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THEATERKRITIK

Dialoge 06 - Radiale Systeme.
Choreographie von Sasha Waltz, Premiere im Radialsytem V am 14. September 2006. Mit Xuan Shi, Lisa Densem und weiteren Tänzern, Akademie für Alte Musik Berlin, musikFabrik und Vocalconsort Berlin

Stumme Dialoge

von Michael Bienert

Die Sonne spielt mit. Sie wirft ihre letzten Strahlen auf die roten Backsteine des alten Abwasserpumpwerks, auf den hohen Fabrikschlot und die Ufermauer, an der ein weißes Boot vertäut liegt. Alles wird mitspielen in den folgenden zwei Stunden, während es dämmert und das Stadtpanorama in immer neuen Farben erscheint. Noch spiegeln die weichen Wellen der Spree den Himmel wie Quecksilber. Später schluckt die Dunkelheit alle klaren Konturen. Die Lichter der Großstadt leuchten intensiver und flackern nervös auf der Wasseroberfläche.

Einen milderen Septemberabende hätten sich die Betreiber des „Radialsystems V“, des Proben- und Aufführungshauses im Berliner Osten, für ihre erste große Premiere nicht wünschen können. Der Schauplatz ist zugleich Thema des angekündigten Tanztheaterabends der Choreographin Sasha Waltz. Schon der Titel „Dialoge 06 - Radiale Systeme“ bezieht sich auf die Vergangenheit des umgebauten Pumpwerks. Kein normales Stück erwartet das vielköpfige Publikum, das am Spreeufer entspannt auf das Startsignal wartet, sondern eine „begehbare Installation“.

Doch wo soll es überhaupt losgehen? Da ein klares Zeichen ausbleibt, macht sich der Theaterkritiker in dem unvertrauten Gebäudekomplex auf die Suche. Ein Aushang in einem grauen Betontreppenhaus weist auf verschiedene Etagen hin, in denen gleichzeitig etwas passieren soll. Nach einigem Treppensteigen finden sich auf einem Terrassendach zwei auffällige Personen, die regungslos Rücken an Rücken stehen. Eine atonale Klangwolke weht von einem anderen Spielort her und setzt das Paar in Bewegung. Sie gehen zu einer mit weißen Kieseln gedeckten Dachecke. Mit Hilfe eines schräg aufgehängten Riesenspiegels lässt sich über die Köpfe einer wachsenden Zuschauerschar verfolgen, wie der Mann die Frau unter einem Kieselhaufen begräbt.

Das kann aber unmöglich alles sein, was gerade hier abläuft. Wo sind überhaupt all die anderen Besucher geblieben? Zum Glück gibt es zwei Dachluken, durch die man von hier oben in den größten Saal runtergucken kann. Dort erzeugt eine stattliche Zahl von Musikern die hörbare Klangwolke, während Zuschauer in der Saalmitte eine bewegte Menschentraube bilden. Man schaut wie in einen Ameisenhaufen und rätselt: Was ist das geheime Zentrum dieser faszinierenden Publikumschoreographie?

Also bahnt sich der Kritiker einen Weg durch ein anderes Treppenhaus, in dessen Winkeln Tänzer mit enigmatischen Bewegungen beschäftigt sind. Als die große Halle erreicht ist, packen die ersten Musiker schon ihre Instrumente zusammen, aber ein paar Leute stehen noch um ein Loch im Boden herum. Da unten räkelt sich eine Handvoll Tänzer fast nackt in einer roten Blutsuppe. Leichen im Keller! Diese etwas banale Assoziation stellt sich zwanghaft ein. Aber ist das wirklich so gemeint oder liegt es daran, dass man hier immer nur nur einen Zipfel des Geschehens erhascht?

Inzwischen buddelt zwei Etagen höher der Tänzer seine ins Kiesbett verscharrte Kollegin behutsam wieder aus. Noch weiter oben gibt es später ein Deja-vu mit Motiven aus dem Blutkeller. Nackte Körper winden sich in abgegrenzten Feldern auf dem harten Boden. Zu diesem lebenden Bild singen acht Vokalisten sehr schön ein Miserere.

Insgesamt sind 22 Tänzer im Haus unterwegs, 23 Instrumentalisten der „Musikfabrik“ und der „Akademie für Alte Musik“, eine Menge Aufsichtspersonal und einige hundert Zuschauer. Die angekündigten „Dialoge“ finden vor allem zwischen Tänzern und Musikern statt. Manchmal antwortet ein vorbeifahrender Ausflugsdampfer auf das Free-Jazz-Getröte eines Saxophonisten mit fröhlichem Getute. Auch ein Boot mit Tänzern und Musikern legt ab. Doch der Sinn des Ganzen ist unklar, es bleibt der etwas unbefriedigende Eindruck eines aufwändigen Events.

Erstaunlich, wie wenig das neue Haus die Tanzkompanie auf überraschende Ideen bringt. Da zeigt sich plötzlich, wie sehr der Umbau des alten Wasserwerks durch den Architekten Gerhard Spangenberg das historische Gebäude neutralisiert hat. Er hat es entkernt, aufgestockt und Raumvolumina für alle möglichen Proben- und Aufführungsformen geschaffen. Aber das Widerständige, das alte Industriebauten für Künstler so anziehend macht, ist verschwunden. Etwas hilflos stehen vier Tänzerinnen in weißen Kleidchen auf Heizkörpern an einer hohen Saalwand und schmiegen sich an, als suchten sie die verloren gegangene Wärme der historischen Industriekultur.

Zum Finale sammelt sich alles in der größten Halle mit ihren ritterburgartigen Fliesenornamenten und einem Kran unter der Decke. In der Mitte ein riesiges Tanzparkett, drumherum die Zuschauer: Da spürt man, wie wichtig es für das Theatererlebnis ist, dass die Aufmerksamkeit von hunderten Augen auf einen Ort fokussiert wird. Ein Paar, das man oben schon in einem der Studios sehen konnte, windet sich umeinander, weitere Tänzer und Musiker kommen dazu, es bilden sich ständig neue bewegte Gruppen und lösen sich zu Musik aus Purcells Oper „King Arthur“ anmutig auf. Ein schwungvoller Rausschmeißer. Für mehr davon hätte man einen Teil der Gebäudebesichtigung geopfert.


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