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THEATERKRITIK

Shakespeares Sonette
von Robert Wilson und Rufus Wainwright. Regie: Robert Wilson. Premiere am Berliner Ensemble am 12. April 2009. Mit Inge Keller, Ruth Glöss, Traute Höss, Christina Drechsler, Jürgen Holtz, Georgios Tsivangolu, Georgette Dee u. a.


Traumbilder als Augenöffner
 

von Michael Bienert

„Ich seh viel mehr, mach ich die Augen zu“, beginnt das 43. Sonett von William Shakespeare. Es hat Witz, wenn man das von der Bühne herab gleich am Anfang einer Theatervorstellung gesagt bekommt. Im Tageslicht, fährt der Dichter fort, sei nur das Profane sichtbar, das gar nicht konkurrieren könne mit dem Spiel unter geschlossenen Augenlidern: „Doch wenn ich schlaf, erscheinst im Traum mir du / Traums Dunkelhell erhellt die Dunkelheit.“ 

Gewiss, hier redet ein Verliebter sein abwesendes Liebesobjekt an, dabei kommt es naturgemäß zu Sprach- und Wahrnehmungsstörungen, aber in Robert Wilsons Inszenierung „Shakespeares Sonette“ am Berliner Ensemble ist das nicht der springende Punkt. Sein Shakespeare ist kein verknallter Jungspund, wie der mutmassliche Verfasser der Liebessonette, sondern ein weiser Greis. Für die Verkörperung des Dichters hat Wilson die 85-jährige Inge Keller vom Deutschen Theater noch einmal auf die Bühne geholt. Die gebrechliche Gestalt mit schlohweißem Haar rezitiert hellwach das 43. Sonett, während sie in Zeitlupe auf einem Drehstuhl einmal um die eigene Achse zirkelt. So vorgetragen hört das Liebesgedicht zwar nicht auf, ein Liebesgedicht zu sein, aber in der Vordergrund schiebt sich seine philosophische Dimension. Die Schattenbilder unserer Träume: Sind sie nur leerer Wahn oder möglicherweise lebenswichtiger als vielerlei, was wir bei Tageslicht wahrnehmen?

Der Regisseur Robert Wilson hat sich noch nie für eine Verdopplung der Tageswelt auf der Bühne interessiert. Seine Inszenierungen konfrontieren das Publikum mit einer traumartigen Zwischenwelt, in der die Alltagslogik aufgehoben ist. Gegenstände erwachen zum Leben, während Schauspieler wie mechanische Puppen über die Bühne ruckeln oder wie Stabfiguren als schwarze Schatten vorübergleiten. Zwei Spielerinnen (Traute Hoess, Anna Graenzer) rollen in Zeitlupe zum Gedichtaufsagen auf die Bühne, die eine sitzt auf einem viel zu kleinen, die andere auf einem übergroßen Fahrrad: „Wie soll ich meinen Augen trauen / Wenn selbst die Sonne nur, wenns klar ist, sieht?“ Die beiden Radfahrerinnen steuern kein Ziel an, ihre Aktion genügt sich selbst. Sie dient auch nicht dazu, eine Geschichte auf der Bühne von Anfang bis Ende zu erzählen. In der zweckorientierten Tageswelt dürfen sich so zielloses Agieren nur wenige herausnehmen, etwa Kinder, Künstler oder sogenannte Geisteskranke.

Für das lyrische Subjekt der Sonette ist die unglückliche Liebe die Droge, die ihm ein Zwischenreich jenseits des Alltäglichen aufschließt. Robert Wilson benutzt seinerseits die Sonette als Türöffner in seine surreale Theaterwelt. Die Gedichte sind hier keine Theatertexte, der bebildert, gedeutet, interpretiert werden sollen. Ihre messerscharfen Rezitationen bilden Inseln im Strom der Bilder. Manche Sonette werden auf Deutsch oder Englisch gesungen, was die komplizierten Reime nicht immer durchsichtiger macht. 

Der kanadische Sänger und Komponist Rufus Wainwright hat eine gefällige Bühnenmusik geschrieben, stilistisch wechselnd zwischen Rock und Barock, Jazz und Minimal Music. Ein kleines Orchester unter der Leitung von Hans-Jörn Brandenburg spielt sie live. Musik, Lichtregie und Choreographie sind in der für Wilson typischen Perfektion miteinander synchronisiert. Doch nicht die Uhrwerkpräzision macht diesen Abend außergewöhnlich, sondern viele einzelne Augenblicke, in denen die Schauspieler absolut gelöst wirken. Ein untersetzter Cupido mit Stummelflügelchen, Halbglatze und Schmerbauch (Georgios Tsivangolu) schwingt sich zu eleganten Luftsprüngen auf und verschießt Liebespfeile. Ein rothaariger Hofstaat, angeführt von einer lustigen Bohnenstange mit Pinocchionase (Anke Engelsmann), tänzelt über die Bühne. Königin Elisabeth I. döst im Prunkgewand auf ihrem Thron, auch die derzeit amtierende Queen mit schwarzem Hütchen lässt sich kurz blicken - beide Monarchinnen spielt Jürgen Holtz mit wahrhaft königlicher Souveränität. Dass alle Männer in Frauenkostümen (von Jacques Reynaud) stecken und die Frauen zu jungen Dichtern und Höflingen aufgeputzt sind, verweist in dieser Inszenierung nicht allein auf die Aufführungspraxis zu Shakespeares Zeiten. Die Doppelgeschlechtigkeit der Bühnenwesen reflektiert die erotischen Neigungen, von denen in den Sonetten die Rede ist. Sie richten sich an einen schönen jungen Freund und an eine brünette Dame, denen der Verfasser verfallen ist - eine Konstruktion, die es ihm unmöglich macht, seine Gefühle unter einen Hut zu bringen und die ihn permanent unter poetische Spannung setzt.

Während der Umbauten tritt die Diseuse Georgette Dee als transsexueller Pausenclown vor den Vorhang. Das wuchtige Mannweib extemporiert über Frühlingsgefühle, telefoniert mit dem Intendanten wegen Wilsons Gage und singt einen an ihrem Busen nuckelnden Engel in den Schlaf. Ein weiser Narr mit schwarzer Kappe hat das erste und letzte Wort, gegen Ende sammelt er mit anmutigen Bewegungen die Kleider der Abwesenden (vielleicht der Toten?) ein. Ganz still und fein stellt Ruth Glöss diese zauberhafte Kunstfigur auf die Bühne.

Wer nicht träumt, sagen Schlafforscher, wird wahnsinnig. Man kann Wilsons Traumtheater als eine Versuchsanordnung begreifen, die den Zuschauer in eine fremde Bilderwelt entführt, um ihn hellsichtiger zu machen. Am Ende singen alle Schauspieler das Sonett Nummer 66, eine glasklare Abrechnung mit der Welt diesseits aller Träume: „Ich seh es doch: Verdienst muss betteln gehn / Und reinste Treu am Pranger steht dabei / Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn /.../ Und schlichte Wahrheit nennt man Einfalt glatt / Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt / All dessen müd, möcht ich gestorben sein,/ Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein.“