www.text-der-stadt.de
Die Homepage von
Michael Bienert


THEATERKRITIK

Der Würgeengel
von Karst Woustra. Premiere an der Schaubühne am 1. November 2003. Regie: Thomas Ostermeier. Mit Wolf Aniol, Anne Tismer, Jule Böwe, Kay Bartholomäus Schulze u. v. a.


Soziologie der Goldfische


von Michael Bienert

Goldfische sind geduldig. Unerschütterlich drehen sie ihre Runden, solange sie genug Sauerstoff und Fressen haben. Es stört sie wenig, wenn menschliche Aufgeregtheiten den Wasserspiegel kräuseln oder wenn jemand seine Füße im Goldfischreich kühlt. Auf der Bühne besitzen Fische die stille Präsenz ganz großer Schauspieler: Sie sind einfach da, ohne etwas Besonderes zu tun, und doch verleihen sie einer Szene augenblicklich eine eigentümliche Stimmung und einen tieferen Sinn.

Seit einem Jahr sind fette Goldfische die stillen Stars der Berliner Schaubühne. In Ibsens Stück "Nora", das der Regisseur Thomas Ostermeier in die Gegenwart verpflanzte, verkörperten die Fische den Luxus der Neureichen, spiegelten die Gefangenheit Noras in hrem Zuhause und setzten einen ruhigen Kontrapunkt zu Anne Tismers exzentrischem Spiel. Für die jüngste Schaubühnenpremiere sind die Goldfische aus dem Kastenaquarium in ein halbrundes Bassin umgezogen, das wiederum Jan Pappelbaum entworfen hat. Es ist Mittelpunkt eines Salons mit Sesseln und Tischchen, großen Polstern zum Fläzen, Wandschränken, Chinavase und schwarzem Flügel. In seiner Potsdamer Villa gibt ein FDP-Politiker nach einer Berliner Festwochenpremiere einen Empfang.

Wie die Goldfische im Bassin, so sind die Besucher für einige Tage und Nächte in dem Luxusambiente eingeschlossen. Warum, das bleibt so rätselhaft wie in der Vorlage des Theaterstücks von Karst Woudstra, dem 1962 in Mexiko gedrehten Film "Der Würgeengel" von Luis Bunuel. Ein riesiger schwarzer Engel zeigt sich kurz in der Eingangstür, ehe sich deren Flügel schließen, und ein paarmal zerlegt Stroboskoplicht das Bühnengeschehen in Einzelbilder, so als ruckele ein Filmstreifen an einer schlechten Klebestelle. Ansonsten versuchen Ostermeier und sein Ensemble, sich von der Filmvorlage und den Verfremdungstricks des Surrealisten Bunuel frei zu machen. Der Plot interessiert sie, getreu der dramaturgischen Generallinie der Schaubühne, vor allem als soziologische Versuchsanordnung.

Sechzehn Personen suchen einen Ausgang: Das könnte eine spannende Gruppendynamik freisetzen, das könnte extrem grotesk werden oder richtig mörderisch, doch an der Schaubühne reicht es nur zu gehobenem Boulevard. Jeder Schauspieler stellt lupenrein einen soziologischen Typus aus: den Politiker mit Krawatte und Doppelmoral (Wolf Aniol), den tuntigen Schauspieler (Markus Gertken), die russische Edelnutte (Linda Olsansky), die verschnupfte Opernsängerin im roten Abendkleid (Stephanie Eidt), den verschlampten Studenten (Lars Eidinger) und so fort. Sie alle haben eine sexuelle Obsession oder Verklemmtheit, die sie im Laufe des Stücks ausplaudern oder ausagieren. Leider bleiben diese Geheimnisse der Figuren ebenso klischeehaft wie ihre Oberfläche. Im O-Ton klingt das dann so: "Seit ich einen Sohn habe, begreife ich, dass es mit dem Ödipuskomplex doch etwas auf sich hat".

In gut zwei Stunden arbeitet die Inszenierung sechzehn Triebschicksale ab, fein säuberlich darauf bedacht, jeder Figur gleichviel Aufmerksamkeit zu schenken. Im Ergebnis bleiben alle etwas blass, was sich besonders an den Ausnahmeschauspielern im Ensemble zeigt. Anne Tismer als unterdrückte Politikergattin mit Verdauungsstörungen ist nur eine graue, nuschelnde Maus. Robert Beyer als herzkranker Dichter liegt rum, bis ihn der Infarkt dahinrafft. Kay Barthomäus Schulze als Offizier gelingt es wenigstens manchmal, die matte Truppe mit seinem messerscharfen Sadismus für Sekunden aufzuscheuchen. Der schauspielerischen Präsenz der Goldfische am nächsten kommt Jenny Schily: Ihre elegante Museumsdirektorin ruht in sich selbst, und das befähigt sie, die sexuellen Avancen des masochistischen Hausherrn souverän zu parieren. Der fällt wie ein Sack in sich zusammen, als sie mit Unschuldsmiene erzählt, die einzigen Männer, die sie noch erregten, seien ihre eigenen, knackigen Söhne.

Begreiflich, dass die Jüngsten der Gesellschaft und im Ensemble (Chrstina Geiße und David Ruland) so nicht alt werden wollen. In einem Wandschrank ziehen sie sich Plastiktüten über die Köpfe - ein schrecklich schönes Bild. Am Schluß verwandelt sich die Schrankwand in eine Urnengrabwand auf einem Friedhof. Falk Rockstroh macht aus dem Ausstreuen der Totenasche in den Fischteich eine bizarre Slapsticknummer. Mehr davon hätte dem schwachen Stück vielleicht aufgeholfen. Die Goldfische aber hat nicht einmal der Theaterascheregen sonderlich aufgeregt.


zurück zur Startseite
zurück zur Rubrik THEATERKRITIK
zum
Spielplan der Schaubühne