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THEATERKRITIK

Faust. Der Tragödie zweiter Teil
von Johann Wolfgang Goethe. Premiere am Deutschen Theater am 7. Oktober 2005. Regie: Michael Thalheimer. Mit Sven Lehmann, Ingo Hülsmann, Peter Pagel, Horst Lebinsky, Nina Hoss u. a.


Faust in der Finsternis

von Michael Bienert

Dreitausend Jahre Menschheitsgeschichte hat Goethe in seiner "Faust"-Dichtung verarbeitet, vom Raub der Helena bis zu den technischen und sozialistischen Utopien des 19. Jahrhunderts. Vor allem der zweite Teil der Tragödie ist hochaktuell geblieben: Da wird mit dubiosen Tricks ein maroder Staatshaushalt saniert und im Reagenzglas ein künstlicher Mensch erzeugt. Am Ende versucht Faust als größenwahnsinniger Ingenieur die Naturgewalt des Meeres zu zähmen. Das Stück spielt in der Unterwelt und im Himmel, in Vergangenheit und Zukunft, bietet Stoff und Poesie genug für ein vielstündiges Spektakel, das jede Bühne zwingt, an die Grenzen des Machbaren zu gehen.

Diese Fülle schrumpft in Michael Thalheimers Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin zu einem kargen Handlungsgerippe. Das war bei diesem Regisseur zu erwarten. Als er vor einem Jahr den ersten Teil des „Faust“ inszenierte, war man allerdings überrascht, wie viel Goethe-Text den Schauspielern zum Sprechen blieb und welch breiten Raum Fausts Liebesaffäre mit Gretchen einnahm. Es schien nicht ausgeschlossen, dass die Inszenierung mit dem zweiten Teil der Tragödie eine Weg aus der Enge ins Weite finden würde. So hat Goethe beide Teile angelegt. Doch Thalheimer hat diese Herausforderung nicht angenommen, ist lieber den vertrauten Weg des Minimalismus und Reduktionismus weiter gegangen - mit dem Ergebnis einer zwar in sich stringenten, aber aschfahlen Aufführung.

Vor das Publikum hat der Bühnenbildner Olaf Altmann eine schwarze Wand gestellt. Auf halber Höhe dient ein rechteckiger Ausschnitt als beengte Aufstellfläche für die Schauspieler. Dort drängt sich der Kaiserhof, eine regungslose Ansammlung grauer Bürokraten, dort werden später Helena und Faust ein Liebespaar. Es sind statische, fahle Bilder wie aus einer Laterna magica. Dahinter steckt die Grundidee, dass das Stück eigentlich im Kopf eines größenwahnsinnigen, herrschsüchtigen Faust stattfindet. An diesem Konzept hält die Regie beharrlich fest. Sie billigt der Hauptfigur keine Entwicklung, nur wenige Ausdrucksnuancen zu, mit der fatalen Folge, dass Ingo Hülsmanns Faust während des Schnelldurchlaufs durch das Stück immer blasser wirkt.

„So klein du bist, so groß bist du Phantast“, sagt Mephisto zu dem Famulus Wagner (Peter Pagel), der unten auf der leeren Vorbühne ein Glas Wasser schüttelt und sich lediglich einbildet, er zeuge darin einen Homunculus. Der Satz gilt genauso für Faust und für den Kaiser, eine hinreißend lächerliche Spießerfigur (Horst Lebinsky). Was die eitlen, aufgeblasenen Männer anrichten, zeigt eindrucksvoll die schöne Helena von Nina Hoss. Die Vielbegehrte ist eine verbrauchte Hure im kurzen schwarzen Rock, müde und gebeugt, ausgebrannt von ihrem Schicksal, mächtigen Männern als Idol und Besitz zu dienen.

Thalheimer stellt seine Schauspieler konsequent ins Schwarze und Leere, nicht um die Räume zu füllen, sondern mit dem Auftrag, die korrespondierende Hohlheit im Inneren der Figuren sichtbar zu machen. Nach dem dritten Akt löst sich die schwarze Wand vor dem Bühnenhaus in Einzelteile auf. Man blickt nun auf den kahlweißen Rundhorizont, eine kalte Landschaft. Vorn am Bühnenrand erzählt die greise Inge Keller die Geschichte von Philemon und Baucis, der Opfer von Fausts Plan, die Erdoberfläche nach seinem Willen umzugestalten. Es ist ein kurzer, großer Auftritt, der auch ein Manko dieser Inszenierung fühlbar macht: Die alte Schauspielerin verfügt über Feinheit der Diktion, wie sie selbst den besten jüngeren Kollegen heute fehlt.

Blind träumt Faust, die Entstehung einer neuen Welt zu kommandieren, während Geister in Wahrheit sein unsichtbares Grab schaufeln. Als er zu Tode erschöpft an Mephistos Schulter hinsinkt, lächelt dieser nur. Endlich hat der arme Teufel im grünen Pulli (Sven Lehmann) seine Ruhe. Es gibt keine Engel, die ihm den Besitz von Faust Seele streitig machen könnten. Wahrscheinlich gibt es nicht einmal eine Seele, sondern nur die Einbildung davon, die erlischt, wenn keiner mehr da ist, um daran zu glauben.

Thalheimer inszeniert in zweimal zwei Stunden eine konsequent nihilistische Lesart von „Faust I & II“. Der Geist, der stets verneint, hat in dieser Aufführung das letzte Wort. „Es ist so gut, als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere“ sagt Mephisto, ehe alles in schwärzester Nacht versinkt.


Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 10. Oktober 2005

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