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THEATERKRITIK

Atta, Atta - Die Kunst ist ausgebrochen
.Von Christoph Schlingensief. Premiere an der Volksbühne am 23. Januar 2003. Regie: Christoph Schlingensief. Mit Fabian Hinrichs, Herbert Fritsch, Irm Hermann, Josef Bierbichler u. a.

Melancholie in Aktion

von Michael Bienert

Wenn Christoph Schlingensief hustet, dann geht ein lautes Rauschen durch alle Feuilletons. Das Enfant Terrible des deutschen Theaters hat es geschafft, zur Institution zu werden: Sondergast beim Theatertreffen, Ex-Kolummnist bei der FAZ, Editorialschreiber bei "Theater heute", ein Darling der Medien wie Verona Feldbusch, Dieter Bohlen und sein Intimfeind Jürgen W. Möllemann. Wenn Schlingensief drei nackte Statisten für eine Premiere sucht, dann posaunt das die Deutsche Presse-Agentur bis nach Krähwinkel, und wenn er, wie letzte Woche, die Kritiker herzlich bittet, dem Ereignis fernzubleiben, dann kommen trotzdem alle.

Geschickt trieb Schlingensief die Erwartungen vor seiner jüngsten Volksbühneninszenierung in die Höhe: Im westdeutschen Theaterzentralorgan proklamierte er jüngst die Identität von Theater und Politik, mit dem Stücktitel "Atta, Atta" spielte er auch auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 an, und er verlautbarte, dass illustre Meisterdenker wie Bazon Brock und Peter Sloterdijk während der Proben ein Theorieseminar über "Kunst und Terrorismus" abgehalten hatten.

Doch auf dem Gipfel seiner Anerkennung als schillerndes Mediengesamtkunstwerk scheint Schlingensief in eine Art melancholischer Midlife-Crisis geraten zu sein. "Atta, Atta. Die Kunst ist ausgebrochen" mangelt die satirische Treffsicherheit, die seinen letzten Volksbühneninszenierungen "Berliner Republik" und "Rosebud" wenigstens kabarettistischen Unterhaltungswert verlieh. Statt dessen durchleiden wir die Nabelschau eines alternden Avantgardekünstlers.

Zwischen schrulligen Kunstamateuren einer "Kurzfilmgruppe Oberhausen" sitzt er zu Beginn auf einem alten Sofa und zeichnet ein Bewerbungsvideo für das Filmfestival auf. Dann bezieht er als junger Wilder sein Atelier in der Bühnenmitte. Brüllend spritzt das Genie Farbe auf eine Leinwand. Cool greift es zur qualmenden Kettensäge, um das Werk durch ein eingeschnittenes Schamdreieck zu vollenden. Gleichzeitig sieht man im linken Bühnenwinkel Schlingensiefs Eltern (Irm Hermann und Joseph Bierbichler) in einer bürgerlichen Wohnstube träge unterm Kruzifix verblöden: "Was schreit er denn so, ist er wieder beim Malen?"

Alsbald zertrümmert das Kunstgenie sein Atelier, der Bühnenvorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine pompöse Drehbühneninstallation (von Mascha Deneke), einen großen Campingplatz mit Buden und Wohnwagen unter Bäumen. Dort entpuppt sich die Kurzfilmgruppe als Fanclub Hermann Nitschs, des österreichischen Begründers eines "Orgien-Mysterien-Theaters". Nach einer Osterprozession wird ein toter Hase ans Kreuz genagelt, und der kahlköpfige Guru Nitsch (Dietrich Kuhlbrodt) besudelt sein Genital mit Obstsaft und Theaterblut. Schockierend oder befreiend wirkt das alles keineswegs. Es ist bloß eine traurige Referenz, die der verspätetete Avantgardist Schlingensief dem Traum von der orgiastischen Aufhebung des Lebens in der Kunst erweist.

Man hat es nicht ganz leicht, den kunsttheoretischen Implikationen des Bühnengeschehens zu folgen, da parallel ein Schwarz-Weiß-Video projiziert wird. Darin sammelt sich eine illustre Schar von Schauspielerstars (wie Hannelore Elsner, Hannelore Hoger, Otto Sander, angeführt von Herbert Fritsch) fröstelnd am nächtlichen Brandenburger Tor zu einer Edelkneipentour durch die neue Berliner Mitte. Das Ambiente und das Staraufgebot stehen in schroffem Kontrast zu den simultanen Campingplatzszenen mit Schlingensiefs amateurhaft agierender Truppe. Dort die Erfolgreichen, hier die Verrückten an der Rändern der Kunst.

Letztlich dreht sich alles um Schlingensiefs eigenes Künstlertum: auf dem Campingplatz dirigiert er Wagner, im Beduinenkostüm ereifert er sich mit einem Freund (Fabian Hinrichs) darüber, dass die saudi-arabischen Terroristen, die das World Trade Center vor laufenden Kameras zum Einsturz brachten, als Aktionskünstler so erfolgreich waren. Dahinter steht die These Bazon Brocks, wonach alle Aktionskünstler so zu leben versuchten, dass sich möglichst viele Menschen erzählend darauf beziehen. Der sichtlich verunsicherte Schlingensief zeigt an diesem Abend die alten Waffen der Avantgarde wie Museumsstücke vor: zerschlitzte Leinwände, Kakophonien, gekreuzigte Hasen, lebende Hühner und eine vom Bühnenhimmel polternde Schweinhälfte. Alles Zitate ohne nennenswerten theatralischen Effekt.

Wenigstens entwickeln die Eltern allmählich Verständis für das Treiben ihres aus der kleinbürgerlichen Art geschlagenen Sprößlings. Papa findet das Aufbegehren der Jugend auf einmal gar nicht mehr so schlecht und schultert das Gewehr. Mama wälzt sich bei einem Happening gar mit dem eigenen Sohn im Schlammbad. Welch ödipaler Triumph! Mit einem Bühnenfeuerwerk beschließt Schlingensief seinen aufwändige Selbstzerfleischungs- und Selbstermutigungsshow. Er hatte sie wohl dringend nötig. Das eher verhalten applaudierende Premierenpublikum scheinbar nicht ganz so sehr.


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