettofahrt  zum Lido um 1900 15 Centesimi kostete und bei welcher Firma Thomas und Katia Mann ihre Reisekoffer kauften. Wir sehen Karl Kraus im Badekostüm und erfahren, wo Friedrich Nietzsche 1885 logerte und wo Sigmund Freud. Wer weiß schon, dass 1913 bereits 800 000 Übernachtungen in Venedig registriert wurden? Der Insel-Taschenband ist kein Lese-Buch, sondern ein faktenverliebter Zettelkasten in Buchform, gespickt mit Kürzest-Zitaten. Die zum Teil witzigen Trouvaillen erlauben einen an der Realität geschärften Blick auf den als Schullektüre verbratenen Klassiker „Tod in Venedig“.

Rainer Maria Rilke besorgte sich den „Tod in Venedig“ gleich nach dessen Erscheinen 1912 - und war vom ersten Teil hingerissen, vom zweitem peinlich berührt. Rilke selbst reiste insgesamt zehnmal nach Venedig und blieb oft wochenlang. Was er hier so trieb und dichtete, hat die Literaturwissenschaftlerin Birgit Haustedt, die über das Motiv der Verführung promovierte, in einem sehr les- und brauchbaren Büchlein zusammengetragen, mit übersichtlichen Karten, ein paar appetitanregenden Fotos und nicht ohne die manchmal nötige ironische Distanz zu ihrem Protagonisten. Für einen leidenschaftlichen Spaziergänger und aufmerksamen Kunstliebhaber wie Rilke war Venedig ein idealer Aufenhaltsort: „das schöne Gegengewicht der Welt“. Sogar die zeitgenössische Kunstbiennale, die es schon damals gab, hat er besucht. Auf seinen Spuren Museen und Kirchen zu erkunden, ist keine schlechte Idee. Denn sein Blick war, trotz des elegisch-verträumten Tonfalls seiner Texte, erstaunlich präzise. Liebe auf den ersten Blick war sein Verhältnis zu Venedig nicht: „im ersten Moment hatte es etwas von der Trostlosigkeit eines ungeheizten Zimmers“.

 


Der Historiker Reinhard Lebe dagegen schildert, wie er vergeblich versuchte, sich eine gewisse professionelle Nüchternheit zu bewahren: “Man darf nicht zu oft bei nacht vor dem Café Florian auf dem grandiosen Markusplatz sitzen, wenn man über Venedigs Geschichte schreibt.“ In seinem oft nachgedruckten Buch „Als Markus nach Venedig kam“ erzählt er, welche entscheidende Rolle die Gebeine des Evangelisten Markus für den Aufstieg Venedigs zur Handelsgroßmacht  spielten - und dass, obwohl die Echtheit der von venezianischen Seeleuten aus Alexandria geraubten Reliquie mehr als zweifelhaft war. Seit der Renaissance erschöpfte sich die Reliquien- und Patronatsgläubigkeit. Neue Mythen traten an ihren Platz. Vielleicht sind sie es, die Venedig am Leben halten, nachdem es seine politische Vormachtstellung verspielt hat. Dem letzten großen Glanz der Stadtrepublik im 18. Jahrhundert widmet sich Ekkehard Eickhoffs neues Buch „Venedig. Spätes Feuerwerk“. Der 1927 geborene Historiker, der als deutscher Botschafter in Südafrika, Irland und der Türkei tätig war, brennt hier ein manchmal allzu wortreiches Feuerwerk ab, ausufernd, oft sprunghaft, figurenreich, aber nicht wirklich lebendig: mehr ein Dickickt von historischen Momenten als ein Geschichtsbuch, das einen in den Bann schlägt.   

„Das andere Venedig“ zu schildern verspricht der kroatische Autor Predrag Matvejevic, Vizepräsident des PEN-Clubs und an der Pariser Sorbonne habilitierter Literaturwissenschafter, der in Rom lehrt: „Die Menschen aus dem westlichen Europa begegnen in Venedig dem Osten. Für die Bewohner des Balkans und des Nahen Ostens ist Venedig Europa und der Westen.“ Ihn interessieren die kleinen Dinge: die Farben des Rostes auf den Gittertoren, das Holz der in die Lagune gerammten Pfähle. Er sammelt Kräuter in  Mauerritzen, betrachtet zerbrökelnde Reliefs und Skulpturen, forscht verborgenen Ethymologien nach. Und er zitiert Rilke: „Eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das mitten im Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene Venedig.“ Über Venedig etwas Neues erzählen? Wie sollte das möglich sein.

Zuerst erschienen in: literaturblatt für baden-württemberg, H. 1/2008


© für den Text und alle Fotos: Elke Linda Buchholz


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E. T. A. HOFFMANNS
BERLIN

von Michael Bienert
176 Seiten, ca. 200 Abb.

Verlag für Berlin und
Brandenburg

Berlin 2015, 24,99€

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