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Michael Bienert


THEATERKRITIK

Gezeiten
von Sasha Waltz (Choreographie). Premiere an der Schaubühne am 20. November 2005. Mit Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Maria Marta Colusi, Claudia de Serpa Soares, Laurie Young u. a.


Kunst und Katastrophe

von Michael Bienert

Vor der Tür zum Theatersaal hat die Hilfsorganisation CARE einen Infostand aufgebaut. Broschüren und kleine CARE-Pakete aus Pappe stapeln sich darauf. Eine durchsichtige Plastikkiste enthält Hilfsgüter für Krisen- und Katastrophengebiete.
Solch eine Kiste mit dem CARE-Logo wird in der folgenden Theatervorstellung auf die Bühne geschoben und in Zeitlupe ausgepackt. Konservendosen, Wasserfilter, Kerzen, Batterien gehen in einer langen Menschenkette von Hand zu Hand. „Product placement“ nennt man solch einen Vorgang in der Werbewirtschaft.

Werbeauftritte von Produkten im Rahmen künstlerischer Darbietungen haben mit Kunst nicht viel tun. Meist geht es dabei um viel Geld. An der Berliner Schaubühne erkauft sich die Choreographin Sasha Waltz mit der Frontalwerbung für CARE ein besseres Gewissen. In einem Interview gab sie vor der Premiere ihres neuen Stücks „Gezeiten“ zu Protokoll: „Ich möchte irgendetwas tun, angesichts des Elends. Aber ich bin Künstlerin, ich bin keine Ärztin, ich kann nicht in ein Krisengebiet fahren und den Menschen dort helfen, dafür besitze ich nicht die Fähigkeiten ... Die Inszenierung ist mein Beitrag. Ich will die Not spürbarer machen, sie soll nicht so abstrakt bleiben, wie wir das immer über die Medien erleben.“

In ihrem neuen Stück unternehmen Sasha Waltz und die 16 Tänzerinnen und Tänzer ihrer Compagnie immer neue Anläufe, um diesem Anspruch einzulösen - und scheitern fast auf der ganzen Linie. Mit einer Art Katastrophenschutzübung fängt es an. Schauplatz ist ein schäbiger Raum (von Thomas Schenk) mit abblätterndem Putz und maroden Versorgungsleitungen. Darin ein Eisenbett, ein paar schäbige Tische und Stühle. Zugleich aber ahnt man die geölte Theatermaschinerie der Schaubühne drumherum, und so wirkt die vorgeführte Armseligkeit perfekt gestylt. Lieber sähe man sie in einer maroden Fabrikhalle, in der einem dieser Tanzabend womöglich unter die Haut ginge.

Die Tänzer tragen Alltagskleider, sie wiegen sich wie Getreidehalme im Wind, ehe die Gruppe in Panik gerät. Im wilden Durcheinander gibt es erste Verletzte. Die Menschen richten sich notdürftig in dem Raum ein, schließen die Türen. Denn von draußen droht eine diffuse Gefahr. Wer von dort kommt, ist stumm, traumatisiert oder hat sich mit einer Seuche infiziert.

Eine geschäftige Ärztin hantiert sehr professionell mit Plastikhandschuhen und Desinfektionsmitteln. Gemeinsam baut die Zufallsgemeinschaft eine provisorische Wasserleitung. Aber die Solidarität hat Grenzen: Die Mehrheit der Gruppe reagiert wütend, als eine traumatisierte Frau mit ihrem Geheul ständig eine improvisierte Musikdarbietung stört. Schließlich dringt Qualm von allen Seiten in den Saal, auch eine Wand fängt Feuer und wird mit Schaum gelöscht. Alle diese Szenen scheinen sorgfältig nach Augenzeugenberichten gestaltet. Das Ergebnis: ein getanzter Lehrfilm, weder authentisch noch besonders originell.

Dann wird das Publikum in eine Lüftungspause entlassen. Überraschenderweise findet es den Tanzsaal hinterher besenrein vor. Ein Cellist am Bühnenrand (James Bush) spielt Suiten von Bach, dazu bilden die Tänzer anmutige Tableaus. Sie kommen und gehen durch die weit geöffneten Türen, werden von ihren Partnern gehoben und getragen. Ihre Körper vertrauen einander und scheinen dadurch schwerelos. Der Druck, eine fremde, ferne, bedrohliche Realität darzustellen, lastet nicht länger auf den Tänzern. Die gemeinschaftliche Freiheit und Schönheit ihrer Bewegungen ist eine Wohltat.

Dieser utopische Zustand dauert nicht lange. Die Möbel kehren allmählich auf die Bühne zurück. Mit Ziegelsteinen und Holzlatten wird eine neue Welt gebaut. Es gibt Streitereien um Habseligkeiten. Ist alles nur der Alpraum einer Frau, die hinten an einer Wand in ihrem weißem Bett schläft? Jemand nagelt Schuhe an eine Wand, in die eine Tänzerin schlüpft. Eine Frau stopft ihre Kleider unförmig mit Holzbrettern aus. Jetzt sind wir in einem surrealen Bildertheater, überbordend von Ideen, hinter denen sich aber kaum noch eine dramaturgische Linie aufspüren läßt.

Wahrscheinlich soll alles doch mehr als bloß ein Traum sein, vielmehr das absurde Zerrbild einer Zivilisation, die sich selbst zerstört. Noch einmal verwandelt sich die Bühne in ein Trümmerfeld. Die Tänzer stemmen sich von unten gegen das Tanzparkett, bringen es zum Beben, bis es krachend aufplatzt. Eingewickelte Leichname werden in den Erdspalten beigesetzt. Als Mutanten erwachen sie im Schlußbild zum Leben: Unheimliche Riesenwürmer vollführen ungelenke Bewegungen in einer dämmrigen apokalyptischen Landschaft.


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 21. November 2005.

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