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THEATERKRITIK

Blackbird
von David Harrower. Premiere an der Schaubühne am 11. November 2005. Regie: Benedict Andrews. Mit Jule Böwe und Thomas Bading.


Lolitas Wiederkehr

von Michael Bienert

Der Fabrikangestellte Ray ist das Musterbeispiel eines resozialisierten Sexualstraftäters. Er hatte ein Verhältnis mit einer Zwölfjährigen, war deswegen einige Jahre im Knast und in Therapie, aber seitdem hat er nie wieder eine Minderjährige angefaßt. Unter neuem Namen baute sich Ray eine kleinbürgerliche Existenz auf, bekam einen Job und ist verheiratet.

Da steht plötzlich eines abends eine blonde junge Frau vor der Fabrik und will ihn sprechen. Ray lotst sie an den Kollegen vorbei in die Kantine. Der kühle Raum ist zugemüllt mit Plastikgeschirr und Essensresten. Eine unwirtliche Bühne (gebaut von Jörg Pappelbaum) für ein Wiedersehen nach vielen, vielen Jahren.

Was ist damals passiert, als Ray mit seiner zwölfjährigen Freundin Una in ein Hafenstädtchen fuhr, wo beide sich in ein fremdes Land einschiffen wollten? In einer Absteige hat er Una ihre Unschuld genommen, dann war er plötzlich weg. Das herumirrende Mädchen wurde aufgegriffen und zu den Eltern geschickt, Ray stellte sich der Polizei. Seitdem haben sie sich nicht gesehen, nicht sehen dürfen.

Ray versucht die Besucherin wegzuschicken, hält sie angstvoll auf Abstand. Una weiß selbst nicht genau, was sie von ihm will. Es hat sich viel in ihr angestaut: Trennungsschmerz, Haß, Verzweiflung. Der Horror eines Mädchens, auf das seit ihrem Fehltritt immer alle mit dem Finger gezeigt haben. Die Angst, das Opfer eines Päderasten geworden zu sein, der ihre Fotos von damals zehn Jahre später vielleicht ins Internet stellt.

Es ist furios, wie die Schauspielerin Jule Böwe in einer Studioaufführung der Schaubühne das ganze Elend des Opfers in zwei Stunden noch einmal durchleidet. Und ebenso bezwingend, wie ihr Partner Thomas Bading dem Täter Ray, einem lächerlich spießigen Durchschnittsmenschen, die Sympathien des Publikums gewinnt. Beide haben das Glück, dass sie ein angelsächsisches well made play von Feinsten spielen dürfen. Trotz des groben Stoffs führt der Autor David Harrower, Jahrgang 1966, die Figuren ganz sachte und feinfühlig zum verborgenen Skandalon ihrer Geschichte.

Una hatte versucht, Ray während der polizeilichen Ermittlungen möglichst wenig zu belasten. Denn sie hatte sich zwar von ihm verlassen, aber nicht eigentlich mißbraucht gefühlt. Und Ray wollte sich gar nicht aus dem Staub machen, sondern hatte Una nur im entscheidenen Augenblick verfehlt. Für das pubertierende Mädchen war er ihr erster Mann, für Ray war sie die größte Liebe seines Lebens. Was die Gesellschaft als Mißbrauch einer Minderjährigen bestrafte, war vielleicht etwas ganz anderes: eine amour fou, die daran scheiterte, dass die Gesellschaft sie nicht tolerierte.

Das Stück und die feinnervige Inszenierung von Bendict Andrews ziehen nicht gegen die Gesetzesparagraphen gegen Kinderschänder zu Felde. Gezeigt wird eine spannende Geschichte, die komplizierter ist als Paragraphen. Die Bewertung bleibt, zum Glück, Sache der Zuschauer.

Nach der langen Aussprache und einer kindlichen Schlacht mit dem herumliegenden Essensmüll kommen Ray und Una sich noch einmal ganz nah. Sie will Sex mit ihm, doch er weicht zurück. Und dann steht auf einmal ein blondes Mädchen in der Tür, das seinen lieben Freund Ray sucht. War alles Lüge, was er zuvor über die Einzigartigkeit seiner Liebe zu Una erzählte? Wunderbar hält die Inszenierung diesen Schreckensmoment Unas in der Schwebe.

Wahrscheinlich ist das Kind wirklich die Tochter von Rays Frau, die ihn spät in der Nacht suchen gegangen ist. Er reißt sich von Una los und flieht in seine neue Familie. Das ist zweifellos ein Triumph für die Sexualstraftätertherapie. Doch es ist die finale Katastrophe für Una, die zum zweiten Mal ihren Liebhaber verliert - diesmal nicht durch einen dummen Zufall, sondern weil Ray sich dazu entschließt. Bei allem Verständnis für den älteren Mann zeigt das Stück eben auch: Am Ende sind immer die Kinder die Verlierer. Gewonnen hat an diesem Abend nur das Theater.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 14. November 2005


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