www.text-der-stadt.de
Die Homepage von
Michael Bienert


THEATERKRITIK

Faust. Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang Goethe. Premiere am Deutschen Theater am 16. Oktober 2004. Regie: Michael Thalheimer. Mit Regine Zimmermann, Isabel Schosnig, Sven Lehmann, Ingo Hülsmann, Peter Pagel, Horst Lebinsky und Henning Vogt.


Faustisches Ragout

von Michael Bienert

Der Teufel ist ein Realist. Das macht ihn so gefährlich. Er kennt die Kniffe und Tricks, um die irdischen Wünsche nach Geld, Macht, Sex zu erfüllen. Wer sich mit ihm einläßt, muß bloß auf eines verzichten: Die Aussicht auf ein anderes Leben. Ist doch die Hölle nichts als die Fortsetzung des Erdentreibens bis in alle Ewigkeit.

In seiner „Faust“-Dichtung hat Goethe den Teufel in einen göttlichen Weltplan eingebunden. Er ist die Geißel, die eine träge Menschheit zum Handeln und Erkennen treibt. Mephisto stellt sich dem Faust vor als „Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Mit dem Welterfahrenen an der Seite entkommt der Grübler seiner Studierstube und tritt eine Welt- und Zeitreise an. Der Motor des Dramas heißt Dialektik: Faust wird durch die Antithesen Mephistos in Bewegung gesetzt, dann durch die schmerzhaften Widersprüche, in die ihn das personifizierte Realitätsprinzip verwickelt.

Am Deutschen Theater in Berlin scheint der Teufel seinem Opfer jedoch kaum Paroli bieten zu wollen. Sven Lehmann gibt den Anti-Gründgens, einen blassen Jüngling in Jeans und grünem Pulli, der seinen Text schnell und regungslos wegspricht. Alles andere als ein brillianter Rhetoriker, tritt er als fast stummer, unheimlich ausdrucksloser Tatmensch auf.

Lehmann gelingt das irritierende Kunststück, den Teufel wie eine unbedeutende Nebenrolle anzulegen, um dann allmählich durch knappe Gesten, gelegentliches Mundverziehen und spöttische Blicke klarzustellen, wer sich als Herr im Bühnenhause fühlt. Die oberflächliche Uninteressantheit, das Fade und Langweilige dieses Mephisto ist nur Mimikry, eine so noch nie gesehene und deshalb besonders perfide Maskierung des Bösen.

Überraschend ist auch die Besetzung der Faustrolle mit Ingo Hülsmann, eigentlich ein Spezialist für schlaue, hochgewachsene Bösewichter am Deutschen Theater. Der Mephisto, wie wir ihn kannten, steckt in seinem Faust innen drin. Aus der Depression und dem Weltekel des Anfangsmonologs redet er sich alsbald in Rage, geifert seine Allmachtsphantasien wie ein politischer Demagoge von der Rampe ins Publikum. Worte sind für ihn nicht, wie für den Teufel der Aufführung, Schall und Rauch, sondern eine Droge. Sie sind der Hokuspokus, mit dem Faust auf der leeren Vorbühne die Zeit totschlägt, sind Requisiten und Lebensersatz. Wie auf einer Theaterprobe steht Hülsmann im weißen Hemd und beiger Hose hart am Publikum, ein Glas Wasser vor den Fußspitzen, und läßt hören, wie sich das Drama im Kopf der Figur entwickelt.

Ist der biedere Wagner (Peter Pagel), der nachts vom Faustischen Geschrei aufgeschreckt wird und ihn auf seinem imaginierten Osterspaziergang begleitet, ein geduldiger Psychologe und Faust sein rätselhafter Patient? Psychoanalytisch eindeutig ist jedenfalls das Bühnenbild von Olaf Altmann. Zunächst bleibt Faust ausgesperrt von der riesigen Drehbühne, auf der geheimnisvoll ein schwarzer Zylinder rotiert. Er beginnt von innen zu strahlen, als Faust mit Mephisto auf die Reise geht. Ein Dröhnung Hardrock von Deep Purple ersetzt den Spuk im Hexenhaus und in Auerbachs Keller. Als Gretchen erscheint, öffnet sich der Zylinder und gibt den Blick auf ihr Bett frei.

Dieses Gretchen (Regine Zimmermann) ist ein magerer, ziemlich unansehnlicher Backfisch, der Goethes Verse brav herunterleiert wie in der Schule gelernt. Generationen von Interpreten rätselten, was der Doktor Faust eigentlich an dem Mädel findet. Das tut auch der Zuschauer. Was entfesselt Fausts sexuelle Begierde? Der Regisseur Michael Thalheimer gibt eine philosophische und eindeutige Antwort, indem er die Gretchenfrage siebenmal wiederholen läßt: „Glaubst Du an Gott?“ Siebenmal windet sich Faust in diversen Tonlagen wortreich um ein Ja oder Nein herum.

In Gretchen und ihrem Liebhaber begegnen sich zwei Welten: Tradition und Moderne, Glaube und Skepsis, das Naive und das Sentimentalische. Der Verschmelzungsversuch im Bett geht für Gretchen übel aus, sie entsteigt ihm zur Straßenhure entstellt, mit beflecktem Kleid und viel verwischter Schminke im Gesicht. Jetzt aber darf Regine Zimmermann auch markerschütternde Töne anschlagen, ein zartes „O neige, Du Schmerzensreiche“ und später im Kerkerbett ein irrsinnig drohendes „Küsse mich! Sonst küß ich dich!“ an den treulosen Liebhaber.

Kein „Ist gerettet!“ schallt von oben. Goethes Erlösungshoffnung fiel mitsamt der Zueignung, dem Vorspiel und Prolog im Himmel dem Rotstift zum Opfer. Wie bei Thalheimer zu erwarten war, bleibt dieser „Faust“ ein Torso. Die eingedampften Szenen bis zum Aufbruch aus Fausts Studierstube haben den Charakter eines Vorspiels angenommen, die Gretchentragödie ist eine Episode. Zum Schluß nach nur zwei Stunden spricht Ingo Hülsmann den Monolog des erwachenden Faust aus dem zweiten Teil, mit dem er sich fit macht für neue Untaten. Denn Goethes Faust, daran läßt das Urteil ausgewiesener Faust-Experten im Programmheft keinen Zweifel, ist nicht zu trauen. Der Mann sei ein unproduktiver Exzentriker, ein freudloser Verderbenbringer und ein moralischer Schweinehund. Mephisto folglich kein Gegenspieler, sondern nur Abspaltung der destruktiven Wesenszüge eines zutiefst modernen Charakters. Den Schauspielern sei Dank, dass Faust trotzdem schillert und Mephisto sein Geheimnis wahrt.

„Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! / Solch ein Ragout, es muß Euch glücken“, heißt es in Goethes Vorspiel. Ganz satt wird man nicht von Thalheimers Ragout. Aber Appetit hat man schon auf die Fortsetzung der Tragödie, die leider erst in einem Jahr über die Bühne gehen soll.


Erstdruck in der STUTTGARTER ZEITUNG vom 18. Oktober 2004

zurück zur Startseite
zurück zur Rubrik THEATERKRITIK
zum
Spielplan des DEUTSCHEN THEATERS